Die Organa zum Responsorium Petre amas me

Die Kenntnis der Organumtraktate und der liturgischen Handschriften, die etwas von der Kunst einzelner Kantoren überliefern, bilden eine wichtige Grundlage für eine vergleichende Analyse dreier Organa, die über das Responsorium Petre amas me überliefert sind. Sie stammen alle aus der Umgebung von Paris, aber aus drei Jahrhunderten: aus Saint Maur des Fossés (etwa 1095), aus Notre-Dame oder Saint-Dénis (etwa 1170) und aus Notre-Dame (etwa 1240). Die Analyse dieser drei Organa, die den gleichen Choral als Cantus haben, wird den Fragen nachgehen, die ich bereits am Anfang des zweiten Teils dieses Kapitels gestellt habe. Die Analyse ist auch ein Versuch, durch den Vergleich Verbindungen zu schaffen, die etwas über die Entwicklung einer regionalen Organumtradition um Paris verraten und die zu ihrer praktischen Rekonstruktion beitragen können.

Das Responsorium Petre amas me

Das Responsorium Petre amas me gehört zum Nachtgottesdienst am Morgen zum 29. Juni, das Namensfest des Apostel Petrus. Wie in vielen Responsorien werden auch hier einzelne Verse aus dem Evangelium kompiliert: Drei Verse aus dem Evangelium des Johannes (21,15-17), in denen Jesus dreimal Petrus fragt, ob er ihn liebe. Entsprechend der dreifachen Verleugnung durch Petrus, gelobt Petrus dem auferstandenen Christus dreimal – mit derselben Formel – seine Liebe und erhält dreimal eine Antwort, die ihm seine Aufgabe als Erster unter den Jüngern vorhält: Pasche oves meas. Dieser Dreiteiligkeit entsprechen die drei Perioden des Responsoriums:

Erste Periode:

«J: Petre amas me?
P: Tu scis, domine, quia amo te.»
Zweite Periode:
«J: Symon iohannis, diligis me plus his?
P: Tu scis, domine, quia amo te.»
Dritte Periode (ad repetendum):
«J: Pasche oves meas!»
Die formale Anlage des Responsoriums, die sich aus den Perioden ergibt, stellt in etwa die Struktur der drei Evangeliumverse her. Zwei Versionen sind denkbar:
R: «Petre amas me? Tu scis, domine, quia amo te.»
Ad repetendum: «Pasche oves meas!»
V: «Symon iohannis, diligis me plus his? Tu scis, domine, quia amo te.»
Ad repetendum: «Pasche oves meas!»
R: «Gloria patri et filio et spiritui sancto.»
Ad repetendum: «Pasche oves meas!»
Die andere Version würde an dritter Stelle einfach wieder den ersten Teil des Responsoriums wiederholen anstelle der kleinen Doxologie, die dem Responsorium am Ende einer Nokturn folgt, denn nur dieses wird als Organum gesungen.

Das Reimschema wäre : aa b ca b

Die musikalische Struktur unterteilt jede Periodenhälfte nochmals in zwei distinctiones, deren Verknüpfung ich hier mit syntaktischen Zeichen wiedergebe:

a,b. c.x:b‘. e,d. f,d’.x:b‘. e,d.

Das Responsorium sei hier wiedergegeben in einer Fassung aus einem Antiphonar aus Pontetetto (12. Jahrhundert):

Die Musik verbindet folgende Halbverse:

In der ersten Hälfte:

a: Petre

Beginnt auf F und endet auf dem "dorischen" Halbschluß D.

c: Tu scis domine

f: Symon

Beginnt auf dem Rezitationston a und schließt auf der finalis E.

e: Pasche

Beginnt wie c von a nach E, schließt dann auf der "falschen" finalis D.

In der zweiten Hälfte: b: amas me

b‘: amo te

Verwendet eine melodische Wendung (FGa GFE), die bei Responsorien im vierten Modus (e-plagal) sehr üblich ist, um Reime aufeinander zu beziehen. Sie ist eine Wendung zur finalis E. Die Phrase b‘ verbindet das Quilisma (EFG) aus a mit der Schlußwendung aus b.

d: oves meas

d‘: iohannis diligis me plus his

Diese Wendung beginnt auf der Quarte D-G, um zu a zu gelangen, und schließt auf E (EG FE). Dieser Paarung wird in vielen Responsorien durch einem zweiten Endreim entsprochen.

Die restlichen mit x bezeichneten Passagen werden auf F rezitiert, wie in der zweiten Hälfte einer Periode in einem Responsorium des vierten Modus üblich ist. Diesen Rezitationston gibt es aber nur in der Gattung Responsorium und verbindet den vierten (e-plagal) mit dem  Modus (d-plagal).

Das Responsorium ist aus sehr einfachen Bausteinen zusammengesetzt und gliedert seine Perioden in klare distinctiones:

Petre | amas me ||
tu scis domine | quia amo te ||
Symon | iohannis | diligis me plus his ||
tu scis domine quia | amo te ||
Pasche | oves meas ||
Alle drei Quellen der Organa überliefern die solistischen Teile des Responsoriums mit kleinen Varianten. Von der ersten Periode ist nur die Intonation Petre amas me solistisch. Das Bemerkenswerte an ihr ist, daß sie aus zwei Intonationen besteht. Die erste, Petre, intoniert noch D, die zweite, amas me, nach E. Beide Modi haben den gemeinsamen Rezitationston F.

Wird das Responsorium mit Gloria gesungen, so wird es entsprechend dem periodischen Bau des Soloverses Symon iohannis, also der zweiten Periode, in Töne gebracht:


Petrusnokturn in einem Antiphonar aus Worcester (13. Jahrhundert)

Dann sind Gloria mit einem Melisma auf der letzten Silbe wie Symon (Abschnitt f), patri et filio wie diligis me plus his (Abschnitt d‘), et spiritui wie tu scis quia (x als Rezitation auf F), schließlich sancto wie amo te (Abschnitt b‘).

Diese "melodische Grammatik" erinnert an das solistische Psalmodieren, wo Psalmformeln mit Melismen kombiniert werden, und Peter Wagner bezeichnete auch das Responsorium des Officiums als eine den Meßgattungen Graduale und Alleluiavers verwandte Form, deren Vers auch eine solistische Psalmodie ist: Es gibt einen formelhaften Aufbau, aber an bestimmten Stellen können Melismen, natürlich gemäß den Formeln einer Tonart eingesetzt werden, so daß die Erfindung genau an diesen Punkten tätig wird. Leo Treitler geht davon aus, daß die Rekonstruktion im Gedächtnis eines Kantors sich am Raster Tonart (vierter Modus) und liturgische Gattung (responsoriale Antiphon), und Anfang, Ende und Mitte ihrer Formteile orientiert.

Die Bereicherung des überlieferten Repertoires durch komponierte Responsorien, die für den gefeierten Heiligen gegenüber den Responsorien der commune sanctorum ein eigenes Responsorium einführten, spezialisierte die cluniazensische Liturgie immer mehr und zog den Vorwurf Hildoards auf sich, der Abt Odo, der von Cluny auf Saint Maur gekommen war, habe ein Responsorium für den Heiligen Babolenus "komponiert".

Das Organum aus dem Graduale-Antiphonar von Saint Maur

Wie aber wird ein Organum des 11. Jahrhunderts im Sinne von Treitlers Idee der "mündlichen Komposition" komponiert?

Nach den Regeln von Guidos Micrologus würde das Organum die distinctiones der Intonation des Responsoriums so gestalten:


Übertragung nach Paris, Bibliothèque nationale, fonds lat., ms. 12584, fol. 306

Der Cantus folgt hier den Neumen des Responsoriums auf dem eingefügten Folio 306 des Graduale-Antiphonars. Die erste distinctio schließt auf D die zweite am Ende prolongiert auf der finalis E.

Im Vergleich dazu eine Transkription des über den Cantus notierten Organums von Saint Maur:


Intonatio des Responsoriums Petre amas me mit Organum aus dem Graduale-Antiphonar von Saint-Maur-des-Fossés

Die häufigen occursus, die für den Organumstil von Saint Maur typisch sind, untergliedern nicht nur das erste Melisma und die zweite distinctio, sie heben auch die Doppeldeutigkeit der Intonation, die zwischen zweiten (d-plagal) und vierten (e-plagal) Ton schwankt, auf. Denn die vielen Einklänge auf E, bevor das Melisma auf D endet, haben eine ähnliche Wirkung wie ein Halteton auf der finalis. Außerdem wird auf einen prolongierten Schluß verzichtet und das Organum bildet durch das Halten von D den direkten Weg in den occursus mit dem semiditonus D-F – einem Intervall, das Guido an dieser Stelle vermieden hätte.

Neben dieser für alle praktischen Organumquellen üblichen Abweichung scheint in diesem Organum eine sehr deutliche Vorliebe für Haltetöne zu walten. Das Organum beschränkt sich in diesem Teil auf drei Töne C, D und E, und sucht die Einklänge auf D und E, wobei der jeweils nächst untere Ton Halteton ist, dessen Halten immer mit einer Sekundwendung in den Einklang endet. Trotz dieser Schlichtheit verbindet es die Parallelbewegung mit der Haltetontechnik, mit den Grenztönen (vires organi) C und D – je nachdem, ob der occursus auf D oder E schließt.

Das Auffälligste aber an der Fassung aus Saint Maur ist die nachträgliche Erweiterung durch ein Melisma an einer bestimmten Stelle, die nicht nur aus der Konkordanz mit anderen Antiphonaren sofort sichtbar wird, sondern allein durch die ungewöhnliche Länge des Melismas und seine doppelte Notationsweise mit der nachgestellten Aliud-Fassung: Zwei Neumae über Symon stehen zur Auswahl. Wiederum ein schreibendes Erkunden kompositorischer Möglichkeiten?


Transkription des Soloverses bis "iohannis" (Neuma über "Symon")

Die Transkription des ersten Neuma, mit dem das Organum notiert ist, muß offen bleiben, solange keine vergleichbare Fassung in diastematischen Neumen bekannt ist. Aber auch so ist erkennbar, daß seine zweite Hälfte nicht als Haltetonorganum mit vertauschten Rollen – Halteton im Organum zu einem improvisierten Neuma im Cantus – verstanden werden kann, sondern daß auch hier die Regel gilt, daß das Organum einem vorgegebenen Cantus folgt.

In meiner Transkription biete ich zwei Versionen an, deren erste aus gleichen Neumenkonstellationen Wiederholungsstrukturen herausliest, während die zweite sich an melodische Formeln des überlieferten Responsoriums orientiert. Bereits der Anfang läßt sich in Übereinstimmung mit der Gregorianischen Überlieferung übertragen. Das Organum scheint von der Unterquarte in den Einklang zu gehen – zumindest in einer Guidonischen Übertragung. Halteton und occursus werden so übertragen wie es der Tonart entspricht: E und a treten als wichtige Strukturtöne hervor. Was darauf folgt, könnte in beiden Stimmen nur dann gleichzeitig improvisiert werden, wenn sich das Organum auf Haltetöne beschränkt. In der ersten Transkription wird dieser Nachdruck auf den phrygischen Schritt F-E gelegt, die zweite dagegen greift den Wechsel zwischen D- und E-Schluß auf – in Anlehnung an die Intonation des Responsoriums. Was aber danach folgt, sieht wie ein Spiel mit kleinen Formeln aus, die wie in einem Stimmtausch kombiniert werden, ohne daß das Organum der melodischen Linie eines Cantus folgt. Die aufsteigende und fallende Tongruppe am Anfang und Ende dieser distinctio umklammern sie wie ein symmetrischer Rahmen. Ein sehr interessanter Abschnitt, zu dem mir aber keine wirklich überzeugende Transkription gelungen ist. Diese Fassung nimmt den Cantus der alten Überlieferung bei iohannis auf, indem sie den occursus wieder zu Quarte öffnet – ebenfalls ein in beiden Stimmen komponierter Übergang.

Michel Huglo hält die Aliud-Fassung des Neuma, deren Cantus Wulf Arlt auf der Grundlage der Handschrift von Beauvais transkribiert hat, für die ältere Fassung in einer lokalen Tradition – möglicherweise sogar von Saint Maur. Diese Anlehnung an Beauvais macht eine Transkription sehr viel einfacher, zumal die Kombination von Quartorganum und Haltetonoccursus in den Rahmenteilen des Melismas sehr stereotyp für ein Organum von Saint Maur ist. Der Schluß des Neumas benutzt die Formel des Abschnitts b aus dem Responsorium:


Solovers mit Aliud-Fassung des Neuma über "Symon"

Im zweiten Segment mit der Wendung nach D spiegeln und kreuzen sich beide Stimmen in einer Gegenbewegung. Auslöser ist wohl der Grenz- und Halteton C zur Vorbereitung des Schlusses auf D. Bis hierhin orientiert sich der Cantus in der Aliud-Fassung dieses meloformen Tropus in seinem Bau am Abschnitt e (erste Hälfte des Repetendum-Teils über Pasche).

Ein Vergleich beider Neumafassungen ergibt zwei Schichten:

Die frühere mit Aliud bezeichnete folgt der älteren Praxis des organum subsequens cantum, die auch den Rest des Organums bestimmt. Es handelt sich einfach um einen Tropus, der mit einem Organum gesungen wird. Eine distinctio wird in mehrere Segmente aufgeteilt, entlang denen unterschiedliche Lösungen für das Organum entwickelt werden. Hieraus ergibt sich ein begrenzter Vorrat an Wahlmöglichkeiten bei einer Aufführung. Diese Praxis würde ich mit Treitler als mündliche Komposition bezeichnen.

Die spätere in das Organum eingefügte Fassung entwickelt beide Stimmen auseinander. Sie ist verglichen mit der anderen Praxis freier, aber aus dieser Freiheit entspringt die Komposition als punctum contra punctum und nicht die Improvisation. Es handelt sich nicht um die organale Gestaltung entlang eines bestehenden Cantus, sondern eher um ein Spiel mit Formeln, den Diskantformeln im Traktat des Anonymus 2 ähnlich, deren Reihenfolge oder Entwicklung mehr oder weniger eingeübt sein muß. Auch solche Strukturen führen zu einer Verdichtung und Dehnung der Zeit.

Gegenüber dem Organum purum sind solche Tropen oder Neumae nur andere Formen der digressio – dem rhetorischen Terminus für die Abschweifung.
 

Die Organa aus Paris

Es ist daher kaum überraschend, daß die Form des Organum purum im Vatikanischen Traktat bei dem Melisma Symon sich am stärksten ausdehnt, obwohl der Tenor ohne jeden Tropus und auch ohne die Fassung aus Saint Maur und Beauvais auskommt. Das Organum duplum in der Notre-Dame-Handschrift F dagegen rafft dieses Melisma zu einer modalrhythmisch komponierten Diskantklausel zusammen, während das Organum purum, das auch Klauseln kennt, wenn auch ohne Modalrhythmus, hierauf verzichtet.

Dieser Unterschied in der formalen Ausdehnung zwischen Organum purum und Organum duplum ist durchaus repräsentativ. Eine Aufführung des Organum purum würde mindestens die doppelte Zeit in Anspruch nehmen und stellt hohe Ansprüche an die Virtuosität, die Kraft und die Verzierungskunst des Kantors, Vorsängers oder succentors, der das Organum singt.

Erst vor wenigen Jahren ist mal wieder eine vergleichende Analyse beider Organa erschienen, deren Titel bereits die Prämisse der Analyse ausspricht: Musik wird zum Kunstwerk. Das frühere Organum ist lediglich die Musik zu dem, was in der Notre-Dame-Handschrift zu einem Kunstwerk geformt wird. Die Degradierung des früheren zu Material des späteren Organums beruht oberflächlich gesehen auf der Annahme, daß das Organum der Magnus-liber-Handschrift von Leonin und daß Leonin eben der erste namhafte Komponist der abendländischen Musikgeschichte sei, der wie Prometheus gegen die Vorstellung der gottgeschaffenen Musik (Papst Gregor) aufbegehrt und seine Gestalten aus dem Lehmklumpen Musik formt.

Die Vorstellung, daß Leonin das Magnus liber organi geschaffen habe und daß der Organumtraktat im Unterschied zur Handschrift Florenz eben kein Magnus liber sei, scheint dem Autor dieser Studie so selbstverständlich gewesen zu sein, daß er sie nicht zur Diskussion gestellt hat.

Dabei gibt es eine ganze Reihe guter Gründe, die diese einfache Zuordnung in Frage stellen:

Zunächst träumen Forscher bis heute von einer Handschrift, die das Magnus liber Leonins in unbearbeiteter Form überliefert. Sowohl die früheste Datierung der drei erhaltenen Exemplare wie ihre Form zeigen, daß mindestens Perotin sie bearbeitet hat.

Anonymus 4 schreibt nicht nur dies in seinem Musiktraktat, sondern er fügt hinzu, daß Perotins Bearbeitung das Magnus liber verkürzt habe. Perotin habe es hierdurch verbessert, aber der Subtilität eines Organums vermochte er nichts hinzuzufügen, denn Leonin sei eben der beste Organumsänger. Anonymus 4 versuchte beiden Kantoren gerecht zu werden, indem er eine Verbesserung in der Neugestaltung der Form durch Perotins Diskantstil erblickte, Leonin dagegen in der älteren Kunst des Organums für unübertroffen hielt.

Fritz Reckow hat beide Formprinzipien mit processus und structura genauer zu bestimmen versucht und structura mit den neuen Kompositionstechniken identifiziert, deren Auswirkungen bis in das 14. Jahrhundert reichen. Diese Neuerung liegt nicht nur im Übergang zur Mensuralmusik, der mit der Entwicklung der sechs rhythmischen Modi eingesetzt hat, sondern vor allem in neuen Kompositionstechniken (Isorhythmie) und Liedgattungen (Motette und die spätere Chanson), die aus der rhythmischen Klausel entstanden sind. Die vormodalen Mittel, eine Klausel zu bilden, sind bereits im Vergleich des Vatikanischen Organumtraktats mit der Diskantlehre des Anonymus 2 analysiert worden. Der Organumtraktat ist nach dem Magnus liber, das in Leonins Form nicht erhalten ist, die wichtigste Quelle für den Stil Leonins, weil er das rhythmische System der sechs Modi nicht kennt.

Der Unterschied liegt daher nicht so sehr zwischen Leonins Kunst und seinem Material, sondern zwischen Perotins bearbeiteter Form und dem Stil des Organum purum. Es ist der Stil Leonins, auch wenn die Organa des Organumtraktats wohl zu Leonins Zeit, aber vielleicht von einem anderen Pariser Kantor, niedergeschrieben wurden und der Traktat nur eine späte Kopie ist, deren Schrift in einer östlichen Region Frankreichs lokalisiert und auf das 13. Jahrhundert – etwas früher als die erhaltenen Notre-Dame-Handschriften – datiert wurde.

Das Organum purum über das Responsorium Petre amas me aus dem Organumtraktat interessiert in diesem Zusammenhang als Organum purum und nicht als Werk Leonins.

Der Vergleich der beiden Pariser Organa an der Stelle bei Symon aber weist gerade auf den markanten Unterschied zwischen Diskant und Organum, zwischen modalrhythmischer und vormodaler Notation und zwischen structura und processus. Abgesehen davon, daß im Organum purum die formale Ausdehnung an der gleichen Stelle entsteht, wo das Organum von Saint Maur einen Tropus (Aliudfassung) oder einen freien Organumsatz einfügt, ist der Vergleich dieser Stelle zwischen Organum purum und dem Organum duplum von Notre-Dame irreführend. Denn einen Kontrast zwischen structura und processus gibt es nur dank Perotins Bearbeitung im Organum duplum, während das Organum purum des Organumtraktats nur den zwischen vormodalen Diskant und Organum kennt.

Eine Analyse, die beiden Stilen gerecht werden will, muß notwendigerweise ihre Form in möglichst vielen Details vergleichen. Nur dann kann sie zeigen, mit welch unterschiedlichen, aber kunstvollen Mitteln in jedem Stil Formen geschaffen werden.

Das formale Problem, das in beiden Organa gelöst werden muß, besteht im Unterschied zum früheren Organum von Saint Maur darin, daß die Neumen des Cantus, ihre Akzente, ihre Verzierung und ihre Agogik außer Kraft gesetzt sind. Gleiches geschieht mit der Sprache: Ihre Silben werden derart gedehnt, daß sie mit ihrer Bedeutung nicht mehr an das Bewußtsein herantreten können, sondern nur noch phonetisch wahrgenommen werden. Übergangsweise als Geräusch (Plosive, Rausch- und Zischlaute), als verzierte Plica (Spreizung oder Verengung von Formanten) und meist als melodische Verschiebung von Vokalen (Formanten). Dennoch bildet die Struktur der Sprache weiterhin das Vehikel für die Form des Organums. Ein architektonisches Problem besteht auch auf der Ebene der Tonart und der Tonalität: Mit der Ausdehnung jedes einzelnen Tones verliert die Tonart eines Chorals an Gravitationswirkung. Neben dem Gravitationszentrum der finalis steigt jeder Tenorton zu einem Trabanten auf und entfaltet Gegenkräfte, die die Wirkung der Tonalität mehr oder weniger in einen schwebenden Zustand bringen oder sogar überwinden kann. Auf die Kommunikation zwischen Organum und Tenor hat das großen Einfluß, denn beide können ihre Orientierung am zu folgenden Cantus verlieren. Zu einer Gestaltung des Organums im Formdenken von processus gehört der bewußte Umgang mit diesen Mitteln – ganz unabhängig davon, ob sie komponiert oder improvisiert ist.

Das Verhältnis zwischen zweiten und dritten Teil des Vatikanischen Organumtraktats ergibt außerdem, daß die 343 Beispiele des zweiten Teils nicht als Formeln behandelt werden. Es geht nicht darum, zu jedem Klangschritt im Tenor eines der passenden Beispiele einfach einzusetzen. Die Analyse der Beispiele hat gezeigt, daß das Organum manchmal bestimmte Tenortöne wie eine finalis behandelt und daß einige dieser Beispiele nur zu Scharnierstellen des Organums passen. Vielmehr zeigen die Organa weitere Beispiele und ihre Anwendung im Kontext der Form eines Cantus. Auf diese Weise lehrt der Traktat keinen mechanischen, sondern einen bewußten Umgang mit den Beispielen.

Hiermit wäre zunächst die Gliederung des Cantus durch die Gerüstklänge, die Satztechnik einzelner Abschnitte, ihr Abschluß und ihre Eröffnung durch besondere Verzierungen angesprochen. Ich habe diese Ebene zuvor als Makroebene bezeichnet.

Die Mikroebene läßt sich sowohl am Faksimile wie an einer analytischen Reduktion einsehen, bei der die weißen Noten die bezeichnen, die hervorgehoben werden, die schwarzen hingegen die Grenznoten eines Melismas. Zu jedem Organum kann ein Fenster geöffnet werden, in dem das Originalnotenbild und die Interpretation der Reduktion gleichzeitig betrachtet werden können. Es öffnet sich jeweils ein Fenster für:

Ich empfehle, zu dem jeweiligen Fenster zu wechseln, um die Details der einzelnen Organa nachzuvollziehen.

Zurück zur Makroebene der Gerüstklänge: Diese Ebene zeigt bei beiden Organa eine Komposition punctum contra punctum, die nach den Regeln des Mailänder Traktats geschaffen sein könnte. Die ersten vier Regeln des Traktates werden so angewendet, daß das Responsorium entsprechend der distinctiones des Textes gegliedert wird. Die Gliederungsstriche verdeutlichen die Gestaltung bestimmter Abschnitte als Klauseln, wenn sie mit dem Zusatz copula verbunden sind, oder den Neueinsatz von beiden Stimmen nach dem Strich. So ergibt sich aus dem fünften modus organizandi neben der Perfektion der Klänge eine zweite Gliederungsebene: Wenn der perfekte Klang erreicht ist, können beide Stimmen entweder zusammen verklingen oder das Organum pausiert über einem ausgehaltenen Tenorton und setzt neu ein, um zum nächsten Gerüstklang zu modulieren, der auch eine Quinte oder Quarte bildet. Terzen und Sexten kommen in beiden Organa nur selten als imperfekte Durchgangsklänge vor.

Kleinere Abweichungen in der Gliederung ergeben sich aus dem häufigeren Gebrauch der Klauseln im Organum duplum. In der Organumstimme des Notre-Dame-Organums werden Sprünge zwischen den Gerüstklängen vermieden, die über eine Quarte hinausgehen – Quinten sind die Ausnahme –, im Organum purum des Traktats muß das Organum bis zu einer None springen: in der Doxologie an der Stelle filio. Das wirft ein anderes Licht auf die ausgedehnteren Melismen des Organum purum, deren Ausdehnung Schick auf ihre "Ziellosigkeit" zurückführte. Für "ziellos" hält er vor allem das "Halten" von Tönen, welches in den Melismen vieler Beispiele aus De regulis organi praktiziert wird: Das Melisma führt zum Ausgangston zurück und verleiht ihm ein besonderes Gewicht, zeigt aber keine Richtung im Sinne einer Modulation. Gerade diese Technik kennzeichnet den Umgang mit Tonalität im Organum. Der "gehaltene Ton" oder "Klang" prägt ein Gravitationszentrum aus, und sei es nur, um eine Modulation als Verlagerung des Zentrums  vorzubereiten. Aus dieser Verlagerung wird aber erst die Überlagerung möglich, sowohl jenes Spiel mit nachträglichen Modulationen, wo das Organum sich erst nach dem Wechsel des Haltetons auf den neuen Halteton einstimmt wie im Benedicamus domino aus Saint Martial, wie die Vorbereitung des folgenden Haltetones durch das "Halten" des Klanges, der eine Quinte zum nächsten Halteton bildet.

Das Spiel mit Tonalität hängt mit der Gliederung in distinctiones durch principium ante principium (Anfang), copula mit cauda oder paenultima-Verzierungen (Ende) zusammen, die Makrostruktur bildet hierfür den Rahmen.

Die intonatio im Organum duplum erfährt allein durch den abweichenden Anfang des Responsoriums eine andere Gestaltung, die auch jeden Kantor aufhorchen läßt, der mit der Organumtradition von Notre-Dame vertraut ist. Der D-Klang ist am Anfang des Responsoriums viel stärker, weil die distinctio über Petre nicht von F nach D, sondern von D nach D verläuft. Der Choral in der Notre-Dame-Fassung intoniert daher nach dem zweiten Modus und erst in der zweiten Hälfte zum vierten. Das Organum verstärkt diesen Effekt, indem es zum zweiten Ton E auf der diskordanten Quinte h mündet – anders als in Saint Maur (Einklang) und das Organum purum (Oktave). Aber nur bis dahin, denn danach setzt das Organum direkt auf der Oktave zu E ein und verziert sie.

Das Faksimile von F zeigt, daß das Organum am Anfang zweimal hintereinander mit einem principium ante principium nach d beginnt, das zweite Mal in der Ligaturenschreibweise, die Anonymus 4 in seinem Traktat erwähnt. Das d wird hierdurch "gehalten". Die Verzierung auf e nach dem ersten Silbenwechsel, in der Quadratnotation durch Tonwiederholung und currentes wiedergegeben, macht das e zu einem weiteren „Anfang vor dem Anfang“.

Nach dem Mailänder Organumtraktat wäre diese Verschiebung des Anfangs eine Anwendung des vierten modus organizandi - durch zwei Oktaven der ersten beiden Gerüstklänge, aber im Haltetonorganum ist diese formale Funktion mit der Verzierung des principium ante principium verbunden. Sie bezieht die Tonalität mit ein, denn im vierten Modus ist E Hauptklang und D Gegenklang.

Dieser außergewöhnliche Anfang des Organum duplum wird zu Beginn des Soloverses bei Symon wiederholt: Auch hier setzt das Organum zweimal hintereinander mit einem principium ante principium ein, beidesmal nach e zum Halteton a. Das diskordante f, das folgt, wird genauso verziert wie e in der Intonation Petre, aber hier führen die currentes in den Einklang zu a. Auch dieser Anfang hat eine Bedeutung für die Gestaltung der principia in diesem Organum: Denn genau die gleiche Verzierung auf f, diesmal in der Oktave zum Halteton, eröffnet die Antwort des Petrus bei Tu scis. Die schlichtere Form des principium ante principium nach e kehrt dagegen bei quia wieder, doch in der Oktave zum Tenor. Das folgende Ordo, das nach f moduliert, ist übrigens fast identisch mit dem Silbenwechsel plus his, wo für plus eine Plica eingeschoben wurde. Der nachfolgende Schluß zur Oktave E-e ist ebenfalls formelhaft und wiederholt sich am Ende des Verses. Eine andere Formel verbunden mit der Rezitation auf G, die einer ligierten Form eines principium ante principium zumindest ähnlich sieht, findet sich jeweils am Anfang von iohannis und diligis und als Schlußformel bei me, um die Oktave über F zu bilden.

Diese Kopplung unterschiedlicher Formen der Verzierung principium ante principium geht in beiden Teilen des Organums vom Changieren zwischen zweiten und viertem Modus aus. Die rezitierten Formeln auf F, die ich in der Analyse des Responsoriums als x bezeichnet habe, sind zwar bei Responsorien im vierten Modus üblich, haben aber eine deutliche Affinität zum zweiten Modus und seiner finalis D. So wechseln die principia im ersten Teil zwischen D und E, im zweiten zwischen E und F. Die Gewichtung des F-Klanges wird aber bereits im ersten Teil vorbereitet. Die zweite copula über amas wird eingeleitet durch einen Organumabschnitt über den Halteton F, in dem das Organum vom Einklang in die Oktave emporsteigt. Dieses Hochsteigen in die Oktave mit einer plica longa auf der Quinte ist eine typische Schlußformel, wenn der Choral auf F enden würde und das Organum am Schluß eine Oktave bildet. Stattdessen steigt es wieder um eine Septime herab auf die Sekunde G und öffnet das Organum zur folgenden rhythmischen Klausel. Die gleiche Stelle ist im Organum purum sehr ähnlich gestaltet: Das Organum setzt auf der Quinte c ein, geht in die Oktave f und fällt in den Einklang, der offenbar als flos harmonicus verziert wird und eine langsamere Schwebung erzeugt als G, das in beiden Organa in den Quintklang D-a überleitet. Hier ist das Organum purum länger ausgestaltet, das Organum duplum aber durch Formeln verkürzt.

Der Kunstgriff mit der Anfangsverzierung ist einmalig, denn der zahlreiche Einsatz der Verzierung principium ante principium, auch innerhalb des Soloverses ist bei Organa des Magnus liber selten, im Unterschied zu den Organa des Vatikanischen Organumtraktats. Noch ungewöhnlicher aber sind die Aneinanderreihung und die formalen Bezüge zwischen den Teilen, die aus ihr heraus gestaltet sind. Hier wird mit einem kompositorischen Kalkül gestaltet, das dem Formprinzip structura näher ist als processus.

In der Darstellung der Kangfortschreitungen sind alle Stellen, wo das Organum mit einem principium ante principium beginnt, durch "p.a.p." gekennzeichnet. Im Organum purum taucht diese Verzierung sehr gehäuft auf, wo im Solovers des Responsoriums auf F rezitiert wird. F ist im vierten Modus (e-plagal) ein dissonanter paenultima-Klang, aber als Rezitationston ist F nur im Reponsorium üblich, sonst wird für gewöhnlich auf G rezitiert. So enden die distinctiones bei diligis me, und die mit x bezeichneten Rezitationen von tu scis, domine, quia alle auf F, benutzen aber E für die Akzente. Da am Ende einer distinctio für gewöhnlich eine Konkordanz – Oktave oder Einklang – steht und in dem Vers auf jede Klausel verzichtet wird, muß der F-Klang in dem Organum ein sehr starkes tonales Zentrum bilden. So wird er am Anfang von Petrus‘ Antwort, nach dem stärksten Texteinschnitt des Verses, das principium ante principium nur auf der Diskordanz F-c gebildet. Die vier principia um diese Stelle herum liegen dagegen auf der Oktave über E. Gegenüber dem ausgeklügelten Verzierungen im Organum duplum scheint das eine schlichte Lösung des gleichen Problems im Sinne eines processus im Organum purum zu sein. Denn processus bedeutet nicht so sehr die Wiederholung einer gezielt für die Gestaltung aller Scharnierstellen vorbereiteten Struktur, die voraussetzt, daß der Organumsänger das Gebäude der Klangfortschreitungen überschaut wie ein planender Architekt, sondern vielmehr die momentgebundene Form, in der das Organum sich dem Spiel der Kräfte aussetzt, ohne die tonale Orientierung zur finalis des Responsoriums zu verlieren. Dabei gibt es durchaus die Möglichkeit, sie über bestimmte Abschnitte hinweg aufzugeben – aber mit Bewußtsein für die nächste Stelle, an der sie wiedergefunden wird.

Dieses Kräftespiel wird erst bei einer genaueren Betrachtung der Mikrostruktur der Melismen erkennbar. Das Organum purum am Anfang der zweiten Hälfte des Soloverses, bei dem principium ante principium zur Quinte F-c über Tu scis, würde normalerweise ein b rotundum erfordern. B rotundum ist aber erst ab dem nächsten Ordo vorgezeichnet, so daß das Organum nicht im hexachordum molle auf F ist, sondern mit c vom hexachordum durum auf G zum hexachordum naturale auf c mutiert. Das Melisma des ersten Ordo umspielt daher c und wechselt erst nach dem durchgehenden Ordostrich in den hexachordum molle, wo c immer noch gehalten wird, aber das Organum über b rotundum zum a des nächsten Klanges moduliert, der bei dem Silbenwechsel zu scis erreicht wird. Also wird der Anfang der distinctio, das F von Tu, nicht nur mit der diskordanteren Quinte unter den symphoniae eröffnet. Der Tritonus h quadratum erklingt am Anfang des folgenden Ordo an offener Stelle und behandelt das F als Gegenklang der Tonart. Die Mutation der Hexachorde über den Halteton F ist nämlich die gleiche wie über dem Klangschritt E-F im Tenor bei domine, nachdem scis auf dem Einklang F geschlossen wurde. An dieser Stelle beginnt das Organum mit einem principium ante principium zur konkordanten Oktave E-e, hält e und moduliert nach c, bleibt bis dahin im hexachordum naturale und wechselt über den Halteton F in den hexachordum molle und beendet den Abschnitt im F-Klang. Das Gleiche wiederholt sich über quia, bis der Abschnitt b‘ amo te erreicht ist, der genau wie der Schluß plus his klar im E-Klang steht. Der Grund, warum beide Abschnitte mit einem principium ante principium zu der Oktave E-e beginnen, in der sie auch enden, ist wohl, daß sie einen Rahmen um die Rezitation auf F setzen.

Das Bild vom planenden Architekt, der sein Gebäude von außen oder auf einem Plan überschaut, habe ich in Anlehnung an die Vorstellung von Räumen in der Gedächtniskunst gewählt. Da die Gedächtniskunst im Mittelalter vor allem als mystische Praxis zu betrachten ist, geht sie eher vom Durchschreiten und unmittelbaren Erleben der Räume in der Erinnerung aus, nicht so sehr vom Überschauen. Die beiden Organa, die hier verglichen werde, sind schon alleine dadurch geplant und überschaut, daß sie niedergeschrieben wurden. Werden diese Handschriften wie Noten benutzt, sind alle Entscheidungen im Organum purum, die ich mit meiner Analyse rekonstruiert habe, bereits gefallen. Aber genau das scheint ein Mißbrauch dessen zu sein, was der Organumtraktat eigentlich lehren will. Wird das Geschriebene als verbindlich angesehen, genommen als das, was ein erfahrener Kantor einem anderen so-und-nicht-anders vorschreibt, verliert der ganze Organumtraktat seinen Sinn – ganz so wie es keinen Sinn hätte, von John Coltrane zu lernen, indem seine Improvisationen von Platte transkribiert und Ton für Ton nachgespielt würden. Im Kontext des Traktats erfüllen alle drei Organa die Funktion, als Beispiele zu veranschaulichen, wie ein erfahrener Kantor bestimmte Entscheidungen treffen würde. Sie stehen nicht da als die einzig mögliche Lösung. Wozu sonst eine solche Anhäufung von Beispielen? Vielmehr geht es darum, den Kontext zu studieren, in dem Entscheidungen getroffen werden und zugleich andere Möglichkeiten zu zeigen. Aus dieser Funktion heraus sind durchaus kunstvolle Improvisationen in Schrift "eingefroren" worden. Anders als das Magnus liber organi besteht der Sinn dieser Organa nicht darin, daß sie memoriert und eingeübt werden, sondern sie erläutern und vermitteln die Kunst, ein Organum in seiner Makroebene zu komponieren und in seiner Mikroebene zu improvisieren. Diese Trennung zwischen Makro- und Mikroebene beruht auf der Aufteilung, die im Traktat zwischen dem zweiten und dem dritten Teil besteht. Aber es steht außer Frage, daß große Erfahrung in der Improvisation einem Kantor auch die Freiheit gibt, auch dieses Grundgerüst durch spontane Entscheidungen umzugestalten. Die praktische Arbeit, zu der meine Lesart auffordert – und diese Lesart scheint auch der Autor dieses Traktats bei den Kantoren intendiert zu haben, für die er ihn verfaßt hat –, zeigte mir, daß vieles, was auf dem Papier sehr einfach aussieht, in Wirklichkeit nicht so einfach ist. Aber diese Erfahrung konfrontierte mich erst mit den Gravitationskräften der Tonalität und gab mir neue Einsichten in die Funktion von Melismen, die auf ersten Blick vielleicht ziel-, wenn nicht sogar kunstlos scheinen. Doch davon mehr im letzten Kapitel, in dem auch einige unserer Fehler dokumentiert sind. Dieser Unterschied zwischen Theorie und Praxis verdeutlicht auch die Gegenwärtigkeit, die die- oder derjenige in einem Raum des Gedächtnisgebäudes empfindet, durch das uns der Faden des Gedächtnisses wie durch ein Labyrinth leitet, gegenüber der Allgegenwärtigkeit des Überschauens.

Zum Denken in processus gehört auch das Zelebrieren des So-und-auch-anders, das sich in der Improvisation durch die Wiederholung der zweiten Periode mit dem Gloria einstellt. Im und liegt aber zugleich die Einschränkung und Zuspitzung dieses Denkens.

Das Gloria, das einem Responsorium mit Organum für gewöhnlich folgt – hierzu das vierte Kapitel über die Petrusliturgie –, ist bei den Responsorien im Magnus liber organi und bei den zwei Responsorien am Ende des Vatikanischen Organumtraktats mit einem Organum versehen.

In beiden Fällen folgt der Bau des Cantus für diesen Vers dem Solovers des Responsoriums. Im Vatikanischen Organum wieder mit einer interessanten Abweichung, die wiederum mit der F-Rezitation zusammenhängt. Der E-Schluß wird auf dem vorletzten Wort spiritui gebildet und zwar ähnlicher dem Schluß des ersten Neuma aus Saint Maur als dem Abschnitt b‘ von amo te. Beim letzten Wort sanctoaber endet der Cantus klar auf D. Dieser überraschende Schluß, der eigentlich besser zur Notre-Dame-Fassung des Responsoriums paßt, das auch auf D beginnt, hat Folgen für die Gesamtform. Folgt nochmals der Repetendumteil, läßt er nochmals einen D-Schluß folgen und wendet sich schließlich wieder zur finalis E. Aber dieser offene Schluß ist bei der zweiten und ersten Periode durchaus üblich, denn immer wird ein Responsorium durch den Repetendumteil geschlossen. Im Organumtraktat gehört dies aber schon zum rhetorischen Konzept der variatio, das ich mit Kadens Wort So-und-auch-anders umschrieben habe.

Bei der Gestaltung des Organums über das Gloria sind im Organum duplum die Klauseln und die Formeln an den gleichen Stelle wie im analog gebauten Vers des Responsoriums. Die ersten drei Ordines sind wie bei Symon ein langes "Halten" des e-Klanges. Auch der Silbenwechsel zu Gloria könnte als ein ausgeschriebenes principium ante principium zu d gelesen wird. Hier zeigt sich die grundsätzliche Verwandtschaft dieses Ornaments zu allen paenultima-Verzierungen. Diese Verschiebung bewirkt, daß die Klausel im Vergleich zum Vers einen Tenorton früher beginnt. Bestimmte Formeln treten in neuen Kombinationen auf. Die Formel für den Anfang bei Tu scis erscheint nicht nur an der analogen Stelle bei et spiritui, sondern schon bei et filio, und zwar kombiniert mit der Anfangsformel der Rezitation auf G bei der analogen Stelle diligis me. Dieser Umgang mit den Formeln als syntaktische Bausteine erscheint konsequent, denn et filio ist die parallele Stelle zu plus his, beginnt aber aufgrund der Prosodie des Textes, die hier keinen Akzent vorsieht, mit F statt mit E.

Die Ordnung, in der die im Vers ausgeprägten Formeln abgerufen werden, haben viel mit mündlicher Komposition zu tun. Sie wirken wie loci, mit denen bestimmte Formteile markiert sind. Aber hier arbeitet das Gedächtnis für die Erinnerung eines einstudierten Organums.

Es gibt gegenüber dem Vers eine varietas im Organum duplum. Die Entwicklung der Klausel am Ende führt zu einer Verdichtung, denn der Abschnitt b‘ wird komplett als modale Diskantklausel gesetzt und entsprechend der Satztechnik von Notre-Dame wiederholt, wobei die letzten beiden Töne bei der Wiederholung eine cauda bilden. Die Ordo-Aufteilung bei der Wiederholung ergibt sich aus der Konvention der cauda als Abschluß einer modalen Klausel, die den phrygischen Schluß F-E benutzt, die restlichen zwölf Tenortöne werden in drei Ordines gegliedert. Dieser Disposition entspricht der Aufbau des Vorderteils symmetrisch, indem er die Gliederung umdreht. Es gibt auch Notre-Dame-Klauseln, die die symmetrische Konstruktion noch weiter getrieben hätten, indem sie den Tenor in der ersten Hälfte krebsförmig durchlaufen wären. Dem Bearbeiter des Organums, der diese Klausel einfügte, scheint der Schluß des Responsoriums wichtiger gewesen zu sein, bei dem die letzten drei Töne des Cantus die Schlußsilbe tragen. So beginnt er den letzten Ordo der ersten Hälfte mit der imperfekten Terz F-a. Nach dem Silbenwechsel folgt der Einklang G, eine stärkere Konsonanz als die diskordante Quinte E-h am Ende des Ordos, die den ersten Teil der Klausel zum zweiten Teil hin öffnet.

Die Verdichtung durch Diskantabschnitte ist bereits schon das Prinzip des früheren Organum purum gewesen. Während der Vers der Teil des Organum gewesen ist, der im besten Sinne "reines" Organum ist, wurde an ähnlichen Stellen wie im Organum duplum eine copula mit cauda eingesetzt. Die zweite setzt schon auf spiritui ein, aber dies entspricht dem Abschnitt b‘. Nach der zweiten Tenornote bricht die Organumstimme ab. Der Schreiber hat sie nicht vollendet, aber der Tenor ist so geschrieben, als sollte die copula bis zum Schluß auf D weitergeführt werden.

Obwohl in beiden Organa ein völlig anderes Formdenken gestaltet, haben sie so viele Gemeinsamkeiten, daß die Musik beider Quellen an einen Ort lokalisiert und die Unterschiede zwischen beiden Organa als Entwicklung einer Tradition betrachtet werden kann. Nur daß diese Entwicklung nicht linear verläuft, sondern sich von Formen der Improvisation zu Formen der Komposition bewegt, die die Praxis der Wiederholung durch das Gloria für die Gestaltung einer geschlossenen Form und ihrer Bezüge, structura, benutzt.

Daß der Komponist des Organum duplum eine dem Organum purum des Vatikanischen Traktats ähnliche Fassung gekannt haben muß, geht aus vielen Ähnlichkeiten und Detailbezügen hervor. Abschließend sei noch einer genannt: Die Form des Melismas über iohannis im Organum purum ersetzt der Komponist im Organum duplum durch genannte Formeln, bei der Wiederholung dieses Abschnitts im Gloria taucht sie aber als Variation auf – in dem Organum über patri.

Vieles spricht für Schicks These, daß das Organum purum zum Material des Organum duplum geworden ist. Aber alles, was diese These erhärtet, würde auch dafür sprechen, daß das Responsorium Petre amas me im Vatikanischen Organumtraktat mit dem unbearbeiteten Magnus liber organi Leonins zumindest eng zusammenhängt, wenn es nicht sogar identisch ist - das andere, angeblich kunstlose.

Unter der Oberfläche erweist sich Schicks Dichotomie von Musik und Kunstwerk als Dichotomie zwischen Improvisation und Komposition. So entdeckt er das Kunstlose in der Länge und Ziellosigkeit des früheren Organums. Auch wenn wir nicht wissen, wo Perotins Bearbeitung einsetzt oder aufhört, so charakterisierte Anonymus 4 gerade Perotins Eingriff in Leonins Magnus liber als Kürzung und die Quellen sprechen dafür, daß improvisierte – neben "mündlich komponierten" – Formen die Kunst des Organum purum ausmachen. Darüberhinaus gibt es keine Grundlage für die Beantwortung der Frage, ob Leonins niedergeschriebene Organumkunst mehr in der Komposition oder in der Improvisation anzusiedeln ist, solange keine Magnus-liber-Handschrift gefunden wird, deren Notation frei von Spuren modaler Gruppierung ist.

Was bedeutete Leonins Magnus liber gegenüber dem Organum purum als ars organi, die die "mündliche Komposition" des Mailänder Traktats ebenso umfaßte wie die Kunst der Improvisation als digressio innerhalb dieser Komposition? Die Erwähnung von Leonins Magnus liber bei Anonymus 4 ist bislang der einzige Hinweis auf die erste systematische Sammlung von Organa französischer Tradition, die im Umfang dem Winchester Tropar vergleichbar wäre und die ein in der ars organi bewanderter Kantor geschrieben hat.

Die Sammlung der Organa im dritten Teil des Organumtraktats ist dagegen etwas anderes. Diese Organa veranschaulichen das Handwerk und stehen nicht auf dem Folio als unberührbare Kunstwerke. Die fragmentarisch gebliebene Organumstimme über dem offenen D-Schluß überläßt es dem lernenden Kantor, es zu vollenden. Doch wer will behaupten, daß die hier exponierten Beispiele der ars organi nicht von einem so hervorragenden Kantor wie Leonin sein können?