Oliver Gerlach: Das byzantinische Cherouvikon (Cherubimhymnus)

Das byzantinische Cherouvikon (Cherubimhymnus)

Das Cherouvikon wird oft als Dichtung des byzantinischen Kaisers Ioustinos II. (565-578) betrachtet, der als Nachfolger von Ioustinianos das byzantinische Reich regierte, als es sich fast über zwei Drittel des Mittelmeerraums erstreckte, der größten Ausdehnung in seiner Geschichte. Der Bau der Agia Sophia in der heute bekannten Form unter Ioustinianos hatte neue Maßstäbe in der sakralen Architektur gesetzt, die später im 16. Jahrhundert auch zum Maßstab der Moscheen im Osmanischen Reich wurde.

Das Cherouvikon war ursprünglich ein Troparion, das zum großen Einzug, der Prozession der Gaben, gesungen wurde, mit dem der zweite Teil der göttlichen Liturgie beginnt, der nur den getauften Christen vorbehalten war. Die Prozession war durch eine räumliche Trennung der Prothesis, dem Raum der Gabenbereitung, vom Chorraum notwendig geworden und führte durch eine Chorschranke, die in den Stadtkirchen des Reiches auch später nicht von einer Eikonostasis ersetzt wurde.

Der Text des Cherouvikon war offenbar von Iōannīs Chrysostomos’ (ca. 347-407) Bild inspiriert (Zitat), daß die Engel im Himmel den gleichen Gesang des Dreimalheilig (Sanctus aus der Anaphora) anstimmen und die Menschen, die die göttliche Liturgie zelebrieren, die Engel abbilden. Das Abbildungsverhältnis wurde auch während der Krise des Eikōnoklasmos im 8. und 9. Jahrhundert Gegenstand heftiger Dispute und diente den Verteidigern der Ikonen und des Bilderkultes als Argument.

Die früheste Überlieferung: Das Cherouvikon der Missa greca

Wie die Melodie des Troparion damals gewesen ist, wissen wir nicht. Die früheste Überlieferung in Quellen mit musikalischer Notation kann nicht früher als bis in das 10. Jahrhundert datiert werden, erstaunlicher Weise in lateinischen Neumen und den griechischen Text in lateinische Buchstaben transkribiert. Diese Handschriften wurden für Corvey und die Abtei Saint Denis bei Paris geschrieben und zeigen eine liturgische Eigenart zu bestimmten Festen, nämlich Pfingsten und dem Patronatsfest von Saint Denis, eine griechische Messe (Missa greca) zu zelebrieren.


4: Das Cherouvikon der Missa greca im Sakramentar von Corvey (10. Jahrhundert)
Düsseldorf, Landes- und Stadtbibliothek, Ms. D 2, fol. 203’

Eine Rekonstruktion der genauen Melodie ist nicht unmöglich, aber gewagt. Mehrere Gründe sprechen dafür, die Melodie auf das Melos der phrygischen E-Tonart (autentus deuterus) zu beziehen. Dies wäre auch die Tonart von Hildegards Antiphon «O virtus sapientie».

Dieser Gesang wurde offenbar im 9. Jahrhundert in Saint Denis eingeführt, als der Patron in der neuen Vita von Abt Hilduin mit dem griechischen Kirchenvater identifiziert wurde, der unter dem Pseudonym „Dionysios vom Areopag“ seinen mystischen Traktat „Über die himmlischen Hierarchien“ verfaßt hatte. Einige Wörter in der Transliteration des griechischen Cherouvikon sind erfunden, woran erkennbar ist, daß die griechische Sprache selbst den gebildeten Kantoren nicht mehr geläufig war, die die Gesänge in Notation aufzeichneten.

Wahrscheinlich gab es bereits vor der karolingischen Reform, die 789 vollzogen war, eine ältere Tradition, das Cherouvikon innerhalb der gallikanischen Meßliturgie als Sonus (Offertorium) zu singen.

Das Cherouvikon im Kathedralritus von Konstantinopel

Übereinstimmend zu der Tonart des lateinischen Cherouvikon überliefern die frühesten Chorbücher des byzantinischen Kathedralritus, allerdings erst ab dem 13. Jahrhundert, eine Melodie im Plagios Devteros, die einzige E-Tonart in der byzantinischen Kirchenmusik:


5: „Das Cherouvikon von Symeon den Eirmologen“ —
Cherouvikon im Chorbuch des Kathedralritus (13. Jahrhundert)
Asmatikon aus der italobyzantinischen Tradition

In der Tonart stimmen daher beide Fassungen überein, berücksichtigt man die Unterschiede zwischen der lateinischen und der griechischen Auffassung des E-Modus. Darüberhinaus lassen sich im Vergleich zu eindeutigeren Fällen (wie die griechisch-lateinischen Troparia zur Karfreitagsprozession in den byzantinischen und den beneventanischen Handschriften) nur schwer Gemeinsamkeiten zwischen der frühen fränkischen und der byzantinischen Überlieferung finden, obwohl ein Import aus Byzanz anzunehmen ist. Der Melos im Kathedralritus ist zwar so melismatisch gestaltet, daß die lateinische Fassung als einfach und unverziert betrachtet werden kann, aber selbst in diesem Fall wäre es gewaltsam, von einer melismatischen Ausgestaltung der gleichen Melodie zu sprechen. Dagegen lassen sich Hildegards Antiphon und die lateinische Überlieferung des Cherouvikon dem gleichen Melos zuordnen und es ist nicht auszuschließen, daß Hildegard das Cherouvikon aus der Missa greca kannte, die auch in der Pfalzkapelle von Aachen zelebriert wurde.

Obwohl das Cherouvikon fast in jeder göttlichen Liturgie gesungen wird, wird es nur in den Chorbüchern überliefert (die Teile des Solisten, die in einem anderen Buch stehen, sind leider nicht erhalten) und dort auch nur in einer Tonart. Als diese Fassung in Italien aufgeschrieben wurde, war dieser Ritus bereits, nach der Eroberung Konstantinopels durch lateinische Kreuzfahrer 1201, verdrängt worden.

Als das Patriarchat und der Hof 1261 aus dem Exil von Nikaia zurückkehrten, knüpfte es nicht mehr an diese Tradition an, obwohl sie andernorts erhalten geblieben war. Es wurde ein neuer Mischritus geschaffen, in dem das Cherouvikon im kalophonen Melos noch melismatischer, aber in allen 8 Tonarten gesungen wurde — je nach der Tonart der Woche.

Obwohl die zahlreichen byzantinischen Klöster und einige Kathedralen Italiens sich noch immer an Konstantinopel orientierten, benutzten sie weiterhin die alten Gesangbücher, wo das Cherouvikon nur in der Tonart des Plagios Devteros gesungen wird. Aber in einer Ergänzung aus dem späten 14. Jahrhundert wird in einem anderen italienischen Chorbuch eine Fassung überliefert, die einen kalophonen Einschub über abstrakte Silben wie na-ne-na vorsieht, der hier nicht von einem Solisten, sondern von dem ganzen Chor gesungen wird:


6: Anfang des Teretismos im Chorbuch (14. Jahrhundert)

Die in den Neumen wiedergegebenen Tonhöhen sind durch lateinische Tonbuchstaben wiedergegeben und es wird deutlich, daß der Melos hier wesentlich tiefer geht als das Cherouvikon in der lateinischen Überlieferung und die Tonart Devteros schnell hinter sich läßt (das erste Kolon endet im dritten plagalen Ton: īchos varys auf B).

Das Cherouvikon in den Akolouthiai

Wann genau die ersten Cherouvika in allen acht Tonarten gestaltet wurden, ist nicht klar. Eines der wichtigsten Quellen der kalophonen Gesangskunst sind die Akolouthiai mit einer Einleitung von Manouīl Chrysaphīs, die kurz nach der Eroberung von Konstantinopel 1453 entstanden ist und heute im Ivīrōn-Kloster auf dem Berg Athos aufbewahrt wird. Hier gibt es Cherouvika in allen 8 Tonarten (Athos, Ivīrōn-Kloster, cod. 1120, fol. 504-522’). Von Iōannīs Koukouzelīs, der das neue Gesangbuch eingeführt haben soll, wird dagegen nur ein Cherouvikon überliefert, das noch in der Tonart des Chorbuchs Plagios Devteros steht, die — entsprechend der vorherrschenden Tendenz des 14. Jahrhunderts — stark chromatisiert wird. Diese Rezeption ist ein Übergang von alten Auffassung des Agiopolitīs (9. Jahrhundert), wo der Devteros, genau wie der deuterus in der karolingischen Theorie, grundsätzlich eine diatonische Tonart ist, zu der heute lebendigen Tradition, in der die Tonarten des Devteros fast immer chromatisch sind.


7: Das „Cherouvikon palatinon“ in der Gestaltung von Iōannīs Koukouzelīs
Transkription in moderne Neumen entsprechend der Neuen Methode

In den gedruckten Gesangbüchern, wo der Melos in der modernen Notation ausgeschrieben wird, umfaßt Koukouzelīs’ Realisierung etwa 8-10 Seiten, der Anfang dagegen ist weniger melismatisch gestaltet als in den alten Handschriften und das Cherouvikon palatinon wird sowohl in den bulgarischen wie in den griechischen Gesangbüchern ohne einen Einschub über abstrakte Silben (Teretismos) notiert — und aufgrund seiner Länge fast nie gesungen.

Im papadikischen oder kalophonen Oktōīchoszyklus der Akolouthiai gibt es aufgrund der Überlieferung der byzantinischen Rundnotation, die nur das Gerüst der Musik notiert, nicht aber die Formeln des Melos, grundsätzlich die Idee, daß das Modell des Cherouvikon einmal notiert werden braucht und auf dieser Grundlage in allen 8 Tonarten gestaltet werden kann.


8: Anfang des Cherouvikon von Petros Bereketīs (zwei Neumen oben) und seine
Transkription in den 8 Īchoi durch Chourmouzios dem Archivar

Eine wichtige Quelle hierzu ist Petros Bereketīs’ (ca. 1665-1725) Niederschrift eines Cherouvikon „zu singen in allen 8 Īchoi“, bei der die Tonhöhe also eine Frage der Tonart und seines Melos ist.

Das Cherouvikon in den gedruckten Anthologien zur Liturgie

In diesem Sinne, d.h. als Gestaltung eines gemeinsamen Gerüstes im Melos des jeweiligen Īchos, hat jeder Sänger, der im 18. und 19. Jahrhundert eine wichtige Position als Prōtopsaltīs im Patriarchat oder in einer wichtigen Stadtkirche innehatte, seine eigene Version gesungen, die er durch seine Schüler aufschreiben ließ. Die heutigen gedruckten Gesangbücher bieten eine kurze Realisierung als „Cherouvika der Woche“ oder Cherouvika syntoma an, wobei es sich üblicherweise um die Realisierung von Petros Peloponnesios (ca. 1730-1778) handelt, einen der wichtigsten Sängerkomponisten des Osmanischen Reichs, der Lehrer an der zweiten Musikschule des Patriarchats war und dessen Wochentagszyklus in allen einstimmigen national-orthodoxen Traditionen bekannt ist. Bei den längeren Realisierungen werden die Oktōīchoszyklen außer von Petros von Komponisten wie Petros Vyzantios, Grīgorios Prōtopsaltīs, Chourmouzios der Archivar, Grīgorios von Kreta, Theodoros Phokaeōs, Konstantinos Prōtopsaltīs, Nikolaos Prōtopsaltīs, Petros Ephesios usw. abgedruckt (zum Teil mit Längenangaben in Minuten).

Die gedruckten Gesangbücher zeigen, daß das Modell des Cherouvikon noch den Sängern bis in das frühe 20. Jahrhundert so vertraut war, daß sie es in jeder der 8 Īchoi gestalten konnten, wobei sie oft die anderen Tonarten streifen, bevor sie in die Haupttonart zurückkehren. Dadurch, daß die moderne Neumennotation diese Gestaltungen ausschreibt, werden sie in zunehmenden Maße nicht mehr als mögliche Realisierungen des Melos, sondern als Werke verstanden, wodurch die Sänger die alten Kompetenzen und schließlich die Kenntnisse des Modells verlieren, aus denen heraus sie das Melos selbst gestalten können.


9: Analyse der verschiedenen Fassungen und ihres Ison über dem slavischen Text

Da ich selbst bei zwei wichtigen Sängern der bulgarisch-orthodoxen Tradition den Kirchengesang gelernt habe, die fast ausschließlich das Cherouvikon nach dem Wochenzyklus des Petros Peloponnesios singen (auch dann werden sie häufiger von den Priestern unterbrochen), liegen der Aufführung zwei nahezu identische Realisierungen für den chromatischen Īchos Devteros (Glas 2) aus dem bulgarisch-orthodoxen Gesangbuch zugrunde, in dem das Cherouvikon mit altslavischen Text notiert ist. Die längere Fassung aus dem Festtagszyklus entspricht dem Cherouvikon aus dem Zyklus von Theodoros Phokaeōs, das ebenfalls in zwei Versionen in verschiedenen griechischen Anthologien überliefert wird. Ein Vergleich der verschiedenen Realisierungen läßt einen gewissen Entscheidungsraum für eine gebundene Improvisation mit einem frei improvisierten Teretismos, deren Freiraum einen Dialog mit der Gestaltung des Raga Ahir Bhairav in der langsamen Ālāpform in der Dhrupad-Tradition zuläßt.