Oliver Gerlach: Im Labyrinth des Oktōīchos — Das Labyrinth im einstimmigen Gesang (2) Petros Bereketīs' Eirmos kalophōnikon Ἐν βυθῷ — Kalophōnia als Exegeisīs

Die kalophone Gesangskunst als Ausdeutung des Textes

Sowohl die mittelalterliche Fassung wie Bereketīs’ Komposition darüber sind im notierten Ambitus vergleichbar: Nach der Übertragungskonvention der Monumenta-Reihe entwickelt sich die Musik im Ambitus einer None zwischen E mi (βου) und f mi (γα’ δίεζ) zwischen den Devteros-Stufen in drei Tetrachorden. Bereketīs’ Komposition in der Übertragung von Gregorios bewegt sich im Ambitus einer Undezime zwischen A re/mi (Κε) und d sol (πα’), indem der gleiche Rahmen nach oben um zwei Stufen erweitert wird. Durch die tonalen Beziehungen zwischen drei Tetrachorden ist die Stufe des Devteros im mittleren Tetrachord doppeldeutig. Sie kann sowohl Plagios als auch Kyrios und öffnet den Tonraum bald nach unten, bei dem Bild des Versinkens, und bald nach oben, bei der Preisung des „Kyrios“. Dadurch entsteht ein künstlicher Eindruck von der Weite des Tonraums, wie wenn eine Treppe aufwärts oder abwärts gegangen wird, die aber immer zu einem Ort auf gleicher Höhe führt. Der Wiedererkennungseffekt dieses gleichen Ortes ist die übermäßige kleine Terz, deren besondere Intonation über die Ansingformel des ἦχος λέγετος memoriert wird.

Die Idee der Transposition nach oben wird in der Handschrift durch ein ausgedehntes Kratīma weitergeführt, in dem auch die mediale Signatur des ἦχος δεύτερος ἕξω häufig gebraucht wird. In ihm wird die Verbindung zwischen ἦχος λέγετος und dem diatonischen ἦχος δεύτερος weiter ausgebaut. Dieses Kratīma ist als Teretismos in den Eirmos kalophōnikos eingebettet und könnte von Petros Bereketīs selbst sein, um nach Bedarf den Gesang zu verlängern.

Wenn sich daher in den drei Abschnitten des letzten Kolon ενδόξως γαρ δεδόξασται in Bereketīs’ Eirmos kalophōnikos die gleiche Konstruktion einer „scheiternden Kadenz“ wie zu Beginn wiederholt (vergleiche hierzu ενδόξως mit Φαραωνίτιδα), so hat sie im dritten Kolon, nachdem das System hochtransponiert wurde doch eine andere Bedeutung: Die gleiche fallende Bewegung führt aus dem Labyrinth heraus – mit der endgültig schließenden Kadenz im dritten Abschnitt.

Auf der semantischen, eso- und exoterischen Ebene des Textes wäre dies die Landung am Ende der „Himmelsreise“, die vom Himmel aus gesehen dem Herabsteigen „auf den Meeresgrund“ gleicht, das zu Anfang noch der Beginn einer „Höllenreise“ war. Eine musikalische Entsprechung zur theologischen Konzeption der Devekut, die zumindest in der orthopraktischen Freiheit der kalophonen Komposition ihren Ausdruck findet.

Nachdem große poetische Formen wie die Kontakien-Dichtung nicht mehr neu geschaffen wurden, ist an diesem Beispiel aus der späteren Gattung Eirmos kalophōnikos deutlich erkennbar, wie sich die homiletische Schriftausdeutung immer mehr in die musikalische Komposition und ihre modalen Formen verlagert hat. So ist aus der Ebene des μέλος die der ἐξηγήσεις entstanden.