Oliver Gerlach: Im Labyrinth des Oktōīchos - Das Labyrinth im einstimmigen Gesang (4) Das Cherouvikon in der Tradition des Kathedralritus (Asmatikon)

Das Cherouvikon in den italogriechischen Asmatika

In der Medieval and Renaissance Music Conference, die im Sommer 2003 in Jena und Weimar stattfand, sprach mich Michel Huglo auf die frühesten byzantinischen Quellen an, in denen der Cherubimhymnus als Gesang überliefert wird. Meine Recherchen ergaben, daß das Cherouvikon Οἱ τὰ χερουϐὶμ μυστικῶς εἰκονίζοντες als Prozessionsgesang im 6. Jahrhundert zusammen mit architektonischen Neuerungen in den Ritus von Konstantinopel eingeführt wurde, aber es ist durch musikalische Notation als Gesang erst in den Handschriften des 12. und 13. Jahrhunderts überliefert — und zwar in verschiedene Versionen von nur einem Gesang. Das ist erstaunlich, da er fast das ganze Jahr über gesungen werden muß. Daß von ihm nur Fragmente erhalten sind, liegt daran, daß melismatische Gesänge der Göttlichen Liturgie im Kathedralritus der Agia Sophia in zwei Büchern aufgeschrieben wurden: die Teile des Chores im Asmatikon und die solistischen Partien im Psaltikon. Da das Cherouvikon heute nur in den Asmatika erhalten ist, fehlen die solistischen Teile und wir kennen nur die Musik des Chores.

Michel Huglo fragte danach, da er sich über Jahre hinweg mit einem kleinen Repertoire von griechischen Gesängen in lateinischen Handschriften aus dem nördlichen französischsprachigen und Aachener Raum befaßt hatte, das in der Forschung unter dem Namen Missa greca bekannt ist.[54] Mein Befund ergab, daß das Ordinarium der Missa greca, das den Gesang des Cherouvikon als Offertorium [!] in lateinischen Handschriften der Region corbeio-dionysienne aus dem 10. und 11. Jahrhundert überliefert, tatsächlich das älteste erhaltene Korpus ist, obwohl es sich dem Anschein nach um einen „Import“ handelt, der zunächst aus dem Griechischen transkribiert und später ins Lateinische übersetzt wurde. Ich übernehme hier die Bezeichnung „corbeio-dionysienne“ von einem sehr geschätzten Kollegen, Jean-François Goudesenne, der sich in den letzten Jahren um die Erforschung regionaler „melodischer Traditionen“ in Frankreich sehr verdient gemacht hat.[55] Ich räume der Rekonstruktion der Missa greca, insbesondere der lateinischen Quellen des Cherouvikon, ein eigenes Kapitel ein, da sie die Grundlage der praktischen Arbeit mit dem Ensemble Ison war. An dieser Stelle reicht der Hinweis, daß die aktuelle Forschung die Entstehung dieser Messe auf das Wirken von Hilduin als Abt der Kirche St. Denis zurückführt, die nicht weit von der damaligen Stadt Paris lag — in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts nach Karl dem Großen, als sich die Beziehungen zwischen Konstantinopel und Aachen wieder entspannt hatten und die im Karolingerreich verbreitete Haltung einer weniger bilderfeindlichen Haltung gewichen war. Karl der Kahle ließ sieben Sakramentare mit reich verzierten Initialien in St. Amand kopieren und in der Nachfolge dieser vor allem in Belgien und Nordostfrankreich verbreiteten Handschriften stehen auch die neumierten Fassungen der Missa greca im 10. und 11. Jahrhundert mit dem Cherouvikon.[56] Das Cherouvikon wird als solistischer Gesang des Offertorium zu den unveränderlichen Gesängen (ordinarium missae) der römisch-fränkischen Messe gezählt, obwohl diese Gattung in der älteren gallikanischen Liturgie als Sonus Teil des proprium war.

Ein Vergleich mittelalterlicher Gradualia mit den zeitgenössischen Gesängen zu der Göttlichen Liturgie im Kathedralritus von Konstantinopel zeigt, wieviel kleiner und ökonomischer das byzantinische Repertoire war.[57] Diese Ökonomie ging mit einer gestalterischen Freiheit der ausgebildeten Sänger einher, die es möglich machte, gebräuchliche Gesänge wie das Cherouvikon oft — aber doch nicht gleich, sondern abwechslungsreich — zu singen. Jedenfalls sind die frühesten Fassungen in den griechischen Asmatika weitaus melismatischer gestaltet als die Gesänge in den lateinischen Handschriften des 10. und 11. Jahrhunderts. Für die in der Nachfolge von Koukouzelīs gebräuchliche Form des Cherouvikon, den Gesang zyklisch in allen Tonarten und in einem eigenen Melos zu gestalten, bieten die Asmatika mit nur einer Melodie in einer Tonart eine zumindest sehr unerwartete Vorgeschichte.

Sowohl das Doxa, das Gloria der Missa greca, wie das Offertorium «Qui cherubim mystice imitamur» sind Gesänge im Autentus deuterus (E-authentisch). Das entspricht vom Ambitus und der Finalis im Oktōīchos des Agiopolitīs her am ehesten dem ἦχος πλάγιος τοῦ δευτέρου, der ebenfalls eine Oktave über der Finalis mi hat. Genau das ist auch die Tonart der griechischen Quellen des Cherouvikon. Warum gerade diese Tonart bei den Gesängen der Missa greca in den lateinischen Quellen bevorzugt wird, könnte aber auch weniger sachliche Gründe haben. Bereits die detaillierte Beschreibung einer besonderen Art, den Autentus deuterus mit tief intonierter Finalis zu singen, wie sie im zweiten Alia musica Tonar aus dem 11. Jahrhundert nachzulesen ist, könnte auch einige lateinische Kantoren dazu veranlaßt haben, diese Gesänge gerade deshalb in dieser „exotischen“ Tonart zu singen, weil sie dann in ihren Ohren besonders „griechisch“ klangen. Die Verbreitung einer tieferen Terz als „Mittelfingerbund des Zalzal“ ist bereits durch al Farābī und andere arabische Theoretiker des 10. Jahrhunderts als „Orientalismus“ bezeugt. Innerhalb der Liturgie der Abtei St. Denis sind Gesänge wie das Doxa und das Cherouvikon allein schon deswegen etwas besonderes, weil sie und die anderen Gesänge der Missa greca nicht so oft zu hören sind, sondern nur einmal im Jahr zum Patronatsfest, da St. Denis vom Abt Hilduin mit dem Athener Dionysios Areopagita identifiziert wurde.

Da ich nach Verbindungen zwischen byzantinischen und französischen Traditionen suchte, die mit der Achse Aquitanien, Cluny und Paris — und Santiago di Compostela — zusammenhängen, erschien mir die Anfrage von Michel Huglo als eine interessante Herausforderung, die innerhalb meiner Arbeit lag. Ich fuhr in die Bibliothek von Grottaferrata, um die älteste Überlieferung des griechischen Cherouvikon zu studieren, die noch nicht einmal so alt wie die Überlieferung war, deren Ableger sich in den lateinischen Handschriften des 10. und 11. Jahrhunderts erhalten haben. Die älteste italogriechische Fassung eines Cherouvikon und überhaupt eine der ältesten erhaltenen Quellen für ein notiertes Cherouvikon findet sich in einem Asmatikon aus dem 13. Jahrhundert — in einer Handschrift aus Messina, die Oliver Strunk um 1225 datierte: Cod. crypt. graec. 156 (olim Γ.γ. I), fol. 34’-35’.[58]

Diese Handschrift wurde zu einer Zeit in Messina geschrieben, als es den Kathedralritus (ἀκολουθία ᾀσματική) der Agia Sophia von Konstantinopel, an dessen Tradition die Schreiber und Notatores sich orientierten, schon nicht mehr gab. Dafür ist ihre Notation mittelbyzantinisch und ihre Tonneumen können in den korrekten Intervallschritten, die sie bedeuten, übertragen werden. Rubrik und Hauptsignatur und –intonation sind unten auf Folio 34verso angegeben, die Notation folgt auf der nächsten Seite (die Auflösung von Ligaturen ist durch Klammern gekennzeichnet):

Τὸ χ(ε)ρουβικ(ὸν)· ποίημ(α) συμ(εὼν) τοῦ εἱρμολ(ό)γ(ου):
Das Cherouvikon, geschaffen von Symeon dem Eirmologen:

Mit der „Poiīsīs“ von Symeon dem Eirmologen ist wohl nicht so sehr gemeint, daß ein Heiliger Geist ihm den traditionellen Gesang eingegeben hätte, wie wir ihn in vielen Illuminationen als weiße Taube auf der Schulter von Papst Gregor den Großen finden können, sondern daß ein Kantor, geübt in der Dicht- wie in der Gesangskunst, seine „Art“, eine traditionelle Melodie melismatisch zu gestalten, aufgeschrieben hat oder aufschreiben ließ.[59] Das, was im Asmatikon von Messina durch die Notation vermittelt wird, ist daher nicht so sehr die zweite Ebene, die ich „Makrostruktur“ genannt habe, als Überlieferung eines mehr oder weniger fremden Gesanges, was genau der Situation entspricht, im 9. Jahrhundert die Gesänge der Missa greca in einigen lateinischen Regionen einzuführen. In der lateinischen Notation entspricht diese Ebene dem heutigen Umgang mit Notation ein wenig, dagegen bewegt sich die Notation im Asmatikon innerhalb des Überganges von der zweiten zur dritten Ebene als Übergang von der Makro- zur Mikrostruktur, von der Metrophōnia zum Melos (S. 105). Diese Notation zeigt, wie Symeon mit zwei Chören arbeiten würde oder gearbeitet hat, um in Messina den Gesang einer weltlichen Liturgie, nach dem Vorbild des Kathedralritus von Konstantinopel, festlich zu gestalten. Damit möchte ich nicht behaupten, daß alles in den Tonneumen steht, was gesungen wird. Aber die Auflösung der wenigen aphonen oder cheironomischen Zeichen — zumindest wenig im Vergleich mit dem kalophonen Beispiel aus dem Stichīrarion — muß so einfach und formelhaft gewesen sein, daß ein Domestikos, Lampadarios oder Prōtopsaltīs sie durch Handzeichen einem Chor zeigen konnte, ohne ein babylonisches Chaos unter den verschiedenen Sängern ausbrechen zu lassen. Dies muß eine Eigenschaft des asmatischen Melos gewesen sein. Ich halte hierbei weiterhin an der These fest, daß ein Kantor im 12. Jahrhundert noch verstand, auch einen melismatischen Festgesang mit Sängern einzustudieren, ohne sich ihnen gegenüber der Notation bedienen zu wollen oder zu können.

Diese Vermutung zieht notgedrungen weitere Fragen nach sich, die sich darum drehen, ob das Asmatikon von Messina sich um 1225 nur für eine fremde Tradition interessierte, die inzwischen in Konstantinopel verlorengegangen war, oder ob es nicht gerade um ein neues Selbstbewußtsein geht, den eigenen Beitrag zu dieser Tradition gerade dann zu unterstreichen, wo Messina sich als eine der übriggebliebenen Domänen dieser Tradition betrachten konnte. Das wäre ein ähnliches Selbstverständnis, wie es sich später und wohl noch viel stärker während der Palaiologen-Dynastie in den Äußerungen des Metropoliten Symeon aus Thessalonikī regte, der seine Stadtkirche Agia Sophia als einen der letzten Orte rühmte, wo die Kantoren noch den alten Chorritus von Konstantinopel in ungebrochener Tradition pflegten.[60]

Die Biographie von Symeon dem Eirmologen und seine Bedeutung für Messina bedarf noch einer genaueren Erforschung. Ich möchte mich hier darauf beschränken, Symeons Beitrag zur Einrichtung des Cherouvikon für eine Göttliche Liturgie im Rahmen des Chorritus durch einen Vergleich mit einer anderen zeitgenössischen Fassung genauer zu verstehen. Beide Fassungen, die andere stammt aus dem Kloster der Großen Lavra auf dem Berg Athos, finden sich bereits als Beispiele für den asmatischen Melos im ἦχος πλάγιος τοῦ δευτέρου im zweiten Kapitel. Ihre Ähnlichkeit ist so stark, daß niemand bezweifeln würde, daß es hier um das gleiche Cherouvikon geht. Die Unterschiede, besonders in der Gestaltung der Melismen, lassen sich als zwei Realisierungen des Melos verstehen, die auf der Grundlage der gleichen Metrophōnia gefunden werden können. Die Notation vermittelt daher einen Zwischenschritt hin zum Melos und das Notierte scheint weniger geeignet zu sein, als eigener Prototyp den Prototyp einer lateinischen Version des Cherouvikon daraufhin zu bestätigen, ob dies die gleiche Melodie sei oder nicht.

Zunächst zur Tonart: Die der Rubrik auf Folio 34verso folgende Intonationsformel νεἄνε λέγε enthält, wie es für den asmatischen Stil und den Kathedralritus charakteristisch ist, zugleich eine Aufforderung zwischen den beiden Chören und ihren Solisten, durch den Gesang zwischen den himmlischen und irdischen Mächten zu handeln:


238: ἦχος πλάγιος τοῦ δευτέρου (ne-a-ne-le-ge) im Asmatikon

Ob die Tonart wirklich „orientalisch“ als AIANOEANE intoniert wird, wie es in einem Tonar des 9. Jahrhunderts beschrieben wird, geht nicht direkt aus der Notation hervor. Die Intonation ist jedenfalls eindeutig dem Devteros zugeordnet und heißt daher nicht ἅγια νεἄνε. Aber ihre Form entspricht nicht der Standardintonation des ἦχος πλάγιος τοῦ δευτέρου, sondern sucht zunächst die reine Quarte des Tetrachords zwischen D re (πα) und G sol (δι), und findet dann die absteigende Terz zur Finalis E mi (βου), was durchaus eine Methode wäre, um zu einer besonderen Intonation der Stufe E mi (βου) zu gelangen. Der Tetrachord wäre auf eine Art geteilt, die hohe Ansprüche an die Erfahrung der Sänger stellen würde.

Die folgende Notation zeigt durch die in roter Tinte notierte mediale Intonation λέγε die Einsätze der beiden Chöre an. Es ist anzunehmen, daß bereits der Einsatz des ersten Chores auf die Eröffnung seines Vorsängers reagiert, dessen Part in den Psaltika meines Wissens nicht erhalten ist. In beiden Fassungen machen die Chöre zunächst eine Kadenz auf der Stufe des Tetartos G sol (δι), dem Mesos des Devteros. Nach ihr wechselt das Tempo, wie die Angabe ἀργὸν („langsam“) vermuten läßt, die sich von der Notation der üblichen Beschleunigungs- (γοργὸν) bzw. Retardierzeichen (ἀργὸν) abhebt. Obwohl schon der Beginn in beiden Fassungen verschieden ist, scheint er formelhaft zu sein. Denn er entspricht fast einer zweiten Form des Chorevma (χόρευμα) im etwa 50 Jahre späteren Lehrgesang Mega Ison, die über den Worten ἕτερον ὅμοιον notiert ist.[61] Es handelt sich hierbei um ein Zeichen, das woanders xīron klasma (ξηρὸν κλάσμα) genannt wird und für gewöhnlich einen Wechsel in die φθορά νανὰ anzeigt.

Im tonalen Kontext des Lehrgesanges befinden wir uns dagegen im ἦχος πλάγιος τοῦ δευτέρου. Bei dem ersten χόρευμα wird durch eine mediale Signatur die Chromatik der φθορά νενανῶ auf E mi (βου) eingeführt. Die folgende Alternativform des χόρευμα mündet in eine Kadenz auf G sol (δι) und bewirkt über die mediale Signatur des ἦχος δεύτερος μέσος die Auflösung der Chromatik — eine Auflösungsfunktion, die Manouīl Chrysaphīs anhand der „Phthora des Devteros“ beschrieben hat, denn hier wird die Erhöhung von G sol (δι) als Strebeton zu a re (κε) rückgängig gemacht. Auch wenn diese Tendenz zur Chromatik für eine spätere Form der Tonarten des Devteros kennzeichnend wurde, so darf nicht vergessen werden, daß für den Kathedralritus ursprünglich ein eigenes heutigen Forschern unbekanntes System von 16 Tonarten existierte, in dem jede Tonart neben ihrem Plagios auch ihren Mesos und ihre Phthora hatte. Daher ist es gut möglich, daß es aus diesem Tonartensystem heraus schon vor der Einführung des agiopolitanischen Oktōīchos üblich war, in der Teilung der Tetrachorde, z.B. zwischen E mi (βου) und a re (κε) und zwischen b mi (ζω’) und e mi (βου’), die Tongeschlechter zu wechseln. Jedenfalls verstehen wir die Zeichen nicht mehr, die diesen Wechsel vor der Einführung angezeigt haben.

Der Hinweis, daß Symeon die Melodie des Cherouvikon „ausgearbeitet habe“, ist nur von dem Hintergrund eines Gattungsunterschiedes verständlich. Wie bei den Koinōnika wird in der Nachfolge von Oliver Strunk eine Entwicklung angenommen, wie sie sich über Quellenbefunde für einige Troparia wie das Trisagion nachweisen lassen: Ursprünglich wurden einzelne Verse dieses Textes als Refrain zu einer dreiteiligen Antiphon eingeschoben, in der für gewöhnlich Psalmtexte nach den Formeln einer Psalmodie rezitiert wurden. Die melismatische Ausarbeitung verwandelt den Melos eines Troparion in den Melos des Psaltikon und die drei Stichīra der Antiphon in den Melos des Asmatikon. Diese Ausarbeitung meint aber nicht, daß es reicht, das in den Tonneumen Notierte zu singen. Die mit Diplī (διπλῆ) versehenen drei aufeinanderfolgenden Oliga (ὁλίγα) werden wohl kaum als drei langsame aufsteigende Schritte gesungen — es sei denn, die Sänger memorieren das Gerüst über die Metrophōnia, indem sie sich die durchschrittenen Phthongoi über kurze Enīchīmata bewußt machen. Aber der asmatische Melos verlangt, da mehrere Sänger gemeinsam singen müssen, eine einfache und formelhafte Auflösung der cheironomischen Zeichen, die beim rechten Chor der Domestikos und beim linken Chor der Lampadarios durch Handgesten anzeigt. Diese Gesten machen aus den Oliga mit Diplī eine aufsteigende einfache Sequenz und aus dem Apostrophos über Dyo Apostrophoi eine Kadenzformel auf der Stufe des Mesos im Melos des Devteros.

Die Eigenheiten von Symeons Ausarbeitung der Messina-Version gegenüber der Athos-Version sind zunächst die Länge der Melismen. Die melismatische Passage der Athos-Version ist länger — zumindest auf der letzten Silbe des Wortes μυστικῶς. Das ist zunächst die Konvention, auf der letzten Silbe des Wortes ein langes Melisma zu bilden — zumal es in diesem Wort den Akzent hat. Symeon dagegen verkürzt das Schlußmelisma, indem er eine Passage mit der Sequenzierung durch Wiederholung einer am Anfang absteigenden Neumengruppe wiederaufgreift und er verlängert die Melismen auf den anderen Silben. Verkürzung und Wiederholung von Segmenten sind seine gestaltenden Prinzipien, die eine ausgewogenere Gewichtung der einzelnen Wortsilben und regelmäßige Kadenzabschnitte bewirken. So ist z.B. die Kadenz auf der Stufe des Plagios Prōtos auf D re (πα) in der Gestaltung von Symeon viel stärker ausgeprägt als in der Athos-Fassung. Ob hierin Eigenheiten eines Kompositionsstils zu sehen sind, der über eine regionale Schule in Sizilien geschaffen wurde, wage ich nicht zu behaupten. Zumindest erinnert dieser Stil an Kompositionstechniken, wie sie von lateinischen Katoren in der Bearbeitung der melodiae tertiae oder longissimae der Alleluia-Gesänge angewandt wurden — nicht zuletzt, um periodisch geliederte Teile zu erhalten, denen sich bei der Tropierung gleichgebaute Verse einer Sequenz unterlegen lassen. Sie erinnern aber auch an Bearbeitungen der Organa durch Kantoren der Notre-Dame-Schule gegen Ende des 12. Jahrhunderts, die ausgedehnte melismatische Passagen des organum purum durch einen in wiederholten und rhythmischen Perioden gestalteten discantus ersetzten. Wie bereits bei den frühesten Quellen des Cherouvikon deutlich wurde, erlaubt die Quellenlage keine vorschnellen Schlußfolgerungen darüber, wer in dieser Tendenz zur structura, wie Reckow es genannt hätte, wen beeinflußt hat.[62]

Was allerdings beiden Versionen des Cherouvikon gemeinsam ist und ohne Vergleich in den Traditionen der lateinischen Kirchenmusik, ist eine minimalistische und richtungslose Entwicklung der Form bei der Ausarbeitung des Melismas, bei der den Melos, insoweit es sich über mein Verständnis der Notation erschließen läßt, gleichmäßig zwischen allen Tonorten (φθόγγοι) im Quartraum des Melos pendelt — hier ein Versuch, diese Pendelbewegung analytisch übersichtlich darzustellen:

πλβ νεανελεγε (E)

οἱ τὰ χε πλβ (E)
ε— δ (G)
ε— γ (F)
ε—ρου— πλβ (E)
ρου— πλδ (C)
υὶ— γ (F)
ὶμ μυ– πλα (D)
ουιχυ— πλβ (E)
υ— πλα (D)
στικῶ— πλβ (E)
ῶ— γ (F)
ῶ— πλβ (E)
γγῶ. δ (G)
ῶ—ῶ [Sequenzen] . πλα (D)
ῶ— ουῶ. πλβ (E)
ῶ—ῶς [Sequenzen] . πλα (D)

Die einzelnen Stufen werden meist durch das Zeichen Diplī hervorgehoben. Ob diese Reduzierung der melodischen Bewegung mit einer Häufung von Ornamenten verbunden war, erschließt sich angesichts der heutigen Kompetenz im Lesen nicht mehr — nur die Erkenntnis, daß sie gering genug ist, um diese Gesangskunst verstehen zu können und ästhetisch beurteilen zu wollen. Es bleibt der „wiedererfindenden“ Phantasie eines Musikers überlassen, was sie oder er daraus machen will.[63] Jedenfalls kann eine melismatische Musik, die auf diese eigentümliche Art gestaltet ist, als Bearbeitung von allen einfachen Gesängen ausgegeben werden, sofern sie im ἦχος πλάγιος τοῦ δευτέρου komponiert wurden und im Ambitus des Tetrachords zwischen D re (πα) und G sol (δι) beginnen.

Mir geht es hier um die Erkenntnis, wie im Wechselspiel zwischen mündlicher Überlieferung über den Gesang eines Kantors und der schriftlichen überregionalen Kommunikation zwischen den Kantoren — für die meisten damals wohl fast ebenso eine Geheimsprache wie für uns heute — mit der Zeit viele Musikhandschriften unlesbar wurden.

Möglicherweise ging es einem griechischen Kantor als Lektor ähnlich, der als Skriptor und Notator um 1400 einem anderen Asmatikon, ebenfalls um 1225 in Messina entstanden, einen Teil in spätbyzantinischer Notation hinzufügte oder womöglich gar ersetzte.[64] In diesem späteren Teil findet sich ein weiteres Cherouvikon im ἦχος πλάγιος τοῦ δευτέρου, das aber fast alle melismatischen Teile in Symeons Version syllabisch „behandelt“ und den Gesang nur an ganz bestimmten Stellen mit den aktuellen Mitteln der kalophonen Kompositionstechnik zu sehr ausgedehnten Melismen erweitert: Grottaferrata, Biblioteca della Badia greca, Cod. crypt. graec. 62 (olim Γ.γ. VII), fol. 149-150’. Dieser Gesang scheint auf dem ersten Blick so verschieden von der älteren Version, daß ein Vergleich niemanden dazu ermutigen würde, von zwei Ausarbeitungen desselben Cherouvikon zu sprechen wie im Vergleich mit dem Asmatikon Codex Athous Megala Lavra 3, fol. 51’-52’. Eine synoptische Darstellung der beiden italienischen Cherouvika, soweit ihre Teile als Gesang des Chores überliefert sind, soll helfen, diesen oberflächlichen Eindruck auch im Detail zu überprüfen.

Vergleich der Cherouvika in den Asmatika von Messina GR 156 & 62

Anders als in den ausgedehnten Ausarbeitungen des 13. Jahrhunderts verzichtet dieser Kantor bis zum ersten Kolon vor εἰκονίζωντες vollständig auf eine melismatische Behandlung des Textes. Damit entfällt auch die Möglichkeit, innerhalb eines Melisma über χερουυὶμ eine Kadenz zu machen und danach in einem langsameren Tempo fortzufahren. Dennoch tut er alles, was ihm bei seiner schlichten Umsetzung möglich ist, um der überlieferten Struktur zu folgen, indem er bei dem G sol (δι) über χερουυὶμ die diplī (διπλῆ) setzt und den Gesang gleich durch die Hauptsignatur des ἦχος πλάγιος τοῦ δεύτερου διφωνῶν auf diese Stufe beginnen läßt. Was der διπλῆ folgt, ist eine Neumengruppe, die sehr ähnlich ist wie die, die ein Sänger über den kalophonen Lehrgesang Mega Ison einübt. Eine weitere Übereinstimmung ist die Kadenz auf D re (πα) beim ersten Kolon nach μυστικῶς. Die Interpunktion folgt hier nicht der Grammatik des Textes, sondern der wechselchörigen Aufteilung, wie sie aus dem Asmatikon des 13. Jahrhunderts überliefert wird.

Damit sind allerdings auch schon alle wichtigen Gemeinsamkeiten benannt, denn fast jede kompositorische Entscheidung wird in der späteren kalophonen Version anders gefällt. Da, wo Symeon sich um eine symmetrische Ausgewogenheit bemüht, bevorzugt der Komponist um 1400 eine assymmetrische Form. Innerhalb des Chorgesanges hat das erste Kolon des Textes Οἱ τὰ χερουβὶμ μυστικῶς εἰκονίζοντες keine besondere Gewichtung und nur das letzte Wort „abbilden“ wird durch kurze Melismen leicht herausgehoben. Die Behandlung des psaltischen Melos könnte dagegen ganz anders ausgesehen haben, aber das muß Spekulation bleiben, solange dieser Teil verschwunden bleibt.

Auffällig ist allerdings das tiefere Register, das der Komponist im Folgenden wählt. Gegenüber den zyklischen Kompositionen der zeitgenössischen Akolouthiai und der früheren lateinischen Überlieferung, die vom Ambitus her eine exoterische Auffassung in der musikalischen Behandlung des Textes haben, zeichnet sich das Cherouvikon als Gesang eher durch eine esoterische Auffassung aus, die im Gesang das tiefe Register sucht. Dies wird erst zu Beginn des Allīlouïa [!] in Symeons Fassung deutlich, da der Chor zuvor nur das erste Kolon zu singen hat. In der späteren kalophonen Version wird der Gesang bereits bei den Worten „und der lebensspendenden Dreieinigkeit“ in die Tiefe geführt.


239: Ausschnitt aus einem späteren Cherouvikon bei καὶ τῇ ζωοποιῷ Τριάδι im Asmatikon (14. Jh.)

Hierbei sind zwei Formen der Intonation möglich. Die größte tonale Spannung entsteht bei einer Intonation nach dem Rad des Koukouzelīs, die hier über die Farben der Tonarten dargestellt ist. Der unterste Tetrachord liegt zwischen Γ re (Δη) und C sol (νη) und die Kadenz endet im ἦχος βαρύς auf B fa (ζω ὕφεσις) (gelber Rahmen für einen Schluß im Tritos). Die andere Möglichkeit wäre die Organisation des Tonraumes über die Transpositionsoktave (Tropus) des Devteros, die an die lateinische Auffassung erinnert, da der Tonraum um das tonale Zentrum der Finalis E mi (βου) wie im Plagi deuterus organisiert wird: Der Pentachord über den Plagios E mi (βου) findet zum Kyrios b mi (ζω’) und findet von hier aus zur Unteroktave B mi (ζω), wodurch der gelbe Rahmen durch einen weißen ersetzt werden müßte.

Diese Auffassung entspricht der heute üblichen von Chrysanthos und der Neuen Methode, die in der Sequenz über προσάδοντες nicht anders möglich ist, da nach einer Kadenz in den Kyrios des Devteros b mi (ζω’) beim Übergang von d sol (πα’) nach e re (βου’) über einen Septsprung in die tiefere Oktavlage gewechselt wird (Anhang, S. XXIIIff). Das Ison wechselt daher bei der Kadenz über ὕμνον in den Oktavton auf B mi (ζω).

Es ergeben sich daher zwei mögliche Dispositionen der Tonarten:

b mi (ζω’)

νεἄνες

ἦχος δεύτερος

a re (κε)

ανανεἄνες

ἦχος πρῶτος

G sol (δι)

ἅγια / νεἄνες

ἦχος τέταρτος / πλάγιος τοῦ δευτέρου διφωνῶν / δεύτερος μέσος

F fa (γα)

(νεἅγιε) νανὰ

ἦχος τρίτος / πλάγιος τοῦ τετάρτου

E mi (βου)

νεἄνες

ἦχος πλάγιος τοῦ δευτέρου

D re (πα)

ανεἄνες

ἦχος πλάγιος τοῦ πρώτου

C sol (νη)

νεἄγιε

ἦχος πλάγιος τοῦ τετάρτου

B mi (ζω)

νεἄνες

ἦχος βαρύς [modern]

B fa (ζω ὕφεσις)

ἄνες

ἦχος βαρύς [τροχὸς]

Α mi/re (Κε)

νεἄνες / ανεἄνες

ἦχος πλάγιος τοῦ δευτέρου / πρώτου

Aus ihnen ergeben sich wiederum zwei Möglichkeiten, wie im Teretismos, das im Asmatikon steht und daher vom ganzen Chor gesungen wird, durch das Labyrinth gegangen und der ἦχος βαρύς intoniert wird.

Die Frage bei der modernen Auffassung ist aber: Wie soll bei der oktavierten Sequenz weitergesungen werden? Mit F mi (γα δίεζ) über E re (βου)?

Thrasyvoulos Stanitsas würde die Sequenzstelle jedenfalls anders auffassen. Er würde die Finalis des ἦχος πλάγιος τοῦ δευτέρου extrem tief intonieren. Bei der Kadenz über ὕμνον bleibt das Ison im ἦχος τέταρτος, möglicherweise eine Oktave tiefer, und faßt die Kadenz nach b mi (ζω’) als Melos des Tetartos auf, wenn die Sänger in das untere Register springen, singen sie daher F fa (γα) und das Ison wechselt vorübergehend auf den Prōtos D re (πα) und findet dann über den Βαρύς in den ἦχος πλάγιος τοῦ δευτέρου auf A mi (Κε):


240: Ausschnitt aus dem späteren Cherouvikon bei τὸν τρισάγιον ὕμνον προσάδοντες im Asmatikon (14. Jh.)

In den schwarzen Rahmen liegt das Ison auf a re (κε) oder D re (πα), im roten auf Γ sol (Δη), im gelben auf B fa (ζω ὕφεσις), im weißen auf A mi (Κε) oder am Ende auf E mi (βου).

Dieser Abstieg in die übermäßige Oktave von b mi (ζω’) nach B fa (ζω ὕφεσις) ist eine überraschende, aber sehr im Labyrinth des Trochos gedachte Wendung, bei der die Oktave einfach um eine Quinte nach unten versetzt wird, so daß eine Umdeutung der Finalis des Plagios E mi (βου) als Kyrios geschieht. Es ist anzunehmen, daß am Ende des nicht erhaltenen Psaltikon-Teiles bei den Worten δορυφορούμενον τάξεσιν etwas Ähnliches geschieht, denn daran knüpft der tiefe Ambitus zu Beginn des Teretismos an. Seine Analyse in der Übertragung im Anhang folgt der einheitlichen Auffassung eines modernen ἦχος βαρύς auf B mi (ζω), der deshalb auch durch einen weißen Rahmen gekennzeichnet ist. Nach dieser Auffassung habe ich damals einen Pfad durch die Tonarten entworfen, nach dem in der Aufführung ein Teretismos improvisiert werden sollte (Anhang, Abb. 304). Dieser Aufführung liegt die Idee zugrunde, daß viele Formen wie z.B. der Teretismos nicht erst dann existierten, als sie in den Handschriften und zunehmend als Kompositionen in Erscheinung traten. Dies war in dem Moment notwendig geworden, wo der Teretismos vom Chor gesungen werden sollte und nicht mehr zum Part des Solisten gehörte, der als geübter Sänger auch einen Teretismos improvisieren konnte, wenn er kurz vor Schluß seines Gesangs merkte, daß noch einige Minuten überbrückt werden mußten. In diesem Sinne konnte wohl auch ein Prōtopsaltīs spontan entscheiden, ob er einen gut ausgebildeten Chor noch den einstudierten Teretismos singen ließ. In Symeons Fassung singt er dann eine lange Intonation über dem Wort ειπε um von der Haupttonart in die Unterquarte hinabzusteigen und den gleichen Abstieg des Chores im αλληλούϊα vorzubereiten. Der Chor singt bis zum ersten Apoderma bis zur Paenultima D re (πα) unter der Finalis E mi (βου), wo möglicherweise der Prōtopsaltīs vom diesem Gegenklang ausgehend den Übergang zur Finalis vorbereitet hat. Die Häufung des Schlußzeichens Apoderma am Ende eines Gesanges gehört jedenfalls zu einer Schreibkonvention im Asmatikon. Die gleiche Schlußbildung findet sich auch in einem Mittelteil, der sich schwer innerhalb des Verlaufs zuordnen läßt, da er nur Vokale behandelt. Da es hauptsächlich um den Klang des ε geht, wird dieser Einschub vielleicht nach προσαδόντες gesungen — zumal es ebenfalls einen angefügten Teretismos-Schluß nach diesem Wort in der späteren kalophonen Fassung gibt.

Die starke Betonung der Unterquarte B mi (ζω), wie sie von Symeons Fassung vorgegeben zu sein scheint, wäre nicht die einzig mögliche Auffassung vom modalen Ablauf im Teretismos des Asmatikon Cod. 62 (olim Γ.γ. VII). Nach einem Schluß im ἦχος βαρύς auf B fa (ζω ὕφεσις) könnte eine fallende Sequenzierung über den Silben ανανετα-νανετα-νανετα usw. zu einer Kadenz des ἦχος δεύτερος auf A mi (Κε) führen (Abb. 302). In dieser modalen Interpretation, die dem System des Trochos folgt, wären die weißen Rahmen gelb, B fa (ζω ὕφεσις) statt B mi (ζω), und die schwarzen weiß, A mi (Κε) statt Α re (Κε).

In der heutigen Tradition zeichnen sich Teretismata durch einen schnelles Tempo und einen tanzenden Rhythmus aus, dann aber durch langes und ornamentiertes Halten von einzelnen Tönen, wodurch die Zeit eher angehalten wird. Der Teretismos im Cherouvikon wechselt zwischen sequenzierenden Übergängen und längeren sich wiederholenden Tongruppen, die bei bestimmten Tonorten oder Wegweisern länger verharren — ziemlich lange beim ἦχος βαρύς, der dann zum Tetartos auf C sol (νη) pendelt. Von dort gibt es eine unerwartete Wendung in die Phthora NANA (gelber Rahmen), die besonders bei einem tief intonierten E mi (βου) eine starken Kontrast zu der Haupttonart bildet.

Bereits vor Michel Huglo hat Jacques Handschin ausgehend von den lateinischen Quellen des Cherouvikon, besonders in der in Corvey geschriebenen Missa greca in transkribiertem Griechisch (Düsseldorf D 2), ausgerechnet die kalophone Fassung aus dem italienischen Asmatikon zu Gesicht bekommen. Für diesen Vergleich fand er diese Worte:

Dans la messe grecque (la « liturgie ») le Chéroubikon qui atteste la présence des anges, sert de transition à la seconde partie, la messe des fidéles avec la communion. Les versions mélodiques du Chéroubikon sont très répandues dans les manuscrits grecs du bas moyen-âge, mais rares avant l’époque coucouzélienne. Une version relativement ancienne et peu ornée m’a été aimablement communiquée par le P. Bartolomeo di Salvo, d’après le ms. Γγ VII, de Grottaferrata, f. 149 ; mais ce n’est pas la mélodie latine.[65]

Was ist damit gesagt? Hätte ein griechischer Mönche überhaupt etwas am Gesang des lateinischen Cherouvikon wiedererkannt, wenn er ihn Ende des 14. Jahrhunderts zum Patronatsfest in der Abtei St. Denis gehört hätte? Er hätte sicher nicht geahnt, wie eng die gallikanische Tradition mal in ihrer Form der Messe an der Göttlichen Liturgie orientiert war? Aber davon werden auch die „Gallier“ im 14. Jahrhundert nicht mehr viel gewußt haben…

Tatsächlich ist die Version des Cherouvikon in Γ.γ. in mehrerer Hinsicht erstaunlich. Ein genaueres Studium zeigt, daß der Komponist über alle neuen Techniken der über Koukouzelīs personifizierten Gesangskunst Palaiologen-Dynastie verfügte, die bereits anhand der kalophonen Art, aus dem Eirmologion und Stichīrarion zu singen, illustriert wurde. Doch folgte er in seinem schlichten Anfang weder der reich ornamentierten Tradition im Asmatikon von Messina aus dem 13. Jahrhundert noch der aktuellen reich ornamentierten Tradition der Akolouthiai — das neue Buch mit den papadikischen Gesängen, das Koukouzelīs geschaffen haben soll. An seine Tradition wird bis heute angeknüpft, wie ich durch den Zyklus von Bereketīs zeigen konnte, wo der Melos einer jeden Tonart auf der Grundlage eines einzigen Gerüstes entwickelt wird.

Doch kann angesichts des ausgedehnten und durch entfernte Tonarten schweifenden Teretismos auch nicht behauptet werden, daß dieser Gesang ohne reiche Ornamente geblieben wäre. Vielleicht wäre auch Handschins Eindruck ein ganz anderer gewesen, wenn Bartolomeo di Salvo ihm auch die entsprechenden Seiten aus dem Psaltikon hätte übermitteln können.

Was diesen Fund so bemerkenswert macht, ist der gleiche Anachronismus und die Eigenwilligkeit, die aus der gleichen Zeit hervorragt wie jener sonderbare Brief des Metropoliten Symeon aus Thessalonikī, der sich selbst als einziger und unübertroffener Verfechter einer alten Tradition von Konstantinopel betrachtete, die in Konstantinopel schon lange niemand mehr kannte, geschweige denn kennen wollte. Die eigenwilligen kompositorischen Entscheidungen im Cherouvikon aus dem Asmatikon zeugen aber von der gleichen Meisterschaft und gestalterischen Unabhängigkeit, auf die Manouīl Chrysaphis in seiner Darlegung der neuen Gesangskunst noch stolz war, als Konstantinopel Istanbul und die Agia Sophia die Hauptmoschee geworden war.

Zur gleichen Zeit wie Manouīls Traktat, in den 50er Jahren des 15. Jahrhunderts, wurde Athanasios Chalkeopoulos von Rom beauftragt, einige byzantinische Klöster in Kalabrien zu besuchen und zu beschreiben. Seine Tagebuchaufzeichnungen sind noch erhalten und werden unter der Signatur Cod. crypt. lat. 149 in der Bibliothek der Abtei von Grottaferrata aufbewahrt.[66] Dort finden sich auch Listen der Gesangbücher der Klöster, in denen das neue Buch Akolouthiai fast nicht genannt wird, oft dagegen die alten Bücher wie Asmatikon, Psaltikon oder Kontakarion, die zu dieser Zeit wirklich nicht mehr modern waren.

Diese sonderbaren Querverbindungen zwischen alten und neuen Traditionen und insbesondere die kreativen Impulse und die gestalterische Freiheit, die in der Kompositions- und Improvisationskunst des psaltischen, asmatischen und papadikischen Stils zu entdecken sind, können hoffentlich zeigen, wieweit Jacques Handschin sich damals auf ein Glatteis vorgewagt hatte. Aber vielleicht ist das auch eine interessante Erkenntnis, wie schnell sich Traditionen unter unterschiedlichen regionalen Bedingungen und vermittelt oder verfälscht durch Notation verändern – und wiewenig diese Veränderungen bemerkt werden. Allein die Tatsache, daß es vor der Akolouthiai nur eine Melodie des Cherouvikon gegeben hat, die in einer E-Tonart gesungen wurde, ist Grund genug, an der Idee festzuhalten, daß ein byzantinischer Gesang für eine Missa greca herhalten mußte, auch wenn große Philologen keine Gemeinsamkeit mehr feststellen können.[67]

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Anmerkungen

54

M. Huglo: Les chants de la Missa greca de Saint-Denis, in: Jacques Westrup (Hg.): Essays presented to Egon Wellesz, Oxford 1966; S. 74-83.

55

J.-F. Goudesenne: Laon 236, témoin de deux traditions de neumation et d’une double typologie du gradual romano-franc, in: L. Dobszay (Hg.): Cantus Planus 2004, Budapest 2006; S. 523-536.

Goudesenne unterscheidet bei der nachträglichen Notation eines Missale, nicht zu verwechseln mit dem berühmten Graduale 239, zwischen einer westlichen Kantorentradition um Corbie und St. Denis (notation française) und einer östlich-lothringischen zwischen Metz, Verdun und Reims (notation messine).

56

Ch. M. Atkinson: Further Thoughts on the Origin of the «Missa graeca», in: «De musica et cantu» — Helmut Hucke zum 60. Geburtstag, Hildesheim 1993; S. 82f.

57

O. Strunk: The Chants of the Byzantine-Greek Liturgy, in: Essays on Music in the Byzantine World, Toronto 1977; S. 317.

Die vom Bischof Frère übernommene Tabelle ist auch im Artikel Asmatikon / Psaltikon im Glossar dieser Arbeit wiedergegeben.

58

O. Strunk: S. Salvatore di Messina and the Musical Tradition of Magna Graecia, (1953) in: Essays on Music in the Byzantine World, Toronto: Norton 1977; S. 48.

59

Vergleiche hierzu die Abbildungen in Leo Treitlers Aufsatz von 1974, der vor wenigen Jahren in einer überarbeiteten Fassung neu erschien: Homer and Gregory, in: With Voice and Pen, Oxford 2003; S. 131-185, Tafeln VII-X.

60

O. Strunk: The Byzantine Office at Hagia Sophia, (1956) in: Essays on Music in the Byzantine World, Toronto 1977; S. 112-150.

Der Kathedralritus von Konstantinopel ist der liturgische Ausgangspunkt im ersten Kapitel dieser Arbeit gewesen (S. 25ff).

61

Vergl. M. Alexandru: Koukouzeles’ Mega Ison – Ansätze einer kritischen Edition, in: CIMAGL 66 (1996), S. 16 (Nr. 40).

62

Fr. Reckow: Processus und structura, in: Musiktheorie 1 (1985); S. 5-29.

63

Den Begriff Wieder-Erfindung (“re-invention”) übernehme ich von Daniel Leech-Wilkinson. Ich beabsichtige nicht, die Musiker zu demoralisieren, denn schließlich habe ich trotz allem aus diesem Asmatikon dem Auditorium in Italien und Schottland vorgesungen. Sie sollten aber keine Wieder-Erfindung als historisch rekonstruierte Kompetenz ausgeben, wie das so oft geschieht.

64

Die erste Hälfte des Asmatikon Γ.γ. VΙΙ aus dem 13. Jahrhundert geht von Folio 1 bis 71. Angaben nach:

O. Strunk: Salvatore di Messina and the Musical Tradition of Magna Graecia, in: Essays on Music in the Byzantine World, Toronto: 1977; S. 48.

A. Rocchi: Codices cryptenses, Grottaferrata 1883.

65

J. Handschin: Sur quelques tropaires grecs traduits en latin, in: AnnM 2 (1954), S. 46.

66

M. H. Laurent & A. Guillou: Le liber visitationis d’Athanase Chalkéopoulos (1457-1458) – Contribution du monachisme grec en Italie méridoniale, Vatikan 1960.

67

Auf dem Lecture-Recital Contrefacta of Byzantine chant in medieval Western mass liturgies? Greek and Latin Versions of Cheroubicon in Western manuscripts habe ich versucht, auf das Thema Kontrafaktur im Rahmen der Medieval and Renaissance Music Conference in Glasgow (2004) zu reagieren. Bei einem so kreativen Verhältnis zwischen Notation und Aufführung, die auf zwei Ebenen liegen, ist es sehr schwer, das Verständnis von Kontrafaktur an diese spezielle Überlieferungssituation anzupassen, wo es vielleicht gerade darum gehen könnte, die zugrundeliegende, möglicherweise allseits bekannte Melodie verschwinden zu lassen.