Oliver Gerlach: Über die Bedeutung des Singens über abstrakte Silben

Über die Bedeutung des Singens über abstrakte Silben

Ein wichtiger Pfeiler, der die Brücke in diesem Dialog zwischen verschiedenen musikalischen Traditionen stützt, ist die Praxis, Improvisationen in das überlieferte Modell einzufügen, die sich schon rein äußerlich von der Überlieferung abheben, daß bestimmte Silben wie te-ri-rem, na-ne-na, ra-na-naa-noom-te-ta-ra verwendet werden, die keine Bedeutung haben.

Diese musikalische Praxis hat sich in verschiedenen Teilen der Welt unabhängig voneinander entwickelt. Ebenso verschieden sind auch die Argumente, mit denen sie verteidigt wird.

Argumente aus verschiedenen lateinischen Traditionen

Das früheste Zeugnis mag Augustinus’ schwärmerische Beschreibung der Praxis sein (4. Jahrhundert), einen Jubelgesang zu singen (in iubilatione canere):

Quid est in iubilatione canere? Intelligere, verbis explicare non posse quod canitur corde. Etenim illi qui cantant, sive in messe, sive in vinea, sive in aliquo opere ferventi, cum coeperint in verbis canticorum exsultare laetitia, veluti impleti tanta laetitia, ut eam verbis explicare non possint, avertunt se a syllabis verborum, et eunt in sonum iubilationis. Iubilum sonus quidam est significans cor parturire quod dicere non potest. Et quem decet ista iubilatio, nisi ineffabilem Deum? Ineffabilis enim est, quem fari non potes: et si eum fari non potes, et tacere non debes, quid restat nisi ut iubiles; ut gaudeat cor sine verbis, et immensa latitudo gaudiorum metas non habeat syllabarum?[1]

Was bedeutet: in der Iubilatio singen? Mit dem Verstand nicht erfassen, mit Worten nicht ausdrücken zu können, was im Herzen gesungen wird. Auch jene nämlich, die – sei es bei der Ernte, sei es im Weinberg oder bei anderen erhitzenden Tätigkeiten – singen, beginnen zunächst mit Liedertexten in Freude auszubrechen, dann aber, als ob sie von solcher Freude erfüllt wären, daß sie sie durch Worte nicht darzulegen vermöchten, wenden sie sich von den Silben der Wörter ab, und dem Klang der Iubilatio zu. Ein Iubilum ist ein gewisser Laut, der bedeutet, daß das Herz etwas hervorbringt, was zu sagen nicht möglich ist. Und wem sollte eine solche Iubilatio gebühren, wenn nicht dem unaussprechlichen Gott? Unaussprechlich nämlich ist Er, den du nicht zu sagen vermagst, und wenn du Ihn nicht sagen kannst, und nicht schweigen darfst, was bleibt dir als zu jubeln, als würde das Herz sich freuen ohne Worte, und die maßlose Weite der Freuden kein Silbenmaß kennen?

Wen er noch mit „auch jene“ gemeint haben könnte, sagt er nicht eindeutig. Aber einiges spricht dafür, daß er im Mailand des Bischofs Ambrosius, wohin ihn seine christliche Mutter schickte, um ihn zum Christentum zu bekehren, auch etwas den Äußerungen der Landarbeiter vergleichbares im Kirchengesang gehört hatte. Erst 700 Jahre später wurden die Gesänge der Mailänder Tradition in Noten aufgeschrieben und es gibt in diesen Büchern gesonderte Sammlungen mit melismatischen Einschüben (melodiae), die in bestimmte festliche Gesänge eingefügt werden.

Einen ähnlichen Vergleich macht der karolingische Kantor Aurélian von Réômé im 9. Jahrhundert, als er einen Griechen nach der Bedeutung von den Silben fragt, die als Erkennungsmelodien vor den traditionellen Gesängen erklingen, um die Sänger auf eine Tonart einzustimmen:

Etenim quendam interrogavi grecum, in latina quid interpretarentur lingua. Respondit se nihil interpretari, sed esse apud eos letantis adverbia. […] Memoratus denique adiuncxit grecus huiusmodi, inquiens nostra in lingua videntur habere consimilitudinem qualem arantes sive angarias minantes exprimere solent; excepto quod haec letantis tantummodo sit vox, nihilque aliud exprimentis, estque tonorum in se continens modulationem.[2]

Daher fragte ich einen Griechen, wie sie [Namen der Tonarten wie NONEOEANE oder NOEAGIE] in die lateinische Sprache übersetzt werden könnten. Er antwortete, daß sie nichts bedeuten, sondern daß es sich bei ihnen um Ausdrücke / Ausrufe der Freude handelt. […] Denn, als ich fragte, fügte der Grieche hinzu, daß es irgendetwas Ähnliches in unserer Sprache zu geben scheint, so wie es [Bauern] beim Pflügen oder Wagentreiber rufen, wobei die Stimme nichts Anderes als Freude ausdrücke. Und diese Stimme enthalte in sich die Wendungen der Tonarten.

Offenbar konnten diese Formeln beliebig erweitert werden, um eine Iubilatio als eigene musikalische Form zu singen. Außerdem betrachtete Aurélian die Griechen als eine Autorität, um auf diese Frage eine Antwort zu bekommen.

Das gilt möglicherweise nicht nur für die Praxis der modalen Intonationsformeln, die sich auf griechische Quellen aus Jerusalem zurückbeziehen läßt, sondern auch für die Praxis eines improvisierten Einschubs über abstrakte Silben, die ab dem 14. Jahrhundert in Konstantinopel systematisch notiert und unter dem Namen der Sänger gesammelt wurden.

Warum also nicht auch bei Hildegard von Bingen, wenn sie die Weisheit in Form der Engel besingt? Der Kirchenvater Pseudo-Dionysios beschrieb, wie die Cherubim göttliches Licht und das wahrste Verständnis der göttlichen Werke ausströmen, während sie im Himmel einen ewigen Tanz aufführen.

Die tanzenden Kratīmata und Teretismoi in der byzantinischen Gesangskunst

Dieser Vorstellung entspricht die unter griechischen Sängern bis heute lebendige Praxis, bei Einschüben über abstrakte Silben in ein schnelleres und rhythmisches Tempo zu wechseln, so daß der Eindruck von Tanzenden erweckt wird, ohne daß wir behaupten könnten, daß im byzantinischen Ritus jemals getanzt wurde. In Hildegards Abtei und ihrer eigenwilligen Auffassung der Liturgie können wir dagegen nicht ausschließen, daß auch Tanz Teil der liturgischen Praxis war. Ihr bewußter Umgang mit Schrift wird sie kaum dazu veranlaßt haben, eine solche Praxis durch ihr Skriptorium protokollieren zu lassen.

Ebenso ist die Frage berechtigt, ob im byzantinischen Gottesdienst eine der Iubilatio entsprechende Form erst dann auftauchte, als sie als Teil der kalophonen Gesangskunst aufgeschrieben wurde.

Aber das neue Gesangsbuch des 14. Jahrhunderts Akolouthiai weist einige seiner Teile als Kratīmatarion aus: als gesonderte Sammlung (wie ein eigenes Buch) von Kratīmata. Der Name leitet sich aus einem zusammengesetzten Neumenzeichen her, das für eine melodische Phrase verwendet wurde. Andere zum Teil synonym verwendete Bezeichnungen sind Terirem, Teretisma oder Teretismos, das einfach aus den verwendeten Silben gebildet wird, oder Kalopismos („Verschönerung“). Die theologische Rechtfertigung wiederholt meist das frühe Argument von Augustinus. So schreibt der Metropolit Gerasimos Vlachos aus Kreta (17. Jahrhundert), daß das Terere nach der symbolischen Theologie nichts Anderes zeige als das Unbegreifbare des göttlichen Wesens.

Um mit einer Dhrupadimprovisation (Ālāp) im Rāga Yamān in Dialog treten zu können, wählte ich einen Teretismos aus dem Eirmologion kalophōnikon, der für den Melos des Īchos Varys ungewöhnlich, aber — zumindest in der Intonation der Intervalle einer älteren Sängergeneration — den Formeln dieses Rāga bemerkenswert ähnlich ist. Obwohl der Īchos Varys wegen seines großen Tonumfangs als „schwierig“ (βαρύς) gilt, der vom Sänger große Sicherheit in der tiefen wie in der hohen Lage verlangt, geht der Melos in dieser Komposition noch höher hinaus und nur sehr selten in die unter Oktave, was für eine sehr tiefe Lage spricht, die der Philosophie des Dhrupad sehr entgegenkommt. Ich fand diese Komposition in einer Handschrift der Berliner Staatsbibliothek, die von einem Orientalisten in den 20er Jahren auf einer Anschaffungsreise in der Türkei gekauft wurde, wenige Jahre nach der Katastrophe von Smyrna.

Sie ist in den gedruckten Fassungen des Eirmologion kalophōnikon nicht enthalten und so erklingt dieser Gesang zum ersten Mal wieder nach langer Zeit:


10: Teretismos aus dem Eirmologion kalophōnikon im Īchos Varys

Abstrakte Silben im traditionellen indischen Dhrupad-Gesang

Nach eigener Darstellung von Ashish Sankrityayan, der Dhrupad in der lebendigen Tradition bei einigen Meistern der Dagar Familie lernte, sind die Silben aa, ra, na, naa, noom, na, te, ta, ra, na, na assonante Abstraktionen von Mantraversen wie Om antaran tvam, taran taaran tvam anant Hari Narayan Om („Herr, führe mich von der Dunkelheit ins Licht“). Sie verlieren ihren Sinn oder „abstrahieren“ ihn, indem sie frei und voneinander isoliert verwendet werden.

Dies geschieht in einer langsamen Einleitung Ālāp, in der ein Rāga zunächst ohne Rhythmus langsam entwickelt wird. Obwohl Dhrupad mit dem Wort „Komposition“ übersetzt werden könnte, ist dieses Wort aufgrund der westlichen Auffassung von musikalischer Komposition irreführend. Jede vokale Aufführung in traditioneller indischer Musik bezieht sich auf eine Komposition: ein Lied (prabandha), das mit seinen Versen, seinem Rāga (melodisches Modell) und seinem Tāla (rhythmisches Modell) meist nicht länger als zwei oder vier Verse ist.

Obwohl in jeder Aufführung der Musiker und sein Verständnis des Rāga im Vordergrund steht, ist die Kunst, „Worte und Melodie zu schaffen“ (vāg-geya-kāra), so hochgeschätzt, daß diese Musiker auch danach beurteilt werden, wie viele und welche Prabandhas sie kennen. Diese Kenntnis sowie schriftliche Aufzeichnungen davon gehören zu einem eifersüchtig gehüteten Familienschatz, vergleichbar mit den Liedersammlungen des Divan in der arabo-persischen Musik, die Familienbesitz waren.

Das Konzept eines Rāga in der Tradition von Dhrupad

Während die Prabandhas des Dhrupad sich bis in das 16. Jahrhundert — der Zeit der Mughal Höfe — zurückführen lassen, glauben viele indische Musiker, daß die Tradition der Rāgas bis zu 4000 Jahre alt ist und daher viele Rāgas und Tālas in mehreren Traditionen überregional verbreitet sind. Das Wort rāga kommt aus dem Sanskrit und bedeutet „Emotion, Affekt“, aber auch „Passion“. Für die Rāgas selbst gibt es eigene Verse, denen sie als Modell unterlegt sind, und zu dem emotionalen Konzept gehört auch ein zeitliches, so daß jedes Rāga nur zu einer bestimmten Tages- oder Nachtzeit erklingen darf.

Zu der Kompetenz eines traditionellen indischen Musikers gehört daher nicht nur, daß er das Rāga, das er gewählt hat, gut kennt, sondern auch die Wahl des Rāga und eines Prabandha an und für sich. Sie ist daher Teil der Improvisation in Abhängigkeit zur persönlichen Befindlichkeit, aber auch der zeitlichen Gebundenheit dieser Improvisation.

Zu bemerken ist auch, daß sich das Verständnis traditioneller Musik aus Nordindien in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt hat. Während sich bis in die 80er Jahre der virtuose Khayāl-Stil behauptet hat, der im 18. und 19. Jahrhundert entstanden ist, und die Laute Sitār und das Schlagwerk Tābla die bevorzugten Instrumente waren, die schnell und leicht sind und nicht in die tieferen Register hinabreichen, gab es in den 90er Jahren eine Wiederentdeckung des Dhrupad, die auch das Verständnis der Rāgas veränderte. Der neue Schwerpunkt auf das 16. Jahrhundert beeinflußte zunächst die Wahl der Instrumente, nämlich eine große, aus Ton gebrannte Faßtrommel Pakhāvaj und als Begleit- oder Hauptinstrumente, die den Sänger ersetzen, das tiefe Streichinstrument Rudra Veena oder bei der Sitār die tiefere Variante Surbahār, oder Sarańgī. Die Orientierung an Dhrupad hatte daher nicht nur Konsequenzen für den Ambitus, sondern auch auf das Tempo und die Spiel- und Gesangstechnik, denn die Entwicklung der Klänge in den tiefen Frequenzen erfordern mehr Zeit und schränken die zugelassenen Ornamente und Techniken (meend, ghamak, lahak, kampit, andolit) ein. Statt wie bisher auf dem Bordunton der Tanpūrā zu beginnen und langsam auf den zugelassenen Stufen des Rāga aufzusteigen, führt der Weg in Ālāp zunächst in die Unteroktave hinab, was neue Anforderungen an den Sänger stellt, dessen Stimme sehr entspannt sein muß, um die langsamen Frequenzen halten zu können.

Die formale Entwicklung des Dhrupad

Zu der neuen Wertschätzung des Dhrupad als die authentische klassische Musik Nordindiens und die älteste Hindustani Tradition gehört daher auch der Bezug zu Pfaden des Nāda Yoga und die Ablehnung bestimmter Stimmtechniken, die das tiefere Brustregister ausschließen, aber im schnellen und virtuosen khayāl-Stil gebraucht werden.

Obwohl Dichtersänger der Dhrupad-Tradition weltliche wie sakrale Themen behandeln wird diese Tradition heute mit philosophischen und religiösen Themen verbunden, die sowohl islamische wie hinduistische Motive umfassen. So stehen Verse der pädagischen Sufilyrik im sādrā tāl, Lieder, die mit Frühlingsriten und dem Krishnakult verbunden sind, im dhamār tāl, Hymnen zur Anrufung anderer Gottheiten meist im schnellen sultāl oder tīvra.

Zu den Gestaltungsformen gehören B̃āț, die Disposition der Teile, wobei der Bezug auf die zwei oder vier Verse des Prabandha oft die Entwicklung des Rāga in den verschiedenen Registern betrifft, die eigentliche Improvisation Upaj und die rhythmische Steigerung Laya-kārī, die darin besteht, im Zusammenspiel mit dem Tāla auf der doppelseitigen Faßtrommel Pakhāvaj das Tempo in das Doppelte, Dreifache und Vierfache zu steigern, ohne die Proportionen zwischen den einzelnen Teilen aufzugeben.

Wenn ein Sänger oder Instrumentalist beginnt, wird der Rāga zunächst ohne den Tāla im Pakhāvaj in Ālāp entwickelt, schließlich schrittweise über Permutationsmodelle des Rāga und einen Grundpuls (nom-tom, jaŗ). Diese Einleitung dauert ungefähr 30 Minuten und wird zunehmend rhythmischer, mit dem Pakhāvaj tritt ein weiteres Gestaltungsmittel hinzu: bol- b̃āț, der Bezug zur Aufteilung des Textes des Prabandha, und das gemeinsame Treffen sam auf der ersten Zeit im sich wiederholenden rhythmischen Zyklus Tāla, während die meist die Zeit in der Mitte des Tāla leer ist und die Musiker voneinander unabhängig agieren können. An dieser Stelle, wo mit dem Pakhāvaj der vorgeschriebene Rhythmus eines Tāla hinzutritt, erklingt für gewöhnlich auch das Modell eines Prabandha als Bezugspunkt des Dhrupad: sthāyī bezeichnet hierbei die erste Phrase (A), über die jedes Prabandha auch identifiziert wird, antarā der zweite Teil (B), der von der Mitte der mittleren Oktave in die Oktave über dem Bordun der Tanpūrā geht. Bei Prabandha mit vier Versen, bildet der dritte Teil (C) abhog und bezieht sich wieder auf den Tonumfang der Phrase A, wobei in den meisten Rāgas das Ziel die vierte oder fünfte Stufe über dem Bordun ist, sañcāri ist eine Variation des zweiten musikalischen Teils (B’) und liegt entsprechend wieder in der höheren Lage.

Im schnellen Tempo werden auch besondere Gesangstechniken wie ghamāk verwendet, bei dem die Stimme sehr rasch durch eine besondere Atemtechnik aus dem Bereich des Diaphragma gestoßen wird. Ornamente beziehen über das tiefe Register Obertöne, Differentialtöne und besondere Formen der Resonanz mit ein.

Die zeitliche Ausdehnung dieser in Improvisation entwickelten Formen ist grundsätzlich nicht eingeschränkt, bis vor einigen Jahrzehnten waren Musiker mit Improvisationen vertraut, die über mehrere Tage sich ausdehnen konnten. Im Jazz, die im Westen am ehesten verbreitete Tradition, die die Improvisation systematisch kultiviert hat, gelten formale Ausdehnungen über 40 Minuten bereits als extreme Länge.

Die Idee mit der Gestaltung des Ālāp auf ein Modell einer anderen Tradition zu reagieren und es als Rāga zu verstehen ist der Ausgangspunkt von Ashish Sankrityayan, von dem aus er den Dialog eröffnet. Deshalb fehlt der letzte Teil, der zusammen mit dem Tāla und dem Pakhāvaj eine Form in der Dhrupad Tradition beschließen würde. Er zeigt darin, daß er ein sehr traditionelles Verständnis des Dhrupad durchaus mit einer Aufgeschlossenheit für dieses Experiment vereinbaren kann.

Anmerkungen

1

Augustinus von Hippo: Enarrationes in Psalmos, hg. v. D. Eligius Dekkers & Johannes Fraipont, in: Corpus Christianorum, Series Latina, Bd. 38; Turnhout 1956; S. 254.

2

Joseph Perry Ponte III: Aureliani Reomensis Musica disciplina: A Revised Text, Translation, and Commentary, 3 Bde. (Dissertation, Brandeis University 1961); Bd. 2, S. 68f.