Zur Methode des 3-Stufen-Modells und zur Gliederung der Arbeit

Diese Gleichzeitigkeit von Komposition und Improvisation und die Gleichzeitigkeit von einer Schriftlichkeit, mit der eine schriftlose Gesangskunst dokumentiert wird, gegenüber einer Schriftlichkeit, die Teil einer Kompositionstechnik ist, berührt bis heute ungelöste Streitfragen, die ich durch das hier vorgestellte 3‑Stufen‑Modell überschauen möchte – angewandt auf die Ausbildung der Sänger mit der Unterscheidung zwischen der formelhaften Grundlage musikalischer Kommunikation (Stufe 1), der Überlieferung und ihre Materialität durch die Form einer Notenschrift (Stufe 2) und schließlich die Kommunikation als solche im rituellen Kontext einer Liturgie (Stufe 3).

Kapitel 1 über die Gedächtniskunst

Als einzige der drei europäischen monotheistischen Religionen ließ sich der christliche Ritus in seinen regionalen liturgischen Ausprägungen als Staatsreligion auf eine äußerliche Repräsentation der Himmelsreise im Kirchenraum ein, deren Aufstieg von der Westfront „hinauf“ in den östlichen Chorraum führte.[41] Hierdurch bestand zwar die Gefahr der Gottesanhaftung (hebr. devekut), wie sie in der mystischen Kontemplation in jüdischen und islamischen Traditionen gefürchtet wird, nicht mehr, als politisches Problem bleibt aber die religiöse Überhöhung politischer Macht zurück, die dieser Kultur einen eigentümlichen Hang zur Selbstzerstörung oder zur Zerstörung anderer verleiht, wie es alleine die Geschichte des Bilderstreits (Eikōnoklasmos) zeigt.[42] Die Fähigkeit der Kantoren und Psaltes, eine Tradition mit sich im Kopf herumzutragen, ist angesichts solcher politischen Umwälzungen überlebenswichtig. Selbst wenn eine Überlieferung durch Handschriften nicht faßbar ist, beruhen viele Hypothesen der Byzantinisten auf der Annahme, daß die musikalische Tradition nicht auf sie angewiesen war, d.h., daß im Zweifelsfall sogar die Orthopraxis das Fundament der Orthodoxie sein konnte.

Es ist daher nicht verwunderlich, wenn einige zentrale Fragestellungen dieser Arbeit mit der Erforschung der spätmittelaterlichen Gedächtniskunst verbunden sind. Sie gehörte zum Handwerk eines Musikers und die Beschäftigung mit ihr führt zu einem tieferen Verständnis einer Überlieferung, in der Musik, Liturgie und spirituelle Kontemplation lediglich Facetten sind, die von der Perspektive der Forschung abhängen, die sich mit dieser Überlieferung befaßt. Dementsprechend beschäftigt sich das erste Kapitel, während es in meiner Magisterarbeit über Organum noch um Improvisation und Komposition ging, mit der mittelalterlichen Gedächtniskunst, und dementsprechend liegen die Beobachtungen der Arbeit mit dem Ensemble (Kapitel 6) zum Teil außerhalb üblicher Fokussierungen des Faches Musikwissenschaft, soweit sie grundsätzlich von den rituellen Rahmenbedingungen eines Konzertes ausgehen – und zwar so, daß in der musikalischen Kommunikation deren Einhaltung stillschweigend vorausgesetzt wird.[43]

Diese normative Ausrichtung wird mit einer besonderen Qualität der dokumentierten Improvisation konfrontiert, die darin besteht, daß die kommunikativen Rahmenbedingungen selbst zum Experimentierfeld der Improvisation werden. Es ist daher kaum verwunderlich, wenn bestimmte Analysemethoden ihren Gegenstand knapp verfehlen. Gegenüber diesem Dilemma, Kommunikation in einer systematischen Annäherung nicht mit der geforderten Offenheit beschreiben zu können, liefert die scholastische Philosophie insofern eine Alternative, als daß sie jede ars über die Aristotelische Kategorie contingentia versteht. Die Offenheit der Kontingenz ist gewissermaßen „göttlich“, da sie von der gleichen Möglichkeit von Sein wie von Nicht-Sein ausgeht, d.h. alles, was sich auf der Grundlage des Seienden im Nachhinein als System beschreiben läßt, wird von dem Moment aus verstanden, in dem sich die Macht oder Potentialität des Seienden gegenüber der des Nicht-Seienden behauptet – und genau das könnte systematisches Denken auch sein, wenn es sich mit seinem kategorischen Weg über die Gegenwart des Seienden hinausdenkt. Dies war zumindest der Anspruch, den Scholastiker an eine ars stellten – und er wurde auch von Dozenten der Pariser Notre Dame Schule gestellt, die die neue Gesangskunst des 12. und 13. Jahrhunderts auch als ars organi oder ars cantus mensurabilis behandelten, als eine neue praktische Ausprägung der mathematischen ars musica.[44]

Diese scholastische Herangehensweise erklärt den produktiven Unfall, der mit dem Scheitern der praktischen Arbeit, wie sie im sechsten Kapitel beschrieben wird, verbunden ist. Aber dahinter stand nicht nur philosophische Lust am Verstehen, sondern auch eine Konfrontation mit eigenen ganz persönlichen Labyrinthen, deren Erfahrung in eine schriftlose Überlieferung über die mittelalterliche Gedächtniskunst eingebettet war. In dieser Weise bilden das erste und das sechste Kapitel eine Klammer.

Entgegen einiger Kritik halte ich es daher für gerechtfertigt, mich ausführlich auf orthopraktische Formen der Gedächtniskunst einzulassen. Hierzu gehört eine sufische Konzeption von Musikhören (samā‘), die direkt mit spiritueller Kontemplation verbunden ist, und vom Arabisten Amnon Shiloah gewählt wird, um das Verhältnis zwischen Musik, Poesie und Gedächtnis bei einem Dichtersänger zu beleuchten. Dieser mystischen Konzeption entspricht die Rolle des Hohenliedes von Salomo (canticum canticorum) in der jüdischen Mystik, in den Traditionen der Merkābā , Kabbalā oder des Chasidismus, und es wird in dem Motiv der „Brautkammer“ auch von lateinischen Kirchenvätern aufgegriffen. Sie alle durchwandeln in ihrer Kontemplation, in der sie die Vereinigung mit dem göttlichen Geliebten suchen, ein Labyrinth als imaginäre Gedächtnislandschaft.

Kapitel 2 über das Labyrinth und seine Tonarten

Die Gestalt des Labyrinths, die zum Memorieren des Tonsystems, seinen Transpositionsmöglichkeiten und zum Finden der Tonarten genutzt wurde, erläutere ich im zweiten Kapitel anhand einer handschriftlichen Darstellung eines Rades, auf deren Grundlage ich eine räumliche Architektur entwerfen ließ. Obwohl diese Abbildung erst aus der Renaissance handschriftlich überliefert ist, wird es einer legendären Kantorengestalt zugeschrieben, die im Zentrum eines christlich-orthodoxen Geschichtsbildes steht: Iōannīs Koukouzelīs, der um die Wende zum 14. Jahrhundert in Konstantinopel gewirkt hat. Quellen zur arabischen Musik überliefern ähnliche Darstellungen der Tonarten bereits aus dem 13. Jahrhundert. Sowohl für persische und arabische Kunstmusik wie für byzantinische Kirchenmusik, deren Zentren im frühen Mittelalter vor allem in Syrien waren, kannten eine musikalische Praxis, die die Transpositionslehre (metavolī) der antiken Musiktheorie ganz selbstverständlich umsetzte. Das Rad des Koukouzelīs sollte daher nicht als erstes Zeugnis für diese praktische Umsetzung mißverstanden werden, sondern es funktioniert als Veräußerlichung einer Gedächtnislandschaft, die als Medium des Gedächtnisses dem Gedächtnis bei einem Gang durch das Labyrinth hilft – so sehr, daß es im Unterschied zu früher nicht nur möglich ist, Transpositionen (metavolai) so zu komponieren, daß ein Gesang durch alle 8 Tonarten wandern kann, sondern sogar nach der Labyrinthregel zu improvisieren (z.B. in Form eines Teretismos oder einer Iubilatio), nach der bekanntlich ein Herumirrender wieder zum Ausgangspunkt der Haupttonart, angezeigt durch eine „Hauptsignatur“ (modale Signatur), zurückfinden muß. In diesem Sinne dient die räumliche Anschaulichkeit des Labyrinths nicht nur dazu, das Wesen der Gedächtniskunst und einer komplexen musikalischen Überlieferung zu zeigen, die ohne Notation auskommt, sondern sie bildet überhaupt den Einstieg in das Wesen der orientalischen Musik und seiner großen Formen der Improvisation, indem wir die gewaltige Vereinfachung, aber auch die kulturelle Leistung erkennen, die das Denken westlicher Musiker in der Nachfolge der karolingischen Theoretiker bis heute bestimmt.

Der zweite Teil des zweiten Kapitels, der nach den Tonarten gegliedert ist und in gewisser Weise die Form lateinischer Tonare aufgreift, vergleicht das Tonartenverständnis der griechischen und der lateinischen Theoretiker und greift zuweilen Gesänge auf, die zwischen beiden Traditionen stehen oder sie sogar verbinden. Dieser Teil kann auch von Musikern als Handbuch für die erste Stufe benutzt werden, um charakteristische Melodiebildungen zu lernen und anzuwenden – oder einfach nur, um zu lernen, wie diese charakteristischen Wendungen durch Analyse der Gesänge gefunden werden können. Hier werden auch die Ansingformeln wiederholt, mit denen durch das Labyrinth gegangen wird, und ihre praktische Funktion erläutert, die sie unter den Sängern haben.

Außerdem werden im Tonar des zweiten Kapitels einige Passagen aus aquitanischen Tonaren zitiert, die Aufschluß über den Gebrauch von Mikrotönen geben. Diese neue Wahrnehmung der Traktate ist für die heutige Forschung bedeutsam: Bisher ist ihre Bedeutung in der Erforschung der lateinischen Traditionen noch zuwenig erkannt worden, weil viele bei der Erforschung dieser Feinheiten derzeit noch zu sehr auf das Boethianische Diagramm fixiert sind, das lateinische Theoretiker des 11. Jahrhunderts gerne herangezogen haben.[45] In der Musikbyzantinistik sind diese lateinischen Quellen noch zuwenig beachtet worden, obwohl sie als frühere Quellen auch den Oktōīchos der griechischen Sänger rezipieren und damit auch zu einem tieferen Verständnis des mittelalterlichen byzantinischen Oktōīchos beitragen können.

Kapitel 3 über das einstimmige Labyrinth im byzantinischen Gesang

In diesem Sinne bildet das zweite Kapitel das Fundament des dritten und des vierten Kapitels: Während es dort um den Zusammenhang zwischen erster und zweiter Stufe ging, nämlich den Zusammenhang zwischen den Gattungen der Gesänge und ihren tonartenspezifischen Formeln, geht es im dritten und vierten Kapitel vor allem um den Übergang von der zweiten zur dritten Stufe. von der traditionellen Überlieferung der Gesänge bis zu ihrer musikalischen Gestaltung als Labyrinth in der Aufführung.

Während ich mich im vierten Kapitel über mehrstimmige Formen hauptsächlich auf die Form Organum einlasse, die einem Philologen als historisch eingrenzbar erscheint, erschließt sich das einstimmige Labyrinth über die bestehende griechisch-orthodoxe Tradition in umgekehrter Chronologie: von der Gegenwart in die Vergangenheit und von der teilnehmenden Feldforschung mit traditionellen Sängern bis zur Musik, wie sie in mittelalterlichen Handschriften notiert wurde.

Von den vier ausgesuchten Beispielen werden drei in Handschriften aus dem 19. und 18. Jahrhundert, in zwei Fällen vor und nach der Einführung der modernen und vereinfachten Neumennotation von Chrysanthos, überliefert. Ausgangspunkt dieser Erforschung älterer byzantinischer Notationsformen ist die lebendige Praxis, wie sie bis heute durch Psaltes im Balkan gepflegt und überliefert wird. Eine punktuelle Beschäftigung mit einer historisch abgrenzbaren Periode ist hier nicht mehr möglich, sofern ihre bedeutende Erfahrung genutzt werden soll. Das Kapitel läßt sich daher auf das Unterfangen ein, sich stichprobenartig in die Vergangenheit vorzuarbeiten.

Die Gattung der Gesänge, die in ihrem Verlauf den Melos mehrerer Tonarten (īchoi) durchwandern, wird heute papadikisch genannt. Zu dieser Gattung gehört auch der Cherubimymnos (Cherouvikon), dessen Text fast das ganze Jahr über in der Messe (Göttliche Liturgie) gesungen wird. Entsprechend der Tonart der Woche kann dieser Gesang in allen 8 Tonarten gesungen, d.h. der papadikische Melos beginnt und endet in der jeweiligen Haupttonart. Diese Praxis läßt sich bis in das 17. Jahrhundert zurückverfolgen, als der Komponist und Prōtopsaltīs Petros Bereketīs in der Notation ein Gerüst fixierte, das auf alle 8 Tonarten anwendbar sei – und das im 19. Jahrhundert der Übung halber von Chourmouzios in die moderne Neumennotation in alle Tonarten transkribiert wurde. Heute werden vor allem die Transkriptionen der Ausarbeitungen späterer Komponisten bevorzugt, die die Wechsel in den Melos anderer Tonarten weiter ausgearbeitet haben und hierdurch abwechslungsreichere Gesänge geschaffen haben.

Petros Bereketīs war vor allem für seine kalophonen Bearbeitungen einer Gesangsgattung berühmt geworden, die bis dahin nicht labyrinthisch, sondern als mustergültige Ausprägung eines einer einzigen Tonart verpflichteten Melos galt, deren Modelle älter waren als die darüber gedichteten Hymnen im komplexen Versmaß einer Ode: die Gesänge des Eirmologion. Ein Vergleich mit dem Modell im mittelalterlichen Eirmologion zeigt, wie Petros Bereketīs dieses Modell kompositorisch ausgearbeitet und mit improvisierten Formen, z.B. einem angehängten Teretismos versehen hat, der nur in spätbyzantinischen Handschriften überliefert wird. In meiner Analyse zeige ich, inwiefern die musikalische Ausarbeitung auch ein poetischer Umgang mit dem Text ist, was mit dem in dieser Zeit bevorzugten Wort Exīgīseis auch gerne ausgedrückt wird. Diese Ausarbeitungen des Eirmologion kalophōnikon wurden noch im 19. Jahrhundert transkribiert, wenngleich in den heutigen Druckausgaben der Teretismos fehlt. Demgegenüber zeigen aber Handschriften des Eirmologion kalophōnikon, die im frühen 19. Jahrhundert die ältere Notation transkribieren, die Konvention, die 8 Bücher des Eirmologion, geordnet nach den Tonarten, mit Anhängen zu versehen, in denen verschiedene Teretismoi einer Tonart gesammelt waren.

Die Gesänge des Stichīrarion kalophōnikon wurden dagegen weitgehend nicht von den „drei großen Lehrern“ veröffentlicht, obwohl der wichtigste Name der byzantinischen Musikgeschichte mit dieser Gattung verbunden ist: Iōannīs Koukouzelīs. Sie wurden offenbar im 19. Jahrhundert als zu lang empfunden und daher kommt es, daß viele der ausgedehnten Gesänge aus der legendären Zeit der Palaiologen-Dynastie, von der Rückkehr aus dem Exil in Nikaia im 13. Jahrhundert bis zur Eroberung von Konstantinopel, heute eher von Spezialisten in Konzerten als in den Gottesdiensten gesungen werden. Das Stichīrarion kalophōnikon, dessen Tradition nach der Reform von 1814 offiziell nicht fortgesetzt wurde, setzt daher ein tieferes Verständnis der Musik der Palaiologen-Dynastie voraus, in der der Begriff Kalophōnia eine neue konkrete Bedeutung in der Gesangskunst bekam. Durch die kalophone Gesangskunst entstanden neue Bücher, in der herausragende Psaltes ihre Auffassung notierten, wie der Melos eines traditionellen Gesanges kalophon auszuführen sei. Neuere Forschungen unterscheiden seitdem mehrere Perioden, in denen der Melos in der Notation zunehmend ausgeschrieben wurde. Bereits 1458, wenige Jahre nach dem Fall von Konstantinopel, schrieb Manouīl Chrysaphīs, einer der großen Maistores von Konstantinopel, über die Schwierigkeit zeitgenössischer Sänger, den Melos zu verstehen und zahlreiche Methoden, nach denen je nach Gattung, Gesangsart und Komponist der Melos gebildet wird. Um einen Einblick in die Gesangskunst zu geben, und sich in diese Zeit vorzuarbeiten, analysiere ich ein Stichīron kalophōnikon von Iōannīs Koukouzelīs in der alten Notation, aber in der analytischen Schreibweise des 18. Jahrhunderts, mit dem Gerüst, wie es in den alten Stichīraria notiert wird.

Im Unterschied zu der papadikischen Tradition der Cherouvikon-Zyklen wird das Cherouvikon im alten Kathedralritus (akolouthia asmatikī) der Agia Sophia, wie er bis zum Exil von Nikaia 1204 bestand, nur in einigen Quellen in Italien und vom Berg Athos in einer einzigen Tonart überliefert, da dieser Ritus außerhalb von Konstantinopel noch bis ins 15. Jahrhundert fortgeführt wurde. Das Labyrinthische in den notierten Versionen dieses frühen Gesanges läßt sich vor allem in der Komposition eines Teretismos fassen, wie sie in einer späteren Fassung aus einem italienischen Chorbuch (Asmatikon) überliefert wird, wo zeitgenössische kalophone Satztechniken in einer eigenwilligen Weise aufgegriffen werden, die sich deutlich vom neuen Kompositionsstil in Konstantinopel abhebt.

Kapitel 4 über das mehrstimmige Labyrinth in der französischen ars organi

In der Beschreibung, was dieses Kapitel gegenüber dem aktuellen Forschungsstand leistet, möchte ich betonen, daß die Qualität dieses Beitrags nicht so sehr auf meine Verdienste als auf Versäumnisse der jüngeren Forschung zum Thema Organum zurückzuführen ist. Zu diesen Versäumnissen gehören vor allem die Einbeziehung neuer historischer Forschungen zum Thema „Cluniazenser Klosterverband“, um das „Zentrum“ einer alten Aquitaniendebatte beim Namen zu nennen, und in der musikalischen Analyse das Festhalten an einer ästhetischen Perspektive des 19. Jahrhunderts, die auch bestimmte Kunstgriffe der Pariser ars organi weiterhin nur defizitär beschreiben kann.[46]

Das, was mit Schlagworten wie „Kunstwerk“ und „Revolution“ beschworen wird, ist eine gewisse Fixierung von Philologen auf das Medium Schrift, denn von der „Revolution“ wird nichts weiter erwartet, als daß sie in „das abendländische Komponieren“ münde. Das Wunschdenken dieses Geschichtsbildes ist, daß „abendländisches Komponieren“ in Gestalt eines genialen Komponisten vom Himmel fällt, zu dessen Gunsten kompositorische Entwicklungen vor ihm ausgeblendet werden müssen. Aber „Revolutionen“ sind stets mehr oder weniger gewaltsame Umwälzungen, deren Gewaltsamkeit immer mit der politischen Geschichte verbunden ist. Sie führen meist zu Zusammenstößen zwischen verschiedenen Kulturen und erst später können Begegnungen im kulturellen Bereich, besonders unter Musikern, eine große Bereicherung sein. In diesem Sinne spricht nichts dagegen, abendländisches Komponieren indirekt auf blutige Umwälzungen in der Geschichte zurückzuführen, wie die zahlreichen Kriege des Karolingerreiches, die Kreuzzüge oder die Eroberung von Konstantinopel. Die heutige Schwierigkeit westlich geprägter Musiker, eine komplexe Form von Einstimmigkeit zu verstehen, die nicht weniger abendländisch war, nur weil es sie auch bis heute in Afrika und Asien gibt, ist mit dieser Geschichte verbunden. Möglicherweise beruht die Sonderentwicklung zur Mehrstimmigkeit, anhand der für gewöhnlich „abendländisches Komponieren“ ausgemacht wird, auf der radikalen Vereinfachung der Einstimmigkeit durch karolingische Theoretiker.

Als ich 2003 an die Basler Musikakademie eingeladen wurde, wo es immerhin Spezialisten für Vokalmusik des Mittelalters und für Ensembleimprovisation gibt, habe ich versucht, den Widerspruch zwischen Anforderungen der Gedächtniskunst und der heutigen Gepflogenheit, aus Faksimiles zu musizieren, in Bezug auf die ars organi anzusprechen. Viele waren natürlich stolz auf ihre Fertigkeit, historische Notenformen lesen zu können, und nur wenige dachten darüber nach, daß ein Sänger, der in der Organumkunst erfahren war, auch stolz darauf sein könnte, niemals ein- und dasselbe Organum über denselben Cantus zu bilden. Für einen byzantinischen Sänger, offenbar kein Musterbeispiel für „abendländisches Komponieren“, wäre das zumindest ein sehr naheliegender Gedanke gewesen. Um das Thema etwas unterhaltsamer zu gestalten, griff ich eine Selbstkarikatur Nikolai Gogol’s auf, in der er sich von seiner eigenen Figur, dem Erfinder der Großvatergeschichten Foma Grigor’evič, als „Moskoviter“ beschimpfen läßt, um den Widerspruch zu reflektieren, daß er eine mündliche Tradition in ihrer Lebendigkeit schriftlich eingefangen hatte.[47] Diese Idee habe ich auch im vierten Kapitel dieser Arbeit aufgegriffen.

Neben der Möglichkeit, drei oder vier Stimmen über die Satztechnik discantus zu koordinieren, beweist schon das späte Datum der Handschrift, die den Vatikanischen Organumtraktat überliefert, daß die ars organi auch nach Pérotin und seiner „Revolution“ eine gebräuchliche Aufführungsform blieb, deren discantus-Passagen, die bei langen Melismen im Cantus gefragt waren, nicht unbedingt modalrhythmische Notation voraussetzen, um einem rhythmischen Schema zu folgen.

Das kompositorische Denken des discantus, insbesondere Verfahren der Permutation, finden sich bereits in einstimmigen Kompositionen der Sequenz-Sammlungen. Andersherum sprechen die ausgedehnten Anhänge mit den clausula-Sammlungen dafür, daß Sänger bis ins späte 13. Jahrhundert versuchten, die organa dupla in einer abwechslungsreichen Form aufzuführen, die offenbar zur ars organi dazugehörte, die Léonin so meisterhaft beherrscht haben soll.

Um Mißverständnisse zu vermeiden, möchte ich hier nochmals betonen, daß es in diesem Kapitel nicht so sehr um den Pariser Magnus liber organi, Pérotin oder Léonin geht. Vielmehr geht es um eine musikalische Form, die aufgrund der Ausdehnung der Töne des Cantus entsteht, und so etwas wie ein musikalisches Labyrinth entstehen läßt. Deren Kunstgriffe erschließen sich eher über eine modale Analyse und im aufführungspraktischen Bereich über die Berücksichtigung mikrotonaler Verschiebungen, die beide im zweiten Kapitel anhand von aquitanischen Tonaren erarbeitet wurden. Es spricht einiges dafür, daß bei den mehrstimmigen Experimenten, wie sie im 12. Jahrhundert von aquitanischen Kantoren unternommen wurden, terminologische Anleihen bei einer griechischen Solmisationstechnik gemacht wurden, bei der die Orte für die Töne durch den Begriff voces (φθόγγοι) bezeichnet werden. Dennoch werden die Orte nicht mit den Ansingformeln, sondern in herkömmlicher Weise mit den Guidonischen Silben memoriert.[48]

Die formalen Probleme, die es hier zu bewältigen gibt, können über suggestive Architektur-Metaphern allein nicht verstanden werden. Die Idee, die zweistimmige Form des Organum als eine verkappte Form der Einstimmigkeit zu betrachten, ist zwar in der Forschung nicht neu, doch hat bisher niemand die Überformung des im Cantus eingefrorenen Melos durch einen weiteren Melos in der Stimme des Organum analysiert.[49] Was die Pariser ars organi gegenüber Aquitanien Neues bringt, ist die systematische Anwendung der bereits voll entwickelten Technik des Haltetonorganum, in Abgrenzung zum verkürzenden discantus auch organum purum oder organum per se genannt, auf komplexere und längere Formen des Cantus, die größere Probleme stellen als die bescheidenen und kurzen Neukompositionen der Benedicamus domino-Melodien. Im Vergleich zu den Organa aquitanischer Provenienz im Codex calixtinus, die die einstimmigen Gesänge der Jakobs-Messe cum organo aussetzen, lassen sich die Beispiele des Vatikanischen Organumtraktats auf weitaus größere Ausdehnungen ein, die nur in wenigen Beispielen des Magnus liber ohne verkürzende Bearbeitung erhalten sind.

Für den Übergang zur Pariser ars organi ist daher der Vatikanische Organumtraktat wichtiger – durch seinen dritten Teil mit zwei Responsorien aus dem Nachtgottesdienst und einem Alleluia-Vers aus der Messe, weil er noch nicht die Mittel der Bearbeitung und Verkürzung kennt, die die heute erhaltenen Fassungen des Magnus liber auszeichnen. Gerade aber die verkürzten Beispiele des Magnus liber standen bisher gewohnheitsmäßig im Zentrum musikwissenschaftlicher Analysen. Hier werden bereits ansatzweise durch schriftliche Komposition zwei Ebenen verbunden, die bei einer Improvisation durch die Arbeitsteilung zwischen organum und cantus aufgeteilt werden. Um diese Bedeutung der Notation zu verstehen, gehört aber die praktische Erfahrung, was alles in der Improvisation möglich ist und was ohne Notation vorbereitet werden kann.

Um die musikalischen Entscheidungen eines Organumsängers, wie sie im Vatikanischen Organumtraktat vorgeführt werden, genauer zu illustrieren, analysiere ich zwei Organa aus dem dritten Teil anhand ausgewählter Klangschrittbeispiele aus dem zweiten Teil. Das, was in sprachlich formulierten Regeln nicht gefaßt wird, läßt sich im Kontext eines gegebenen Cantus verstehen, sofern der Leser praktische Erfahrung darin hat, ein Organum über einen Cantus zu improvisieren. Ein solche Analyse des Traktates macht es möglich, diese Erfahrungen auch im Rahmen dieser Arbeit zu übermitteln, und sie mit den Organa im sechsten Kapitel zu vergleichen, wie sie von Sängern des Ensembles Ison improvisiert wurden.

Der aktuelle Forschungsstand zeigt, daß bisher nur wenige Kollegen diese Erfahrung haben, um sie in die Forschung einzubringen. In allen Fragen zwischen Komposition und Improvisation bleibt aber eine praktische Erprobung dessen, was über die musikalische Anwendung der Gedächtniskunst bekannt ist, Voraussetzung für eine kompetente Diskussion. Wenn aber eigene praktische Erfahrung es ermöglicht, sich auf das Niveau aufführungspraktischer Fragen zu begeben, kann nur zu neuen Experimenten ermutigt werden: Die Leblosigkeit vieler aufführungspraktischer Annäherungen an die Musik des Mittelalters beruht darauf, daß lebendige Traditionen modaler Musik und ihre praktischen Erfahrungen zuwenig genutzt werden.

Kapitel 5 über die Rekonstruktion der Missa greca für St. Denis

Für die praktische Arbeit mit dem Ensemble Ison suchte ich nach einem geeigneten Rahmen: Die Sänger sollten in der Improvisation Erfahrung mit längeren und ausgedehnteren Formen sammeln, in denen wie in einem Labyrinth durch mehrere Tonarten gewechselt wird. Von der Liturgie her sollten sowohl byzantinische wie französische Formen, wie sie im dritten und vierten Kapitel behandelt werden, nebeneinander stehen können.

Daher war ich froh, daß Michel Huglo, dem ich auf einer Tagung in Jena und Weimar begegnete, mich mit der lateinischen Überlieferung des Cherouvikon bekannt machte. Genau wie bei allen praktischen und theoretischen Quellen ist auch hier die westliche Überlieferung früher als die des Originals, das hier von Sängern der Abtei St. Denis offensichtlich in lateinische Buchstaben und Notation transkribiert und später auch in die lateinische Sprache übersetzt wurde. Zur Vorbereitung des praktischen Projekts dieser Studie wurde es daher nötig, sich mit der Rekonstruktion und der Forschung zum Hintergrund der Missa greca zu befassen, wie sie in dieser Abtei zu Ehren ihres Patrons zelebriert wurde. Dieses Interesse an einer anderen Kultur, an Schriften, die Dionysios Areopagitīs zugeschrieben wurden und für die Mystik und Architektur der Byzantiner Bedeutung hatten, ist auffällig. Verbunden mit einer Renaissance der zweisprachigen gallikanischen Liturgie war es durch die politische Geschichte motiviert, als sich nach Karl dem Großen die Beziehungen zwischen Byzanz und dem Frankenreich verbesserten. Ich suchte nach passenden byzantinischen und lateinischen Handschriften, um Notenmaterial für die Proben mit dem Ensemble aufzubereiten.

In gewisser Weise knüpfen diese Quellenstudien, besonders die Rekonstruktion des in adiastematischen Neumen überlieferten Melos des Cherouvikon, um die mich Michel Huglo bat, an das dritte Kapitel an, das sich zur Hälfte mit der späteren byzantinischen Überlieferung des Cherouvikon befaßt. Die genauen Tonhöhen folgen dem eigentümlichen Modell eines Melos, wie es in einem anderen Gesang der Missa greca ausgeprägt ist: dem griechischen Gloria in excelsis (Δόξα ἐν ὑψίστοις). Dieser Melos wurde bereits im Tonar des zweiten Kapitels analysiert und beschrieben, da es innerhalb des gregorianischen Repertoires ungewöhnlich war, dagegen auf die Beschreibung des Melos vom Autentus deuterus (ἦχος δεύτερος) im Agiopolitīs-Traktat paßt.[50]

Daß diese Rekonstruktion in aquitanische Neumen notiert wurde, hat folgende Gründe: Diese Schreibschule hat alle für die gallikanische Tradition eigentümlichen Formen und da alle anderen lateinischen Gesänge nach dem Graduale von St. Yrieix notiert wurden, hielt ich es für sinnvoll, daß die Sänger sich beim Erarbeiten der Gesänge auf eine Neumenschrift konzentrieren können. Alle lateinischen Gesänge wurden von mir in aquitanischen Neumen auf zwei Linien notiert, die den Rahmen des Pentachords der Tonart markieren.

Kapitel 6 über das wahre Labyrinth, wie Musiker es in der Improvisation finden können

Im Unterschied zu meiner Magisterarbeit habe ich in der Dissertation darauf verzichtet, ausschließlich die letzte Arbeitsphase des Ensemble Ison zu analysieren. Da diese Studie der Abschluß eines mehrjährigen Projektes zum Thema „Improvisation im Organum“ war, schien es mir wichtiger, die ganze Arbeit zu überschauen, und in dieser Übersicht hätte eine Beschränkung auf rein formale Aspekte musikalischer Kommunikation bedeutet, an wichtigen Erfahrungen der Musiker vorbeizuschreiben. Zum anderen wäre dieses Konzept eher fragwürdigen Grenzziehungen eines Faches geschuldet gewesen, die ich bereits im ersten Kapitel durch die Einbeziehung der Gedächtnisforschung hinter mich gelassen hatte.

Ein weiterer Grund, der mich dazu veranlaßte, die Auffassung von musikalischer Kommunikation bei der Beschreibung der Improvisation nicht zu eng zu halten, waren ein „Vortrag über Organumimprovisation“ und Filmarbeiten, die sich mit der Arbeit des Ensembles verbanden und mit ihr in einen Dialog traten, der mich auf Zusammenhänge aufmerksam machte, die auch ich bis dahin nicht zu bemerken geneigt war. Mir erscheinen diese Erfahrungen wert genug, um sie anderen zugänglich zu machen. So hatte ich neben den beteiligten Sängern noch eine ganze Reihe von Lehrmeistern. In diesem Neuland half mir keine andere Methode als die, die im Bereich von “qualitative research” als „Reflexion“ über die Begegnung mit Menschen betrachtet wird: die eigene Sprache sprechen zu lassen.[51]

Die Teile dieses Kapitels beziehen sich auf die einzelnen Etappen eines Organumprojektes, in denen sich die Improvisation des Ensembles entwickelt hat:

  1. Um eine Übersicht über dieses mehrjährige Organumprojekt und über meine frühe Motivation dazu zu gewinnen, begann ich mit dem Projekttutorium, durch das ich selbst überhaupt erst zu singen begann. Da die Absicht, sich der ars organi durch Improvisation zu nähern, zwar im Konzept genannt wird, aber zunächst nicht wirklich umgesetzt wurde, entstand meine Idee, in einem mehrjährigen Projekt, das die Magister- und die Doktorarbeit miteinbezog, diesen Ansatz weiterzuverfolgen. Das Projekt­tutorium, das sich zunächst im klassischen Sinne der historischen Aufführungspraxis von Musik aus der Pariser Kathedrale Notre-Dame näherte, war der erste Schritt, der darin bestand, Musik über historische Notationsformen zur Aufführung zu bringen – auch wenn das vielleicht nicht dem Umgang entsprach, für den diese Notation gemacht war: Wir begannen zuerst damit, notierte Beispiele der ars organi aus einem Buch zu singen, ohne die musikalischen Entscheidungen wirklich zu verstehen, die der notierten Version zugrundelagen.
  2. Um dieses musikalische Verständnis zu vertiefen, kam es zur Gründung des Ensemble Ison: Die erste Arbeitsphase in den historischen Räumen zweier französischer Abteien wurde aufgezeichnet und im Rahmen meiner Magisterarbeit zum Thema „Improvisation im Organum purum“ ausgewertet. Die Analyse geschah anhand von Transkriptionen auf Liniensystemen, darüber mit Neumen in der Schreibschule des Antiphonars, auf dessen Grundlage Organa improvisiert wurden. Im Rahmen dieser Studie wird dieser Stand der Ensemblearbeit noch einmal kurz zusammengefaßt, um den ersten Schritt in die ars organi zu beschreiben.
  3. Der größte Schritt war nach Abschluß der Magisterarbeit zu tun: Der Hinweis, den die polemische Beschreibung des Hieronymus von Mähren vom „Gesangstil der Gallier“ (70er Jahre des 13. Jahrhunderts) gibt, hatte bereits in der Magisterarbeit mein Interesse erweckt, christlich-orthodoxe Traditionen bei der Rekonstruktion der ars organi miteinzubeziehen: Denn Hieronymus beschrieb die Vermischung der Tongeschlechter in einer konkreten Form, die in der byzantinischen Gesangskunst, die zu Hieronymus’ Zeiten eine neue Blütezeit im Konstantinopel der Palaiologen-Dynastie erlebte, als phthora nenano oder in der arabischen Kunstmusik als Tongeschlecht bekannt war, das nach der Region heğaz genannt wird. Solche Veränderungen der Tonskala seien, so Hieronymus, normalerweise nur im «modus organicus» zulässig, die Gallier aber mischen ihn mit dem «cantus ecclesiasticus».[52] Da diese Form sich bis in die heute aktiven national-orthodoxen Gesangstraditionen der Kirchenmusik im Balkan erhalten hat, war es ratsam, die Sänger des Ensembles bei traditionellen Lehrern ausbilden zu lassen. Eine gute Gelegenheit bot sich durch die Bekanntschaft mit Deniza Popova, die seit Jahren Feldforschungen in der bulgarischen Bačkovo-Abtei im Rhodopengebirge unternahm. Wir lernten zusammen die moderne Neumennotation und Altkirchenslavisch, um bei wichtigen Sängern der bulgarisch-orthodoxen Tradition lernen zu können, und lernten hierbei auch das Ritual der Göttlichen Liturgie des Heiligen Iōannīs Chrysostomos aus eigener Erfahrung kennen, indem wir für einige Gottesdienste der bulgarisch-orthodoxen Gemeinde in Berlin die Gesänge der einstimmigen Tradition sangen.[53] Um einen Zugang zu byzantinischen Traditionen des 13. Jahrhundert zu finden, war es nötig, die praktischen Einsichten, die ich über die Feldforschung gewinnen konnte, über Handschriftenstudien bis in diese Zeit zurückzuverfolgen. Durch Zufall ergab es sich, daß einige Handschriften vor und nach der Reform von 1814 aus dem Balkan bis nach Kleinasien in der Berliner Staatsbibliothek wiedergefunden wurden – darunter auch seltene Teile des Repertoires, das zwischen 1300 und 1453 in Konstantinopel komponiert wurde. Diese wieder der Forschung zugänglich gemachten Quellen sind besonders im dritten Kapitel analysiert worden. Dieser Schritt, byzantinische Formen in meine Studien miteinzubeziehen, erklärt erst den thematischen Schwerpunkt dieser Dissertation, in der die zu Hieronymus’ Zeiten neue Kunst der Kalophōnia gleichberechtigt neben der französischen ars organi steht. Es kostete mich mehrere Jahre, ihn zu tun, aber die positive Resonanz, die kürzere Beiträge zu Aspekten dieser Arbeit auf internationalen Tagungen fand, gab mir einen Eindruck, wie wichtig und produktiv die Kombination philologischer Studien mit Methoden der Feldforschung und der systematischen Musikwissenschaft, vor allem aber unter Einbeziehung von Improvisation in die historische Aufführungspraxis, für die aktuelle Forschung ist.
  4. Die praktischen Erfahrungen, die wir in Bulgarien sammeln konnten, waren die Artikulation der Vokale durch Halbvokale und die Technik des Schneidens beim Singen langer Melismen und die Kommunikation komplexer Übergänge unter Heranziehung von Modellen, die es gibt, um im Melos in eine andere Tonart zu wechseln. Solche Wechsel werden vor allem durch mikrotonale Verschiebungen markiert – Strebetöne, die jeweils nur im Melos der einen oder anderen Tonart gebraucht werden und daher auch wichtig sind, um den Übergang in den Melos einer neuen Tonart zu kommunizieren. Meine Forschungen zu aquitanischen Tonaren des 11. Jahrhunderts hatten ergeben, daß solche Strebetöne auch in westlichen Traditionen gebraucht wurden.

Diese Erkenntnisse bildeten die Grundlage der zweiten Arbeitsphase mit dem Ensemble Ison in Frankreich. Die Aufgabenstellung war, gegenüber der ersten Reise größere und längere Formen zu gestalten. Im Vordergrund standen daher der Melos einzelner Tonarten und die Aufgabe, in der Gestaltung des Melos durch möglichst viele Tonarten zu wechseln. Bei einer Übung, durch alle Tonarten zu wechseln, hat keiner der Sänger es geschafft, eine Form zu improvisieren, die kürzer als 30 Minuten war.

Meine Erfahrung mit Transkriptionen und der Analyse von Transkriptionen hielt mich davon ab, auch diese zweite Arbeitsphase in Frankreich nach der gleichen Methode auszuwerten. Denn diese Methode schafft über Medien des Faches die Versuchung, in gewohnter Weise das musikalische Denken der ars organi zu verfehlen. Wem diese Kritik nicht einleuchtet, verweise ich auf die Gogol’sche Moskoviter-Beschimpfung zu Beginn des vierten Kapitels, aber auch auf die aufwendige Gestaltung der historischen Notenbeispiele, in denen ich bewußt darauf verzichtete, ein fünfliniges Notensystem als universelles System oder « niveau neutre » zu mißbrauchen.

Kapitel 7 als Ausblick auf neue Perspektiven

Meine Entscheidung, die Beschreibung der Arbeit mit dem Ensemble nicht ausschließlich auf formale Analysen anhand von Transkriptionen zu reduzieren, provozierte Diskussionen, ohne die ich dieses letzte Kapitel nicht hätte schreiben können. Deshalb entschloß ich mich, zumindest für die deutsche Veröffentlichung diese Version beizubehalten und dem provozierenden Schluß des sechsten Kapitels noch einen Ausblick folgen zu lassen.

Das siebte Kapitel reagiert daher auf Diskussionen nach Fertigstellung der verteidigten Fassung und versucht, noch offene Wünsche zu erfüllen, wie z.B. eine Stellungnahme zu kognitiven Theorien zu Tonhöhe, Melodiegedächtnis und generatives Formverständnis, die sich mein Doktorvater Wolfgang Auhagen wünschte, weshalb dieses Kapitel ihm gewidmet ist.

Das Kapitel besteht aus drei Teilen: Die ersten beiden Teile versuchen sich in einer systematischen Darstellung der Kommunikation: Im ersten Teil versuche ich nach meinen besten Kräften, Improvisation als Begegnung eines Musikers mit sich selbst zu beschreiben, bei der soziale Zusammenhänge und Rollen des Musizierens deutlich zum Vorschein kommen. Sie betreffen die Teile des sechsten und des ersten Kapitels, die besonders irritierte Reaktionen hervorriefen. Ich beschreibe hier zunächst als Grundlage für jede Form der Kommunikation eine innere Kommunikation, und danach äußere Formen der Kommunikation in Abhängigkeit zur inneren Kommunikation. Ausgangspunkt hierfür ist das Labyrinth als Schreibform und gewisse selbstzerstörerische Tendenzen, die sich in bestimmten Repräsentationsformen von Wissen und von Kultur deutlich abzeichnen und die auch die Institution Humboldt-Universität betreffen, an der diese Arbeit entstanden ist.

Der zweite Teil beschäftigt sich mit dem musikalischen Teil von Kommunikation, d.h. mit der Art, wie musikalische Formen und formale Entscheidungen unter Musikern kommuniziert werden können und welches musikalische Denken dieser Kommunikation zugrundeliegen könnte. Die elementare Grundlage dieser Kommunikation ist die kognitive Wahrnehmung von Tönen, Zusammenklängen, von Melodien und von formalen Übergängen. Doch geht es meist auch darum, die Gültigkeit musiktheoretischer Systeme für diese Kommunikation nachzuweisen. Ich verwende hierbei ein Zitat von Marcel Proust, um die Wahrnehmung westlicher Tonalität, wie sie mit den Methoden aktueller Kognitionsforschung beschrieben wird, mit dem musikalischen Denken in modaler Einstimmigkeit zu vergleichen und zu zeigen, daß letztere auf anderen Voraussetzungen beruht, die ich hier zu erarbeiten versucht habe. Auf diese Weise ist es möglich, Verständnisschwierigkeiten besser zu verstehen.

Der dritte Teil eröffnet den Horizont zu Dialogen mit Musikern aus anderen Traditionen modaler Einstimmigkeit, besonders zu dem Dhrupad-Sänger Ashish Sankrityayan. Er interessierte sich spontan sehr für diese Arbeit, da er in dem hier entwickelten Labyrinth einen Ansatz suchte, zu einer älteren Tradition indischer Kunstmusik aus dem 12. Jahrhundert einen Schlüssel zu finden, in der ein System von sieben Ragas auf den Stufen einer diatonischen Leiter beschrieben wird, das möglicherweise auch in Verbindung zur persischen Musiktheorie mit den sieben Zyklen (advār) steht. Sofern davon ausgegangen wird, daß sowohl die vedischen, die persischen, die hebräischen, die arabischen, die lateinischen und die byzantinischen Traditionen ihre eigene Sprache und ihre eigenen Prinzipien in der musikalischen Gestaltung haben, so ist doch aufgrund der jeweils eigenen Wahrnehmung der Tonhöhen und der verschiedenen Modelle und den diesen Modellen zugrundeliegenden Tonarten ein Austausch in einer gemeinsamen Improvisation möglich.

Anmerkungen

41

Hierzu der Abschnitt über „Die Abbildung des Gottesthrons im byzantinischen Kirchenraum“.

42

Als Beispiel hierfür könnte die Biographie des Bischofs Iōannīs Chrysostomos und die Geschichte des byzantinischen Reichs mit dem Christentum als Staatsreligion herangezogen werden (Kapitel 1, S. 17). Die durch den Begriff devekut umschriebenen zerstörerischen Energien werden im Islam als juristisches Problem einer ebenso radikalen wie häretischen Liebe verhandelt (S. 55ff), in den Traditionen der jüdischen Mystik, aber auch der Sufi-Mystik dagegen als gefährlichster Moment innerhalb einer mystischen Kontemplation (S. 10).

43

Die normative Herangehensweise an Kommunikation fragt vor allem nach ihren „Bedingungen“ und betrachtet sie zugleich auch als Voraussetzung. Sowohl Jürgen Habermas’ „Ethik der Kommunikation“ als auch Niklas Luhmanns Systemtheorie bemühen eine demokratische Ethik, um sie in die Tradition von Immanuel Kants Auffassung vom „Konsens“ zu stellen, wie er sie in Auseinandersetzung mit Rousseaus « volonté générale » entwickelt hatte.

J. Habermas & N. Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung? Frankfurt/Main 1971.

Ich ziehe es vor, die Art des Rituals und den ethischen Zusammenhalt, der von einer rituellen Kommunikation ausgeht, offenzuhalten und hierbei Demokratie nicht als selbstverständliches, alles beherrschendes System zu begreifen.

Leider übernehmen viele systematische Aufführungsanalysen, die sich sowohl mit improvisierter wie mit komponierter Musik beschäftigen können, normative Auffassungen von Kommunikation kritiklos, obwohl die Annahme nicht wahrscheinlich ist, daß rituelle Bedingungen eines Konzertes jeder Form des Musizierens zugrundeliegen. Alf Gabrielssons Versuch, einen Überblick über die Kriterien verschiedener Studien zu geben, reflektieren besonders im Abschnitt über “performance planning” nicht die Fragwürdigkeit, grundsätzlich von einer „vollständigen Beherrschung der Technik“ auszugehen, obwohl gerade da, wo Meisterschaft vorhanden ist, sie für gewöhnlich auch angezweifelt werden, während sie andernfalls auch gar kein Thema sein kann. Sie überschauen damit nicht das soziale Gefüge, aus dem heraus „Musik“ erst etwas „repräsentieren“ kann. Ohne dieses Gefüge und seine Vorstellungen vom Metier ist aber auch keine Entscheidung denkbar, was „falsch“ oder „richtig“ sei.

A. Gabrielsson: The Performance of Music, D. Deutsch (Hg.): The Psychology of Music, San Diego etc. ²1999; S. 501-602.

44

Hierzu das vierte Kapitel über Organum (S. 396).

45

Eine Abbildung dieses Diagramms findet sich im zweiten Kapitel (S. 134).

46

Eine kritische Diskussion der Gegenüberstellung des Vatikanischen Organumtraktats gegenüber Léonins Organumkunst, wie sie durch den analytischen Beitrag von Hartmut Schick von 1995 provoziert wurden, vermisse ich leider auch den neueren monographischen Darstellungen zu Pérotin und Léonin von Rudolf Flotzinger. Letzterer beklagt sich nun seinerseits, kürzlich in einem Interview, daß seine Bücher zuwenig von „wirklichen Fachleuten“ diskutiert werden (hierzu S. 409).

H. Schick: Musik wird zum Kunstwerk - Leonin und die Organa des Vatikanischen Organumtraktats, in: Studien zur Musikgeschichte: Eine Festschrift für Ludwig Finscher, Kassel 1995; S. 34-43.

R. Flotzinger: Perotinus musicus: Wegbereiter abendländischen Komponierens, Mainz etc. 2000.

R. Flotzinger: Leoninus musicus und der Magnus liber organi, Kassel etc. 2003.

47

Der Artikel „Praxis jenseits der Grenzen von der Theoriebildung – Zur 'Komposition' von Haltetonorgana im 12. Jahrhundert“ erscheint im Kongreßbericht der Basler Tagung der Deutschen Gesellschaft für Musiktheorie, die im Oktober 2003 stattfand.

48

Hierzu das dritte Kapitel, wo das relative Tonschrittdenken der byzantinischen Neumen mit den Formulierungen der Klangschritt-Traktate verglichen wird (S.  325).

49

Marianne Danckwardts ausführliche Analyse von Stirps iesse geht zudem nicht auf die unterschiedliche Art ein, wie die beiden Stimmen in den verschiedenen Fassungen verbunden werden (S. 403).

50

Vergl. hierzu S. 206ff im Abschnitt über den Autentus deuterus im Tonar von Kapitel 2.

51

M. Ely & M. Anzul: Doing Qualitative Research: Circles within Circles, London etc. ²1998 .

Das Buch wurde in einer mittlerweile unübersehbaren Flut von Büchern zum Thema wieder aufgelegt, da es sich durch eine freie und schlichte Herangehensweise im ethnologischen Kontext gegenüber methodischen Verkrustungen abhebt.

52

Das Zitat ist in dieser Arbeit im zweiten Kapitel wiedergegeben (s. S. 130).

53

Der Ablauf dieses Meßformulars ist in einer Übersicht im Anhang wiedergegeben (S.  II). In dieser Weise sind dort auch andere liturgische Traditionen mit ihren Meßliturgien dargestellt.