Oliver Gerlach: Im Labyrinth des Oktōīchos - Dritte der 3 Stufen der Gesangskunst

Zusammenfassung

Der Titel „Im Labyrinth des Oktōīchos“ bezieht sich auf eine räumliche Umsetzung einer zweidimensionalen handschriftlichen Darstellung, die „das Rad des Koukouzelīs“ (trochos tou Koukouzelī) genannt wird. Sie ist der Schlüssel zu einer musikalischen Gedächtniskunst, die Teil der kalophonen Gesangskunst war, die sich Ende des 13. Jahrhunderts in der Schule von Iōannīs Glykys entwickelt hat. Aus dieser Zeit sind auch arabische Darstellungen der Tonbeziehungen zwischen den Melodiemodellen (naġme) in Form von Rädern und Bäumen erhalten. In seiner Form repräsentiert das Rad ein Tonsystem, in dem jeder Ton das Zentrum jeder Tonart sein kann, ein Netz von Tonbeziehungen, das außerhalb des Vorstellungsvermögens von Musikern liegt, die dafür mit Hilfe des Rades jeden noch so verwickelten Pfad durch das Labyrinth nehmen konnten, ohne die Orientierung zu verlieren. In der bisherigen Forschung galt der Trochos als ein ungelöstes Rätsel. Dieser erste Schritt, es zu lösen, wirft sicher viele Fragen auf, von denen viele erst in der weiteren Forschung beantwortet werden können.

In einer vergleichenden Studie der verschiedenen musikalischen Überlieferungen im 9. bis 12. Jahrhundert wird der karolingische Sonderweg beschrieben, die „Verrückung der Position von Halb- und Ganzton“, d.h. Transpositionen (metavolī kata tonon), zu verbieten, um zu einer eindeutigen modalen Klassifikation zu gelangen. Gegenüber den Rädern in der arabisch-persischen und griechischen Überlieferung, wo die solistischen Formen nicht nur mehrere Tonarten, sondern auch mehrere Transpositionen des gesamten Bezugssystems durchlaufen, bedeutet die lateinische Rezeption eine radikale Vereinfachung der Musiktheorie. Diese Vereinfachung hat zugleich das musikalische Denken bis heute derart geprägt, daß viele Verständnisprobleme gegenüber dem „Rad“ vor dem Hintergrund dieser Prägung verstanden werden müssen, d.h. es gibt bis heute andere traditionelle Prägungen unter Musikern in Spanien und Nordafrika wie im Balkan und im Nahen Osten, die diese Schwierigkeiten nicht kennen, weil sie tiefer in der antiken Musiktheorie und den drei Formen der metavolai – neben Transposition der Wechsel des Tongeschlechts und des Tonsystems – verankert sind.

In der liturgischen Musik der christlichen Traditionen erweist sich die Krise des Eikōnoklasmos als Zäsur in der Überlieferung, deren Reformen sich in Byzanz wie in Rom am Jerusalemer 8 Tonarten System (Oktōīchos) orientierten. Die hier vorliegende Studie vergleicht die lateinische Überlieferung in Aquitanien, die von Gregorianik-Forschern aufgrund ihrer Abweichungen als „unzuverlässige“ Überlieferung eingeschätzt wird, mit der byzantinischen, speziell in Italien und Konstantinopel. Die byzantinische Notation, die Tonschritte und ihre Ornamente bezeichnet, bezieht sich grundsätzlich auf modale Signaturen, mit denen die Haupttonart, aber auch die Tonarten bezeichnet werden, die bestimmte Gesangsgattungen in ihrem Melos durchlaufen. Ihre Überlieferung könnte als „sanft“ charakterisiert werden, da diese Tonschritte nur ein Gerüst der Gesänge wiedergeben, deren Umsetzung (Thesis des Melos) der homogenen Gestaltung entsprechend einer lokalen Tradition und ihrer Schule überlassen bleibt. Die lateinischen Neumen schreiben dagegen den Melos aus, da sie im Zuge der karolingischen Reform ein zehnmal größeres Repertoire an Kantoren des Reiches vermitteln müssen, das aus so vielen regionalen Traditionen zusammengesetzt ist, daß es kaum möglich ist, durch vergleichende Analysen eine einheitliche Gestaltung des Melos zu finden. Diese Gesänge werden zuerst notiert und erst in einem zweiten Schritt modal klassifiziert, durch kurze Anhänge, die Tonare genannt werden, nach den 8 Tonarten (toni) geordnet sind und besonders die Incipits antiphonaler Gesänge hinter der Ansing- und Psalmformel der jeweiligen Tonart wiedergeben.

Gegenüber der Redaktion bei karolingischen Kantoren im 9. Jahrhundert weicht diejenige in den drei theoretischen Tonaren, genannt alia musica, markant ab: Den Namen der Intonationsformeln und den Beschreibungen der mikrotonalen Verschiebungen der Strebetöne ist abzulesen, daß sie von byzantinischen Kantoren übernommen wurden, um besondere Melos-Formen der griechischen īchoi auf bestimmte Gesänge des lateinischen Repertoires anzuwenden. Sie sind daher auch für Musikbyzantinisten von besonderem Interesse, denen keine einzige theoretische Quelle aus dieser Zeit erhalten geblieben ist.

Die Ansingformeln in den lateinischen Tonaren und in den modalen Signaturen der byzantinischen Notation verdienen aber auch deshalb besondere Beachtung, da Sänger aus ihnen in einer gebundenen Form der Improvisation lange Formen entwickeln können (Kapitel 2).

Als Beispiele für solche Formen in der byzantinischen Überlieferung werden die kalophonen Erweiterungen des Stichīrarion und später des Eirmologion betrachtet, neben der Entwicklung des Cherouvikon vom Chorbuch des alten Kathedralritus (13. Jahrhundert) bishin zu der Gestaltung in allen 8 īchoi in den Zyklen der heutigen Gesangbücher. Hierbei muß wie in der Archäologie von der heute lebendigen Tradition, dokumentiert durch eigene und bereits dokumentierte Feldforschungen, bishin zu den früheren Traditionen durch Freilegen der einzelnen Überlieferungsschichten vorgearbeitet werden. Wegen der „sanften“ Überlieferung der älteren Handschriften haben selbst traditionelle Sänger heute nur sehr wage Vorstellungen von den historischen Formen des Melos und von den verschiedenen Methoden der Thesis, die auf diese Überlieferung anzuwenden sind (Kapitel 3).

Da die lateinischen Neumen im Vergleich hierzu den Melos ausschreiben, entwickeln sie ihre langen Formen als Überformung eines bestehenden Melos wie in der zweistimmigen Form des Haltetonorganum. Hierbei konzentriert sich die Arbeit auf die ars organi, wie sie im Vatikanischen Organumtraktat als Improvisationskunst überliefert wird und nicht so sehr auf die schriftlichen Redaktionen dieser Kunst in den späten Handschriften von Leonins Magnus liber organi, die heute noch erhalten sind (Kapitel 4).

Die Arbeit wird durch die Beschreibung eigener Experimente im Feld der Aufführungspraxis ergänzt (Kapitel 6), die sich mit dem schwierigen Material der Missa greca auseinandersetzen (Kapitel 5). Abgerundet wird die Studie durch eine Einbeziehung der Liturgie als Teil einer musikalischen Gedächtniskunst (Kapitel 1) und durch einen Ausblick, der auch auf das eingeht, was im Bereich der systematischen Musikwissenschaft auf dem Feld des modalen Musizierens noch zu leisten ist (Kapitel 7).

Da die Arbeit gängige Vorstellungen von Musiktheorie und Geschichtsbilder des Faches Musikwissenschaft infragestellt und Grenzziehungen untergräbt, die unter dem Schlagwort „abendländische Musikgeschichte“ bis heute postuliert werden, was sich bis in die Gestaltung des Studienganges und des Grundstudiums als „Bachelor-Modul“ auswirkt, erwartet der Autor, daß ihre Lektüre durch Fachkollegen produktive Diskussionen auslösen wird. Diese Diskussionen wurden durch eine Überschau der Überlieferung, wie sie seit einigen Jahren bei der Interpretation der Quellen heftig debattiert wird, in der Einleitung vorbereitet.