Diese Arbeit beschäftigt sich mit dem Organum purum – einem
Stil der zweistimmigen Auszierung eines Chorals, wie er in den ersten französischen
Kathedralen in der Mitte des 12. Jahrhunderts entwickelt worden ist. Zu
diesem Stil gehören einige Stücke der aquitanischen Handschriften
– der sogenannten St.-Martial-Schule – sowie das Magnus liber organi de
gradali et de antiphonario des Magisters Leonin – der frühen Pariser
Notre-Dame-Schule, bevor Perotin das rhythmische System der Modalnotation
einführte. Leonin ist das Ende einer frühen Pariser Organumtradition,
deren Repertoire einige Organa aufweist, die mit denen im zweiten Teil
des Vatikanischen Organumtraktats übereinstimmen.
Die Technik dieses Stils besteht darin, daß Töne des Chorals
lang ausgehalten werden, während die Organalstimme diese Töne
durch eigene Linien und Verzierungen ausschmückt – eine Praxis, die
sich von einer Improvisation hin zur Komposition entwickelte und das Musikleben
der Stadt zu einem internationalen Ansehen verhalf.
Diese Tradition hat sich über 800 Jahre hinweg nicht erhalten.
Musiker, die diese Musik heute wieder aufführen möchten, haben
bei ihrer Arbeit die obengenannten Quellen als Noten und zu ihrer genaueren
Ausführung – besonders hinsichtlich des Rhythmus, der Verzierung und
der Stimmung – eine Reihe von theoretischen Traktaten als Grundlage. Besonders
über die rhythmische Interpretation des frühen Organumstils,
der noch nicht die sechs rhythmischen Modi kannte, wird bis heute gestritten.
Viele Argumente in diesem Streit spiegeln nicht zuletzt auch die Bedürfnisse
heutiger Musiker wieder, die nur vor dem Hintergrund einer heute üblichen
musikalischen Ausbildung verständlich sind – auch in dem Sinne, daß
viele Ideen bei der Neuerfindung einer verschwundenen Tradition Alternativen
zu diesem Hintergrund entstehen lassen. Wenn diese Arbeit sich dieser Kreativität
anschließen kann, wäre sicher schon viel erreicht. Das gilt
besonders für das Thema Improvisation, das hier als Schlüssel
zu einem Verständnis von Tradition – konkret Überlieferung als
Erinnerung – und von Komposition verwendet werden soll.
Genau wie Komposition setzt Improvisation ein Regelwerk voraus, z.B.
Tonarten, in denen improvisiert wird, und dazu gehört im weitesten
Sinne die Einbeziehung von Stimmung, Stimmtechnik und Raumakustik. Das
Weitere ergibt sich aus dem Gegenstand der Improvisation: ein Choral mit
seiner tonalen Anlage und seine Gliederung über den Text, die im Zusammenklang
der Stimmen nachgebildet oder überformt werden kann. Darüber
hinaus stellt jedes Organum eine musikalische Form dar, die den Text der
einstimmigen Vorlage auf eine phonetische Ebene rückt, wo seine semantische
Wirkung hinter einer ästhetischen zurücktritt. Ebenso wie die
Syntax mit ihren semantischen Einheiten verschwindet, so verschwindet auch
eine zielgerichtete Zeit hinter einer intensiven neuen Zeitqualität,
die das Zeitliche in der Gestaltung und Wahrnehmung überwindet.
Der letzte und zugleich wichtigste Punkt ist die Ergänzung der
historischen Erforschung der Quellen und der systematischen Überprüfung
der Obertontechniken, die zur praktischen Umsetzung der pythagoräischen
Stimmung eingesetzt werden, durch das, was nicht rekonstruiert, sondern
nur über den Umweg bestehender Traditionen erlernt werden kann und
aus dieser Erfahrung neu geschaffen werden muß. Das ist ein ethnologischer
Ansatz, der bei einigen Ensembles heute bis zum Erlernen praktischer Fertigkeiten
geht. Bei dem Vergleich geht es nicht um eine direkte Identifikation der
verlorenen mit einer bestehenden Tradition, sondern um neue Voraussetzungen
für die Neuerfindung einer verlorenen Tradition. Der Vergleich mit
lebenden Traditionen zeigt nicht nur ungeahnte Möglichkeiten, sondern
auch die Grenzen bei der Erfindung einer mittelalterlichen Tradition.
Besonders für den Bereich bestehender religiöser Musiktraditionen
lassen sich zwei Mechanismen beobachten: Während die Überlieferung
von herausragenden Musikern getragen wird, die eigene musikalische Wege
gehen, so hat der Vortrag eines Textes (Rezitation) Vorrang vor der Musik
und die Musik wird in ihrer Funktion wahrgenommen (z.B. als Gebet). Dagegen
entstehen die intensiven Wirkungen oft dort, wo die Musik im Rahmen dieser
Funktion den Text außer Kraft setzt. Aus religiösen und dogmatischen
Motiven werden diese Momente nicht nur verehrt, sondern die Verehrung schlägt
leicht in Ablehnung oder Verteufelung um – die Tradition wird nicht nur
durch Entwicklung fortgeführt, sondern auch in ihrer Entwicklung kontrolliert
und reguliert.
Im praktischen Bereich interessieren ethnologische Beispiele aus Mitteleuropa
und aus dem Mittelmeerraum für den Bereich Modalität, Mikrointervalle
und Technik von Verzierungen, Organumsätze über einen Choral und
Obertontechniken bei Zusammenklängen.
Zu Aufbau und Form der Arbeit: Die Kapitel 2 und 4, 3, 5 und 6 gliedern
sich methodisch. Das zweite Kapitel ist philologisch (historische Musikwissenschaft)
und analysiert die praktischen und theoretischen Quellen – ohne den Umweg
auf das Vorgekaute, auch wenn der aktuelle Forschungsstand miteinbezogen
wird. Es liefert die Grundlagen. Das vierte beschäftigt sich mit der
ausgedehnten Liturgie der Vigilien zum Petrusfest. Das dritte Kapitel versucht,
die historischen Kenntnisse mit den Erfahrungen heutiger Musiktraditionen
zu konfrontieren (Musikethnologie) – unter Einbeziehung aktueller Experimente
in der Aufführung von früher Notre-Dame Musik. Die Tondokumente
von eigenen Experimenten werden in Transkriptionen und Aufnahmen - zum
Teil gestützt durch digitale Klanganalyse - analysiert und ausgewertet
(systematische Musikwissenschaft). Diese Auswertung versucht, die in klassischer
Ausbildung noch wenig bekannten Stimmtechniken und ihre Wechselwirkungen
im akustischen Raum zu erschließen, um die eigene praktische Arbeit
weiterzubringen, die erst ihren ersten bescheidenen Schritt getan hat.
Letzterer ist vor allem das sechste und letzte Kapitel gewidmet. An
ihm wirken im praktischen Jaspar Libuda und Johannes Schmelzer-Ziringer
mit. Teil dieser Arbeit war eine Exkursion nach Südfrankreich im Oktober,
um historische Kirchenräume und ihre Akustik bei den eigenen Experimente
einzubeziehen und wirken zu lassen. Das fünfte Kapitel, das sich mit
der Architektur und Akustik dieser Räume beschäftigt, ist leider
etwas zu kurz gekommen. Es ist eher eine Materialsammlung, die noch einer
fundierten Auswertung bedarf.
Die praktische Ausrichtung der Arbeit und ihre Einbeziehung moderner
Technologien im Bereich der digitalen Klanganalyse verlangt nach einer
multimedialen Darstellungsform und daher wurde diese Magisterarbeit nicht
in gedruckter, sondern in digitaler Form als CD-Rom vorgelegt.
Das hat auch formale Konsequenzen. Da ich meine Arbeit zur Diskussion
gestellt habe, merkte ich, daß die lateinischen Begriffe, die von
vielen Theoretikern mit unterschiedlichen, zum Teil widersprechenden Inhalten
gefüllt wurden, Mühe bereiteten. Da sich meine Arbeit nicht nur
an Mittelalter-Spezialisten im Bereich Paläographie richtet, sondern
allgemein verständlich und auch interessierten Laien zugänglich
sein soll, habe ich eine Seite eingefügt, in der alle Begriffe kurz
erklärt und mit den Teilen verknüpft sind, die diese Begriffe
durch genauere Analysen vertiefen. Deshalb gibt es in dieser Arbeit keine
lineare Form, sondern ich überlasse es dem Leser, in welcher Reihenfolge
er sich mit den vielen Facetten dieses Themas beschäftigt. In diesem
Sinne verstehe ich meine Erklärungen nur als Annäherungen. Mir
liegt mehr daran, sie offenzuhalten als sie wegzudefinieren.
Diese Arbeit ist nur der Anfang eines größeren Projektes.
Am Ende noch meine Danksagungen: Ich möchte ich allen danken, die
mich durch ihre Stimme: Johannes und Jaspar, durch ihr Interesse und ihre
Diskussionen bereichert haben: Marco, Morag und Ellen, und nicht zuletzt
bei denen, die verhindert haben, daß ich über dieser Arbeit
verhungert bin: Milena, Ewa und Franziska. Ganz besonders danke ich auch dem Mitarbeitern der Musikabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, die mir Zugang zu wichtigen Faksimilia und dem wiederentdeckten Notre-Dame-Fragment aus dem Nachlaß von Johannes Wolf verschafft haben - ebenso den Mitarbeitern Handschriftenabteilung. Diese Arbeit wäre zudem nicht möglich gewesen ohne die Zusammenarbeit und Offenherzigkeit Marcel Héritiers und seiner KollegInnen von der Abtei Montmajour und der Abtei du Thoronet, die bei der Caisse nationale des monuments historiques et des sites arbeiten.