Die Akustik der Klöster des 12. Jahrhunderts als Quelle

Die Klöster als Baudenkmäler des 12. Jahrhunderts sind eine Quelle besonderer Art. Ihre Architektur ist nicht nur das Vorbild für die räumlichen Vorstellungen der Gedächtniskunst, sie liefert auch das Grundgerüst für die räumlichen Stationen der Prozessionen. Darüber hinaus ist ihr Akustik so erstaunlich, daß sie als Lautsprecher der Gebete konzipiert zu sein scheinen. Dieser Teil läßt sich nur durch praktische Experimente erforschen. Ein Kantor, der Jahrzehnte in einem Kloster gewirkt hat, kannte die Räume genau, die den Klang seiner Stimme verkörperten.

Gegen den Kathedralismus im Bild von der Notre-Dame-Epoche, der in der Forschung zum Allgemeinplatz geworden ist, habe ich einiges einzuwenden. Natürlich denken wir heute bei Notre-Dame de Paris an die Kathedrale. Aber ein Kantor braucht sehr viel Kraft, wenn er einen solchen Raum füllen möchte und die neue Konstruktion der Gewölbe fängt eher den Schall als das sie ihn ausbreitet.

Der frühe Organumstil, um den es in dieser Arbeit geht, hat sich im 12. Jahrhundert entwickelt, zu einer Zeit, als romanische Baukunst noch sehr moderne Formen entwickelte. Die von mir ausgewählten Abteien, Montmajour und du Thoronet, sind wohl beide nach Mitte des 12. Jahrhunderts entstanden und zählen heute zu den bedeutenden Baudenkmälern, die eben nicht nur Baukunst, sondern auch einen Klangraum überliefern, der den feinen solistischen Stil des Organum purum entspricht.

Die Abteien Montmajour und du Thoronet

Die französische Abtei, die ich für meine Arbeit als Quelle ausgewählt habe, liegt nordöstlich von Arles an der Straße nach Fontvieille und Les Baux-de-Provence. Die Abteikirche wurde im 12. Jahrhundert erbaut und ihr Schiff ist aufgrund einer finanziellen Krise nicht zur geplanten Länge ausgebaut worden.

Das Kloster ist wohl im 10. Jahrhundert entstanden. Der Felsen, der Montmajour genannt wird, ragt aus einem Moorgebiet und wurde nach dem Testament von Teucinde 977 Besitz des Klosters, das seine Gemeinde nach der Regel Benedikts führte. Teucinde gilt als die Stifterin der Abtei, da sie das Grundstück am 7. Oktober 949 erwarb und es am 10. Oktober dem Kloster übergab. Bereits 963 hatte Papst Leo VIII die Mönche, die keinem Orden angehörten, unter seine direkte Herrschaft gestellt und den Apostel Petrus zum Schutzpatron ernannt. 970 stiftete Lambert der Gemeinde Land zur Bewirtschaftung, das später im 12. Jahrhundert zu ausgedehnten Ländereien angewachsen war.

Vom 11. bis 15. Jahrhundert war die Abtei und ihre Ländereien Zankapfel zwischen Tarascon, dem Erbischof von Arles, dem Kapitel Saint-Trophime, den Templern, der Familie des Baux und der Abtei Saint-Césaire. Entsprechend diesen Interessen gibt es mehrere Legenden über die Entstehung einer monastischen Gemeinde auf dem Felsen Montmajour:

Die Version von Saint-Trophime erzählt, daß 46 n. Chr. der Heilige Trophime von Petrus abgesandt wurde, die Gallier zu christianisieren, und sich für einen Teil seines Lebens mit einigen Schülern in einer Grotte lebte, um sich dem Gebet und der Buße zu widmen. Dieser Legende zufolge heißt die in die Flanke des Felsens Montmajour hineingebaute Kapelle confessionale Sancti Trophimi.

Eine andere Legende datiert den Beginn in das 6. Jahrhundert und berichtet von einer Jagd des Königs Childebert I, Sohn von Clovis, der beim Überqueren des Sumpfes auf dem Felsen auf eine Gruppe von Einsiedlern trifft, die nach der Regel des Heiligen Césaire lebten. Ihre Frömmigkeit soll Childebert so beeindruckt haben, daß er für sie eine Kirche auf dem Felsen errichten ließ.

Wieder eine andere Legende erzählt eine chanson de geste über Karl den Großen und die Kämpfe mit den Sarazenen im 8. Jahrhundert. Der Felsen sei der Ort, wo die Christen begraben wurden, die im Kampf mit den Sarazenen gefallen waren. Archäologen halten diese Version für eine ideologische Umdeutung. Denn die ältesten Gräber um Fontvieille datieren auf das dritte Jahrtausend v. Chr. und die Felsen waren ganz allgemein die einzigen Orte, zu dem das Wasser des Sümpfe nicht aufstieg. Bei den Gräbern aber, deren Nischen in den Felsen von Montmajour erhalten sind, sind die frühesten aus dem 11. Jahrhundert. Die Ruhestätten der früheren Bewohner, die den Überfällen der Sarazener und der Normannen zum Opfer fielen, entstanden im 9. und frühen 10. Jahrhundert, als das Frankenreich zerfiel. Diese heiligen Orte wurden möglicherweise die Wohnstätten von Einsiedlern, wo sie ihre Toten begruben und für die Lebenden beteten. Wahrscheinlich war auch die Insel Montmajour eine solche Stätte, als sie zu dem Besitz des Erzbistums Saint-Trophime gehörte und 949 von der adeligen Arlesierin Teucinde für die Gemeinde erworben wurde.

Von der heute erhaltenen Anlage der Abtei ist der älteste Teil eine in die Ostflanke des Felsens hineingebaute Einsiedelei, zu der eine Kapelle gehört, die dem Heiligen Petrus geweiht ist. Sie stammt aus dem 11. Jahrhundert und ihr Pforte trägt ein Relief mit dem "Schlüsselträger" Petrus. 1030 wurde in der Krypta der Abteikirche eine Reliquie aus dem "Heiligen Kreuz" eingesegnet, die Montmajour für das Fest inventio sancte crucis (3. Mai) zu einem Wallfahrtsort machte.

Der Bau einer capella sancte crucis im 12. Jahrhundert in einiger Entfernung zur Abtei zeigt, daß der Strom der Pilger für die Auslagerung der Reliquie und die Prozession groß genug war. Die neue Abteikirche, die in der Mitte des Jahrhunderts erbaut wurde, war auf dem massiven Fundament ihres Unterbaus errichtet worden. Der Unterbau, eine Krypta, die nun nicht mehr die Reliquie bewahrte und dem Heiligen Benedikt geweiht wurde, ist ein besonderes Denkmal für die Architektur des 12. Jahrhunderts. Ihr massive Konstruktion ruht auf einem ansteigenden Felsen, der wie eine Rampe zu der Westfassade der Kirche aufsteigt. Das Zentrum dieser Sakristei bildet eine runde Apsis, die von einer runden Mauer umgeben ist. Um diese Mauer führt ein Umgang, der sich nach außen zu fünf weiteren Apsiden öffnet, die für sich kleine Kapellen darstellen. Zwei weitere Seitenkapellen öffnen sich von einem Korridor aus, der den Unterbau eines Quergebäudes bildet.


Krypta Sancti Benedicti
Kupferstiche nach Entwürfen des Architekten Henry Révoil (Mitte 19. Jahrhundert)

Die Konstruktion der fünf Apsiden um eine Zentralapsis leitet das Licht der aufgehenden Sonne in die Zentralapsis, das je nach Sonnenstand durch die einzelnen Kapellen hindurchleuchtet. Deshalb wird die angenommen, daß sie der Ort gewesen ist, wo die Matutin oder Laude und die Morgenmesse zelebriert wurden. Sie funktioniert wie eine Sonnenuhr. Daß scheint auf die Liturgie einen Einfluß zu haben, denn schon die Benediktinerregel sieht für die Stundeneinteilung und die Länge der Gebete eine flexible Zeitregelung vor, die den wechselnden Sonnenständen entlang der Jahreszeiten angepaßt ist - die hohen Feste ausgenommen.

Daß Krypta und Abteikirche als eine Einheit konstruiert sind, beweist schon, daß das Zentrum der runden Apsis in der Mitte der Sakristei genau unter dem Mittelpunkt der Hauptapsis im oberen Stockwerk der Abteikirche liegt. Würde an diesem Punkt eine Stange vom Boden der Krypta bis in das Gewölbe der Hauptapsis der Kirche eingesetzt werden, verliefe sie genau durch den Mittelpunkt beider Apsiden.

Die Nordwand des Kreuzganges, der erst im 13. Jahrhundert erbaut wurde, hat drei Säulen, die andeuten, daß das Hauptschiff der Abteikirche sich nicht über zwei, sondern über fünf Joche hinter der Vierung erstrecken sollte. Sie wurde weder im 12. noch im 13. Jahrhundert fertiggestellt und auch die Vollendungspläne aus dem 18. Jahrhundert wurden nie ausgeführt.

Die andere Abtei, die Zisterzienserabtei du Thoronet, liegt auf einem Berg und bis heute führen zu ihr nur kleinere Straßen. Die Länge des Hauptschiffes der Abteikirche ist etwa so, wie Montmajour auch konzipiert war. Aus der unterschiedliche Länge ergeben sich unterschiedliche Hallzeiten.


Grundriß der Anlage der Abtei du Thoronet

Die Akustik der Abtei Saint-Pierre de  Montmajour

Die Kirche Montmajour bietet daher etwa den Raum, der für den Gottesdienst benötigt wurde. Es war üblich, im Hauptschiff hinter der Vierung die Chorstühle anzuordnen und Anweisungen in den Handschriften wie in choro cum organo bedeuteten, daß die Kantoren in die Apsis gingen, die so etwas wie ein akustischer Hohlspiegel ist:

Die Apsis der Abteikirche Notre-Dame de Montmajour

Wir haben Aufnahmen von der Apsis gemacht, indem wir den Punkt genau im Zentrum der Apsis gesucht haben. Dieser Punkt ist einfach zu hören, denn es gibt nur dort eine direkte Reflexion von der Rundwand der Apsis einen halben Meter daneben bereits nicht mehr. Von diesem Punkt aus in choro wurde in die Apsis hineingesungen.  Bei den ersten beiden Aufnahmen lag das Mikrofon ebenfalls in der Mitte, um diesen Höreindruck einzufangen.

Johannes singt im Zentrum der Apsis (Konsonanten, Halbvokale)

Johannes singt im Zentrum der Apsis (Obertöne)

Der Schall wird zweimal zeitversetzt gehört. Zuerst die direkte Reflexion der Rundwand ohne langen Nachhall, dann die Reflexion der Rückwand mit viel Hall.

Die folgende Aufnahme wurde am rechten Rand - ziemlich nahe an der Rundwand - aufgenommen und sollte einen Eindruck von der zu erwartenden Verzerrung geben.

Johannes singt im Zentrum der Apsis

Der Architekt Henry Révoil wurde in den vierziger Jahren des 19. Jahrunderts vom Innenminister beauftragt, das zum Teil zerstörte Kloster zu zeichnen und zu rekonstruieren. Von ihm sind die Kupferstiche, darunter auch ein Querschnitt durch Kirche und Krypta, der die Reflexionsflächen und die Proportionen zeigt:

Der Querschnitt schneidet genau durch den Scheitelpunkt des Spitztonnengewölbes.

In einiger Entfernung zur Abtei wurde eine Wahlfahrtskapelle errichtet, die Heiligkreuzkapelle genannt wird. Sie nach allen Seiten nahezu symmetrisch gebaut:


La chapelle Ste.-Croix

Eine Aufnahme der Akustik:

Jaspar und Oliver mit dem Anfang der Intonation des Responsorium Cornelius


Die Akustik der Abtei Notre-Dame du Thoronet

Aufnahme im Zentrum der Hauptapsis:

Johannes singt im Zentrum der Apsis

Etwas Besonderes an dieser halligen Akustik ist die Verstärkung der Untertöne. Bei dieser Aufnahme sangen Johannes und ich jeweils in der inneren Seitenapsis. Das Mikrofon wird im hinteren letzten Joch an der Westwand positioniert.

Johannes und Oliver singen in den inneren Seitenapsiden (Untertöne)