Erläuterung der Fachbegriffe

Antiphonar

Die Musikhandschrift für die Liturgie der Officien (Nokturn, Lauda, Stundengebete und Vesper). Da in diesen Gottesdiensten die meisten Psalmen rezitiert werden, gehören zu ihnen die musikalische Gattung der Antiphon und die Incipits der Psalmen und ihrer Formeln, aber vor allem auch das Responsorium und das Benedicamus domino und cantica. Die Evangelien, Epistel und Homilien, die hierzu gelesen werden, stehen im Brevier.

Affinitates vocum

Im Micrologus behandelt Guido d'Arezzo die Affinitäten der Intervalle, die auf ihrer Zusammensetzung im Tonsystem beruht. Der Mailänder Traktat Ad organum faciendum bezieht sich auf die aptae copulationes vocum aus Guidos Kapitel De diaphonia, wo das Parallelorganum (diaphonia dura) mit oktavierter Unterquarte behandelt wird, und bezeichnet die Affinität von Oktave und Einklang als conjuncta, die von Quinte und Quarte als disjuncta. Im ersten Teil des Vatikanischen Organumtraktats, ars organi, wird von den gleichen Affinitäten ausgegangen, die hier concordans und discordans genannt werden.

Brevier

Im Brevier oder Breviarium standen ursprünglich die Incipits aller Gesänge und Lesungen und rituellen Handlungen eines Gottesdienstes und gab damit einen Überblick über alle verwendeten Handschriften und wie zwischen ihnen gewechselt wurde - die Lesungen z.B. standen im Lectionar. Ab dem 11. Jahrhundert vereinigte es das Lectionar, bisweilen auch das Psalterium und das Antiphonar. In vielen stehen die Texte der Responsoria - manchmal auch mit kleingeschriebenen Neumen, die der Antiphone können auch nur Incipits sein.

Bei den Lesungen wird zwischen Evangelium, Epistel, Oratio und Homilia unterschieden. Ihre Rezitation wird durch eine eigene Notation wiedergegeben, die sich auf Interpunktionszeichen (positurae) beschränkt und die auch nach der Entwicklung der Neumen beibehalten wurde.

Cauda

Als cauda (lat. Schwanz, Schweif), manchmal auch als copula, wird in der Musik des 13. Jahrhunderts ein Schlußmelisma bezeichnet. Eine cauda als Abschluß einer modalrhythmischen clausula in einem organum duplum führt zu einem Wechsel der Satztechnik über der letzten oder vorletzten Note: Der Tenor hält die Note aus und das Organum singt im freirhythmischen Stil - meist mit einer currentes-Kette, die mindestens eine Oktave umfaßt und den Schluß des Abschnittes betont, der mit der clausula endet.

Clausula

Im Magnus liber organi werden modalrhythmische Einschübe clausulae genannt. Sie stehen meist am Ende eines Abschnitts (distinctio), und verkürzen den freirhythmischen Stil des Organums durch den Wechsel zum modalrhythmischen discantus, in dem der Tenor die Töne nicht aushält, sondern nach rhythmischen Werten singt. Meist werden die Noten des cantus wiederholt und der Tenor bildet eine zweiteilige Form. Die clausula endet meist mit einem reich verzierten Haltetonschluß, der copula oder cauda genannt wird. In den früheren Handschriften des Magnus liber W1 und F stehen am Ende der Faszikel mit den zweistimmigen Organa Sammlungen von clausulae, die die clausulae ersetzen können, mit denen die Organa notiert sind. Sie sind nach der liturgischen Ordnung der tenores geordnet.

Es gibt auch vormodale clausulae, deren discantus entsteht, indem der Tenor in gleichmäßigen kurzen Abständen fortschreitet. Hierüber singt das Organum fast Note-gegen-Note die Gerüstklänge, die durch zwei drei Nebennoten verziert werden. Eine möglich Technik hierbei ist das Sequenzieren einer Formel, wenn der Tenor in Sekunden voranschreitet.

Copula, inceptio, mediae voces

Guido gebraucht im Micrologus den Begriff copulatio als Verbindung der Stimmen zu Zusammenklängen (z.B. in der diaphonia dura - siehe affinitates vocum). In den Organumtraktaten von Montpellier und Mailand heißt das Verbinden der Stimmen in diesem Sinne copula, copulatio dagegen das Verbinden der Stimmen im weiteren Sinne - als Zusammenführen in den Einklang (bei Guido occursus) oder in die Oktave über mehrere copulae disjunctae, die cantus und organum zum konjunkten Zielintervall am Ende eines Abschnitts (distinctio) zusammen- (Einklang) oder auseinanderführen (Oktave). Entsprechend gliedert sich ein Abschnitt in die inceptio am Anfang, in die Mitte (mediae voces) und in den Schluß (copulatio). Während die mediae voces mehr oder weniger parallel geführt werden, gehen in copulatio und inceptio die Stimmen je nach Ziel- oder Ausgangsklang auseinander oder zusammen.

Im Mailänder Traktat Ad organum faciendum ist der Ort für den fünften modus organizandi, das Ausweiten der Organumstimme zu einem Melisma über einen Cantuston, der vorletzte oder letzte Cantuston eines Abschnitts. Er ist eine Form der copulatio. In diesem Sinne könnte auch, was ich in den Transkriptionen der Pariser Organa neutraler als cauda bezeichnet habe - mit copula bezeichnet werden.

Bei den Theoretikern der Notre-Dame-Schule im 13. Jahrhundert hat der Begriff copula viele Bedeutungen, die miteinander nicht immer vereinbar sind. In seiner ars cantus mensurabilis unterscheidet Franco von Köln bei den Organa tripla und quadrupla zwischen copula ligata und copula non ligata, worunter Passagen zu verstehen sind, die einem Haltetonwechsel im Tenor vorausgehen, der in den oberen Stimmen durch eine paenultima-Dissonanz inszeniert wird. Die copula führt vor dem Haltetonwechsel zu dieser Dissonanz und kann modalrhythmisch (ligata) oder mit Ligaturen notiert sein, die sich keinem rythmischen Modus zuordnen lassen. Der Ort der copula ist mit der copulatio des Mailänder Traktats vergleichbar, nur daß die Abschnitte hier von den Organumstimmen gebildet werden.

Johannes de Garlandia schreibt in De mensurabili musica, daß die Satztechnik der copula im Organum duplum sich zwischen discantus und organum in speciali bewegt, indem es den periodischen Doppelbau des Duplum (discantus) mit dem Halteton im Tenor (organum) kombiniert. Die Gliederung der Periode in einen Vordersatz (antecedens) und einen Nachsatz (consequens) entspricht der Strophe bei den Troubadours, cobla in provençal, deren zwei Teile ouvert und clos schließen. Hieraus ergeben sich zwei Bedeutungen von copula. Bezieht sie sich auf die Kompositionsweise des discantus, wie sie Perotin und andere in den Organa tripla und quadrupla angewandt haben, wird unter copula die symmetrische Struktur und der Modalrhythmus verstanden. Diese Abgrenzung gegenüber organum in speciali, bei dem das Duplum nicht symmetrisch strukturiert und freirhythmisch ist, scheint ein Konzept modalrhythmischer Theoretiker zu sein, aus dem heraus sie eine späte Sicht auf den frühen Stil des Organums entwickelt haben.

Die andere Bedeutung dagegen findet sich im Musiktraktat des Anonymus IV, wo copula und organum als zwei Idiome des organum purum betrachtet werden, in dem die modalrhythmischen Strukturen mit den freieren modi irregulares vermischt werden. Dies scheint ebenfalls ein modalrhythmisches Konzept von einem Organumstil zu sein, der hundert Jahre zuvor vom Kantor Leonin in Notre-Dame de Paris gepflegt wurde. Bei der Bezeichnung der vormodalen Klauseln im Organum über Petre amas me aus dem Vatikanischen Organumtraktat habe ich daher den Begriff copula gewählt, da auch der Begriff organum purum von Anonymus IV stammt.

Die besondere Vorliebe, die Anonymus von St. Emmeran für die Subtilität der copula hat, deckt sich mit seinem Urteil über organum in speciali. Das zeigt, daß der Begriff copula bei den späten Notre-Dame-Theoretikern nicht mehr eine Satztechnik, sondern einen Aufführungsstil bezeichnet.

Literatur: Reckow: Copula; Reckow/Roesner: copula, copulatio (Artikel aus der zweiten Ausgabe des New Grove Dictionary of Music & Musicians, 2001, Bd.6, S.417f)

Currentes

Sind in der Quadratnotation des späten 12. und des 13. Jahrhunderts rhombenförmig, weil der Schreiber von einer horizontalen zu einer diagonal absteigenden Schreibachse wechselt. Ihre Form leitet sich aus dem climacus der Neumennotation ab, der aus einer virga und zwei absteigenden Punkten gebildet. Der climacus als Ornament in der Pariser Organumtradition kann auch zehn Punkte oder mehr haben.

Digressio

Ist eine Terminus der Rhetorik und bedeutet "Abschweifung". Der Redner verläßt den Faden seiner Rede, den er in seiner dispositio entworfen hat. Im Zusammenhang mit der Gedächtniskunst, mit deren Hilfe die Teile der Rede erinnert werden, schiebt sich etwas dazwischen.

Im Zusammenhang mit Organum ist digressio die Dehnung der Zeit (Extemporieren) durch Melismen und Ornamente, die die Fortschreitung zum nächsten Gerüstklang herauszögert. Gegenüber Treitlers Konzept von "mündlicher Komposition" verstehe ich hierunter auch die Möglichkeit einer "Improvisation" als digressio im Rahmen der "mündlichen Komposition".

Discantus

Ist ursprünglich einer der Begriffe für Mehrstimmigkeit neben diaphonia und organum und leitet sich von discantare (auseinander singen) ab. Im Traktat von St. Martial (12. Jahrhundert) wird organum gegenüber discantus unterschieden, wobei im discantus Note gegen Note (in Gegenbewegung) und im organum Melisma gegen Note gesetzt werden. Bei den Theoretikern der Notre-Dame-Schule (Johannes de Garlandia, Anonymus 2, 4 und von St. Emmeran, Franco von Köln) steht discantus für den satztechnischen Gebrauch der rhythmischen Modi, der im Organum duplum die Komposition der clausulae bestimmt, die sich gegenüber den älteren freirhythmischen Organumpassagen absetzen, die bei ihnen organum in speciali, organum per se oder organum purum genannt werden. Die copula dagegen wird als Mischform zwischen beiden Satztechniken betrachtet. So nennt Anonymus 4 den Kantor Leonin optimus organista, Perotin dagegen optimus discantor.

Doxologie

Bei den liturgischen Texten, die mit Gloria beginnen, werden die kleine und die große Doxologie unterschieden. Die große ist der Text zu den Gloria-Sätzen des ordinarium missae. Die kleine wird als Schlußformel beim Psalmodieren benutzt und folgt dem letzten Responsorium einer Nokturn.

Echos

Echos (griech. Glas) heißt eine Kirchentonart in der byzantinischen Tradition. Das System der acht echoi wird Oktoechos genannt und wird auf Johannes von Damaskus (7. und 8. Jahrhundert) zurückgeführt. Es wird genauer im dritten Kapitel erläutert.

Flos

Flos oder flores (lat. Blume, Blüte), manchmal auch color, ist ein rhetorischer Begriff für Redeschmuck und meint in der Musik alle Arten von Verzierungen. Eine detaillierte Beschreibung der flores harmonici findet sich im Musiktraktat des Hieronymus von Mähren.

Gedächtniskunst

Der Begriff stammt von Francis A. Yates, die in ihrem Buch The art of memory darauf hingewiesen hat, daß der Begriff "Mnemotechnik" nicht hinreicht, um die Dimensionen zu verstehen, die bei mystischen Meditationen im Mittelalter erreicht wurden.

Ihre elementare Grundlage hatte aber durchaus auch bescheidenere, alltägliche Formen, die sowohl in Lehrbüchern wie im praktischen Leben praktiziert wurden (z.B. die Guidonische Hand, die Länge der Monate auf Fingerknöcheln oder irgendwelche Abzählreime, die bis heute überdauert haben). Diese "handfeste" Verteilung von loci ist lediglich eine schlichte Form von einer Raumvorstellung, mit der die Gedächtniskunst ausgeübt wurde. Ob der Raum eine Hand oder die imaginäre Vorstellung einer Kirche oder einer Phantasielandschaft ist, entscheidend ist, daß auf ihr Gedächtnisorte angeordnet werden können - bisweilen auch Orte, die mit abschreckenden Bildern bezeichnet sein können (imagines), wenn sie besser gemieden werden sollen.

Im Zusammenhang mit der Kunst, Organum zu improvisieren, geht es um die Überlieferung eines Cantus, d.h. die Erinnerung eines Cantus (Leo Treitler), die Gestaltung eines Organum über den erinnerten Cantus, und auch um die Tradition, eine Andacht in Musik zu gestalten (Amnon Shiloah).

Graduale

Haupt- und Gegenklang

Haupt- und Gegenklang sind Begriffe der modernen Theorie von den Kirchentönen. Der Wechsel zwischen Haupt- und Gegenklang zeigt sich bei der Praxis, zu dem einstimmigen Gesang einen Halteton zu singen und dabei zwischen paenultima und finalis zu wechseln. So werden Passagen unterschieden, die ihren tonalen Schwerpunkt auf einem Terzturm haben, der entweder auf finalis und Rezitationston (Hauptklang) oder auf der paenultima oder der plagalen Unterquarte (Gegenklang) liegt.

Diese vereinfachte Sicht auf die Kirchtöne als "Modi" hängt mit den Oktavgattungen zusammen und geht daher davon aus, daß in jedem Kirchenton der Rezitationston auf dem Hauptklang liegt, nämlich auf der Terz über der finalis in plagalen Tonarten oder auf der Quinte in authentischen Tonarten. Das ist z.B. beim dritten Ton auf E nicht so, wo der Rezitationston a oder c sein kann. Es gibt in dieser Tonart keinen ausgeprägten Hauptklang und der Gegenklang kann als Hauptklang des ersten Tons auf D gehört werden.

Intonatio

Unter Intonation wird die Darstellung einer Kirchentonart oder eines echos durch eine Formel des Vorsängers (precantor, protopsaltis) verstanden. In der byzantinischen Musik werden diese Formeln mit den Textformeln Ananeanes, Neanes oder Agia, Neagie gesungen und zeigen den Halteton und den Beginn des folgenden Stücks an. In westkirchlichen Traditionen sind die Formeln der Kirchentöne in den Anfang der Gesänge integriert, das vom precantor solistisch gesungen wird, um ebenfalls den Anfangston für die schola zu intonieren und den Kirchenton durch idiomatische Formeln darzustellen. Da die Intonation zu den solistischen Teilen eines Chorals gehört, wird sie auch mit Organum gesungen.

Isorhythmie

Die kompositorische Technik der Isorhythmie wurde besonders bei der Gestaltung von Tenor und Contratenor in den Motetten der Ars nova (Guillaume de Machaut, Petrus de Cruce, Philippe de Vitry) angewandt. Der Begriff meint "gleiche rhythmische Ordnung" (griech. ísos, gleich) und bezieht sich auf die Wiederholung mehr oder weniger komplex gestalteter rhythmischer Abschnitte (oft in kolorierter Mensuralnotation, dessen Färbung einen Mensurwechsel anzeigt), die talea genannt werden. Color dagegen heißen die wiederholten melodischen Abschnitte, die sich in der Länge meist von den taleae der rhythmischen Struktur unterscheiden - z.B. kann der Tenor einer Motette aus zwei colores und drei taleae gebaut sein.

Diese Kompositionstechnik läßt sich auf die modalrhythmische Kompositionspraxis zurückführen, wie sie sich seit dem frühen 13. Jahrhundert in Paris entwickelt hat. Sie wurde wohl zuerst bei der Komposition modalrhythmischer clausulae verwandt, mit denen einzelnen Tenorpassagen in den Organa aus Leonins Magnus liber bearbeitet wurden. Typisch für diese clausula ist ihre zweiteilige Anlage, die sich aus der Wiederholung des Tenors (color) ergibt, und die Wiederholung stereotyper rhythmischer Muster im fünften Modus (talea). Diese Kompositionstechnik wurde schon in den clausulae der Notre-Dame-Schule dahin zugespitzt, daß die rhythmische Aufteilung nicht mit der des Tenors übereinstimmte, so daß neben symmetrischen Formen auch permutierende entstanden. Die Isorhythmie war von Anfang an mit der Form der Motette verbunden, die durch die Textierung der Organumstimme einer clausula entstanden ist - ein Kompositionsprinzip, das mit Reckow als structura charakterisiert werden könnte. Aber nicht nur, wie z.B. die isorhythmische Form des Kyrie aus Machauts Messe de Notre-Dame beweist. Machaut nutzt auch die traditionellen Wiederholungen einzelner Teile einer Kyrie-Melodie für eine isorhythmische Gestaltung des Tenors. Die Erweiterungen der Ars nova liegen vor allem in der Ausdehnung der Isorhythmie auf mehrere Stimmen, meist Tenor und Contratenor, die bisweilen in unterschiedlichen Mensuren gegeneinander laufen - ein komplex gestaltetes Fundament, über das die oberen Stimmen im hoquetus gesetzt werden, die bei den Motetten textiert sind - bisweilen mit zwei verschiedenen Texten oder sogar Sprachen.

Kantor

Cantor oder psaltis (lat./griech. Sänger) sind neben succentor (subcantor) und precantor oder protopsaltis herausragende Sänger einer schola cantorum, die als Solisten ein Organum im Chorraum aufgeführt haben. Neben cantor ist auch der Titel magister scholae cantorum gebräuchlich, und so nennt auch Anonymus mit magister leoninus und magister perotinus zwei bedeutende Kantoren der Pariser Notre-Dame-Kirche. Zu den Aufgaben des precantors gehören nicht nur die solistischen Intonationen zu Beginn der Gesänge, sondern auch der Unterricht im Psalmsingen für die Mönche und Knaben, die die Choräle auswendig und mit ihn zugleich die Grammatik lernten. Ihm wurde auch die Vorbereitung, Korrektur und Aufstellung der liturgischen Handschriften anvertraut. Besonders im 11. Jahrhundert, seit Guido von Arezzo, tritt ein Kantor als Wissender auf (Guidonis musicae regulae rhythmicae):

"Musikanten und Kantoren trennt ein großer Unterschied:
Diese singen, jene wissen, was Musik zusammenfügt.
Und die tun, was sie nicht wissen, sind nicht besser als das Vieh."

«Musicorum et cantorum magna est distantia:
Isti dicunt, ille sciunt, quae componit Musica.
Nam qui facit, quod non sapit, diffinitur bestia.»

Seit Guido wird der Kantor mit den Instrumenten Schreibgriffel (lector, scriptor et notator) und Monochord dargestellt und er überliefert damit die freie Kunst der Musica, verwaltet mindestens den musikalischen Teil einer liturgischen Tradition, versteht und lehrt die rechte Intonation im weitesten Sinne - von der Intonation des Vorsängers über Pythagoras bis zur Praxis, zu der auch das Organumsingen gehört. Daher sind im 11. Jahrhundert Nachrufe auf bedeutende Kantoren aus Cluny, Fleury, Chartres und auch Saint Maur des Fossés überliefert - Regionen, aus denen Organa überliefert sind.

Kirchenton

Die Theorie der Kirchentöne betraf ursprünglich die finalis (Schlußton und tonales Zentrum) und charakteristische Formeln einer Tonart, die durch die Praxis des Psalmsingens in Abhängigkeit zur liturgischen Gattung (Antiphon, Invitatorium, Responsorium und Canticum des Officiums und Introitus, Communio und Graduale der Messe) gebraucht wurden. Zu den Formeln der Psalmodie gehören initia (eröffnende Intonation), differentiae (Schlußformeln für verschiedene Stufen) und die repercussa (Rezitationston).

Die früheste Kodifizierung von acht Tonarten im lateinischen Mittelalter findet sich bei Alcuin und sie werden toni genannt. Es handelt sich hier um eine Übernahme des Systems der vier oder achte Töne aus Byzanz.

Die Tonartenlehre in den Traktaten des 9. bis 11. Jahrhunderts unterscheidet zunächst vier authentische oder Haupttonarten und vier plagale oder subjugale Ableitungen, indem beide Arten die gleiche finalis, aber verschiedene Rezitationstöne haben. Die Gleichsetzung mit Modus, der Begriff bezieht sich auf die Oktavgattungen der Antike und steht ursprünglich in keinem Zusammenhang mit irgendwelchen Tonarten, findet sich bei Hucbald. Die Identifizierung der acht Tonarten mit den sieben Tropen, die in der antiken Lehre Transpositionsoktaven waren, deren Intervallstruktur die Oktavgattungen (modi) bildeten, und ihren über Ptolemaios und Boetius überlieferten Bezeichnungen (dorios, phrygios usw.) ist dagegen das Werk zweier Theoretiker aus dem 10. Jahrhundert. Der eine ist Kommentator der Alia musica, hat Teile dieses Traktates geschrieben und auf seine Weise umgedeutet, so daß die Transpositionsoktaven der Tropen den acht diatonischen Tonarten des Westens angepaßt wurden. Der zweite Theoretiker Hermannus Contractus, vollendete die Vermischung von Tonarten- und Tropenlehre, indem er den fraglichen achten Tropus hypermixolydios in hypomixolydius umbenannte und daraus die systematische Benennung der plagalen Tonarten durch den Zusatz hypo- erreichte. Aus dieser Vermischung heraus wurde jeder Tonart auch ein Ambitus zugeordnet.

Ein weiterer Aspekt der Tonartenlehre ist das Tongeschlecht. Das byzantinische System des Oktoechos ordnet seine acht Tonarten zwei Tongeschlechtern zu: dem diatonischen und dem chromatischen. Das enharmonische Tongeschlecht bezeichnet dagegen die Praxis einer mikrotonalen Veränderung der diatonischen oder chromatischen Intervalle und bildete weitere Varianten zu einer Tonart. Die westliche Rezeption der byzantinischen Tongeschlechter, z.B. bei Hieronymus von Mähren, läßt nur bei dem diatonischen Tongeschlecht eine praktische Bedeutung gelten, rügt aber zugleich die Vermischung der Tongeschlechter in der Tradition der Gallier. Der theoretische Hintergrund dieser Haltung ist Boetius' Ablehnung des chromatischen und enharmonischen Tongeschlechts in der Tropenlehre, die auf Ptolemaios zurückgeht, der nur sieben Tropen gelten ließ und die anderen als irreal verwarf.

Literatur: Otto Gombosi: Studien zur Tonartenlehre des frühen Mittelalters, in: Acta musicologica 10-12 (1938-1940).

Liturgie

Die Liturgie betrifft den Teil des monastischen Lebens, der als "Gebet" bezeichnet werden könnte. Hierunter kann vor allem eine Vorstellung von Zeit verstanden werden. Denn selbst in der Nacht schläft die Gemeinde nicht länger als drei Stunden, bis eine Glocke zum nächsten Gottesdienst läutet.

Das passiert z.B. im Sommer um 2 Uhr morgens: Der Begriff Vigilia wird in der Benediktus-Regel für den Nachtgottesdienst gebraucht, der Morgengottesdienst heißt Matutin. Nocturnes sind einfach die Nachtstunden, weswegen anzunehmen ist, daß nach der Einleitung Ad invitatorium oder Super venite die Nokturnen drei Stunden dauern und damit zum ausgedehntesten Gottesdienst überhaupt gehören. Damit unterscheiden sich die musikalische Gestaltung der Gebete ganz grundsätzlich von der Konzertform. Manchmal werden auch die Vigilia Matutin genannt, und die Matutin Laus. Der Tag gliedert sich bis zur Vesper in drei Stundengebete und eine Hohe Messe, nach Sonnenuntergang folgt die Complet.

Das Jahr wird durch zwei Festzyklen gegliedert: Der des Temporale gestaltet die Zeit als Heilsgeschehen im Sinne des Neuen Testaments und verläuft vom ersten Advent im November und Dezember bis zu Pfingsten, wobei es 70 Tage Fastenzeit (Septuagesima) vor Ostern gibt, die ab dem Samstag nach Ostern gezählt werden und kurz nach Epiphanie, nach der ersten Neujahrswoche beginnt. Die beiden Hauptfeste, Weihnachten und Ostern, werden jeweils eine Woche gefeiert. Somit reicht das Temporale mit den annualen Festen (Advent bis Pfingsten) von der Sonnenwende im Winter fast bis zu der im Sommer. Das übrige Halbjahr wird als tempus per annum bezeichnet. Es wird allein durch den anderen Festzyklus gestaltet, der Sanctorale genannt wird, weil er das Jahr nach den Festen der Heiligen und nach den Marienfesten gestaltet. "Namensfeste" heißen die Geburtstage der Heiligen, die liturgisch z.B. als in natali sancti petri (29. Juni) bezeichnet werden. Es ist meist der Zyklus des Sanctorale, dessen liturgische Eigenart, z.B. bestimmte Patronatsfeste, die Zuordnung einer liturgischen Handschrift zu einer bestimmten Abtei erlauben. Solche Spezialisierungen betreffen auch die Musik. Viele Heilige oder Apostel haben keine eigene Musik und die Responsorien und Meßgesänge des proprium missae werden einem Repertoire entnommen, das commune sanctorum oder apostolorum genannt wird. Aber auch

Zu jeder weltlichen oder monastischen Kirche gab es zahlreiche Handschriften (z.B. Graduale, Antiphonar oder Antiphonale, Nocturnale, Brevier usw.), in denen die regionalen Eigenarten der Liturgie und ihren Gesängen aufgeschrieben wurden. Noch heute gibt es überall in Europa Regionen, die sich durch besondere Feste und Prozessionen auszeichnen.

Modalrhythmus

Die fünf oder sechs rhythmischen Modi werden als neue Kompositionstechnik des rhythmischen discantus von vielen Theoretikern der Notre-Dame-Schule gelehrt und führten zu Bearbeitungen von Leonins Magnus liber organi durch clausulae im Diskantstil. Ein Beispiel hierfür sind die Klauseln im Organum duplum über Petre amas me in der Handschrift Florenz.

Die fünf Modi sind:

Darstellung in Ligaturen Rhythmus Versfuß
Erster Modus: 3+2+2...+2 | longa-brevis-longa - b-l -... b-l | Trochäus (- u)
Zweiter Modus: 2+2+2...+3| b-l - b-l - b-l -... b-l-b | Jambus (u -)
Dritter Modus: 1+3+3...+3| longa perfecta - brevis recta-brevis altera-lp - br-ba-lp -... br-ba-lp | Daktylus (- u u)
Vierter Modus: 3+3...+3| brevis recta-brevis altera-lp - br-ba-lp -... br-ba-lp | Anapäst (u u -)
Fünfter Modus: 

a) 3 | 2 | 3 | 2 |

b) 1+1+1+1| 1+1+1+1|

l-l-l...

a) lp-lp-lp| longa duplex-lp| usw.

b) lp-lp-lp-longa imperfecta | lp-lp-lp-li |

Spondeus (- -)

Das Beispiel aus Florenz zeigt, wie diese monotonen Rhythmen durch fractio und distinctio aufgebrochen und überformt werden.

Einer der bedeutendsten Theoretiker des discantus war Johannes de Garlandia, dessen Traktat De mensurabili musica erst entstand, als Perotin schon Jahrzehnte zuvor discantus komponiert hatte. Garlandias Verdienst ist die Erweiterung des Zeichenrepertoires der Modalnotation durch proprietas und perfectio, um auch in der Motette noch die modalen Gruppierungen der Ligaturen verdeutlichen zu können, die wegen der Textierung einer Klausel auseinander geschrieben werden mußten. Diese Notation war moderner als in den Handschriften des Magnus liber organi, wurde aber von dem Schreiber der Motettenhandschrift Codex Bamberg verwendet. Anonymus St. Emmeran, 2, 4 und Lambertus gelten als Theoretiker in der Folge von Garlandia.

Franco von Köln benutzte Garlandias Erweiterung der Ligaturenformen um sine propritate, sine perfectione und cum opposita proprietate, um ihnen einen festen Wert im Sinne von brevis und longa zuzuschreiben. Er erfand damit das System der Mensuralnotation, das bis heute besteht und deren Ligaturenformen bis zur Renaissance gebraucht wurden. Über Alteration und Imperfizierung entschied weiterhin der Kontext.

Literatur: Fritz Reckow: Proprietas und Perfectio

Modus

Der Begriff modus (lat. Art, Weise) hat zahlreiche Bedeutungen:

Modus organizandi

Um die Wende zum 12. Jahrhundert entstand der Mailänder Traktat Ad organum faciendum, der den Organumsänger zwischen fünf Optionen wählen läßt, wie er sein Organum zu einem gegebenen Cantus bilden kann.

Mutationslehre

Der Begriff mutatio (lat. Veränderung, Wechsel) bezieht sich auf die drei Hexachorde, die bei Guido von Arezzo das Tonsystem gliedern:

hexachordum naturale (z.B.: c-d-e-f-g-a)
hexachordum molle (z.B.: f-g-a-b-c'-d')
hexachordum durum (z.B.: g-a-h-c'-d'-e')

Wenn ein Kantor zuerst h (b quadratum) dann b (b rotundum) singen möchte, wechselt er vom hexachordum durum in den hexachordum molle. Bildet er ein Organum (diaphonia mollis) unter einem Cantus, der b quadratum singt, geht er in den hexachordum durum und wählt damit den Grenzton (vis organi) G, der verhindert, daß F zu b quadratum erklingt.

Diese Hexachorde geben eine Intervallstruktur vor (Ganzton - Ganzton - Halbton - Ganzton - Ganzton) und jeder Kantor kann sie über den Solmisationshymnus Ut qeant laxis rekonstruieren:

Jeder Ton wird über Orte (loci) auf der Guidonischen Hand (Fingerkuppen oder -knöchel und -glieder) memoriert, auf der das ganze Tonsystem dargestellt ist. Die Töne des Tonsystems werden in allen Traktaten des 11., 12. und 13. Jahrhunderts durch Buchstaben bezeichnet. Der tiefste Ton ist Gamma ut und liegt eine Oktave unter G, der finalis des siebten und achten Kirchentons. Danach folgen die Buchstaben: A-G, a-g und aa-dd. Diese Tonbuchstaben habe ich daher auch in dieser Arbeit übernommen. Bei der Bezeichnung der loci auf der Hand, werden jedem Tonbuchstaben noch die Solmisationssilben der drei Hexachord angefügt. So heißt der Grenzton G G sol re ut, b rotundum darüber b fa und b quadratum b mi.

Das Tonsystem wurde vor Guido in disjunkte Tetrachorde gegliedert, z.B. bei Hucbald oder in der Scholia enchiriadis, auch war das griechische systema teleion bekannt, das oft auf die Doppeloktave A-aa übertragen wurde, wobei auf der Oktave a zwei verschiedene Tetrachorde gebildet werden konnten: synhemmenon (a, b rotundum, c, d) oder diezeugmenon (b quadratum, c, d, e). Der Tonraum zwischen H-a und h-aa wurde in konjunkte Tetrachorde gegliedert. Das systema teleion hatte möglicherweise Guido zu seiner Gliederung in Hexachorde inspiriert.

Occursus

Der Begriff occursus (lat. entgegengehen) stammt aus den Kapiteln über diaphonia im Micrologus des Guido von Arezzo, und steht für das Zusammenkommen der Organumstimme mit einem vorgegebenen Cantus in den Einklang - am Ende einer distinctio.

Ordo

In der Diskantlehre der Notre-Dame-Schule meint der Begriff ordo (lat. Reihe, Abteilung; Regel) einer interpunktische Einheit innerhalb eines Diskants. Während distinctio und membrum auf die grammatisch-syntaktische Struktur des Textes bezogen sind, ergibt sich aus der Satztechnik des Haltetonorganums und der des Diskants die Gliederung eines Melismas über einen Halteton. Ein solches Glied wird als ordo bezeichnet. In der Linien- und Quadratnotation des 13. Jahrhunderts zeigen Ordostriche die Interpunktion und die Pausen an. Sie sind nicht zu verwechseln mit den Strichen, die einen Haltetonwechsel mit einem Silbenwechsel anzeigen und bei denen keine Pause gemacht wird.

Organum

Der Begriff organum (griech. organon, Mittel, Zweck) ist sehr vielschichtig und hat viele Bedeutungen:

Paenultima und Ultima

Die Bezeichnungen paenultima (lat. vorletzte) und ultima (lat. letzte) werden von den Theoretikern der Notre-Dame-Schule gebraucht und beziehen sich auf den Kontext eines Klangschritts im Tenor, d.h. auf dem Übergang im Organum kurz vor oder nach einem Haltetonwechsel im Tenor. Sie sind ein bevorzugter Ort für Verzierungen, deren Funktion mit der Verzierung des principium ante principium verwandt ist.

Plica

Plicae werden in der Quadratnotation alle liqueszenten Formen genannt, die bei der Intonation von Halbvokalen gebraucht werden. Hieronymus bezeichnet die liqueszenten Formen der clivis (cephalicus) des pes (epiphonus) als plica longa. Im Aufführungsstil des späten 12. und 13. Jahrhunderts werden sie als Verzierungen gesungen und sie tauchen daher auch mitten in einem Ordo eines Organums auf, auch wenn kein Silbenwechsel stattfindet. Weiterhin kann im Organum aber auch ein Silbenwechsel durch ein plica angezeigt werden und da dies mehr Zeit erfordert, wurde hieraus eine Ornament oder color, wie es Hieronymus von Mähren beschreibt.

Positurae (periodus, distinctio und membrum)

Mit distinctio wird ein "Abschnitt" oder eine Phrase in einem Choral bezeichnet, wobei der Begriff auf die Syntax des vertonten Textes bezogen ist. In den Organumtraktaten des 11. und 12. Jahrhunderts, auch in Guidos Micrologus, ist er ein zentraler Begriff, da die Stimmen am Ende einer distinctio zusammenkommen (occursus, copula).

Neben der distinctio unterscheidet der Traktat von Sélestat noch die feinere Untergliederung in membra (Glieder), während die distinctio (Abschnitt) an die Interpunktionszeichen der Lektionsschrift (cola, semicola) gebunden werden.

Diese Zeichen werden positurae genannt. Unterschieden werden comma (media distinctio), colon (membrum) und periodus (plena distinctio). Diese Namen beziehen sich auf die Einteilungen eines längeren Satzes, wie sie in der freien Kunst grammatica gelehrt wurden. Die einfachste Form der Interpunktionszeichen sind Punkte, die in der Mitte, hoch oder tief geschrieben werden. Aus den positurae sind die puncta entwickelt worden, die mit Neumenzeichen kombiniert werden:

Bei einer Lectio werden diese Zeichen durch melodische Formeln wiedergegeben, die in etwa der Bewegung der Neumenzeichen folgen. Das Beispiel der byzantinischen Epistellesung im dritten Kapitel zeigt, wie kunstvoll und frei Kantoren ihre Lesungen gestalten können. Diese Kunst bestand auch im Westen und taucht bei manchen Theoretikern als Konkurrenz zu epischen Rezitationen germanischer (Edda) und keltischer Traditionen auf.

Principium ante principium

Der Begriff principium ante principium (lat. Anfang vor dem Anfang) bezeichnet eine besondere Verzierung, mit der das Organum im Haltetonorganum auf der Oktave beginnt und dem Tenor und anderen Stimmen (bei organa quadrupla und tripla) den Einsatz gibt. Seine Formen werden im zweiten Kapitel behandelt.

Processus und structura

Ich bezeichne mit processus und structura zwei grundsätzlich verschiedene Arten von Formdenken. Die Begriffe übernehme ich von Fritz Reckow, dessen Aufsatz mich angeregt hat, aber mein Gebrauch ist vielleicht nicht identisch. Ich beziehe nämlich processus vor allem auf die besondere Form des frühen Haltetonorganums und den Raum, den es für Improvisation bereithält. Structura dagegen würde ich wie Reckow auf die Entwicklung der Motette aus der Diskantklausel beziehen.

Vereinfacht könnten folgende Zuordnungen gemacht werden:

Letztere Zuordnung lasse ich nur gelten, wenn sie zwar als verschieden, aber nicht als einander ausschließend gedacht werden. Schriftliche Komposition kann beide Formvorstellungen bedienen, mündliche Komposition kann zu einem gewissen Grad structura einbeziehen, Improvisation ist fast nur processus. In der vergleichenden Analyse von Organum purum und Organum duplum über Petre amas me ist das Formdenken ein wichtiger Aspekt.

Prolongatio

Ist kein geläufiger Begriff, der in einem Traktat vorkommt. Ich habe ihn in Anlehnung an Susan Rankins Begriff "prolongation" gebildet, deren Analyse der Organa des Winchester Tropars ergeben hat, daß es eine Abstufung zwischen den einzelnen occursus gibt und daß eine prolongatio als besonders starker Schluß am Ende einer distinctio plena oder media gebildet wird. Diese Schlußbildung taucht bereits in den Beispielen für diaphonia mollis in Guidos Micrologus auf und besteht darin, daß das Organum unter dem Schlußton eine Sekunde bildet und dann in den Einklang geht. Die Möglichkeit einer Funktionalisierung im Sinne eines stärkeren Interpunktionszeichens erwähnt Guido allerdings nicht.

Das System der pythagoräischen Stimmung

Die meisten Theoretiker des 11., 12. und 13. Jahrhunderts kennen die die Proportionenlehre des Pythagoras nur über Boetius und erläutern die Proportionen anhand von Orgelpfeifen oder mit dem Monochord. Guido von Arezzo beginnt seinen Micrologus mit dem Monochord und kommt zu den «suavae copulationes» - mit einem Parallelorganum, dessen Unterquarte oktaviert wird:

«Caput V. De diapason. et cur septem tantum sint notae.

Diapason autem est in qua diatessaron et diapente iunguntur. Cum enim ab A in D sit diatessaron. et ab eadem .D. in .a. acutum [acutam corr. supra lin.] sit diapente. ab .A. in alteram .a. diapason existit. Cuius ius est eandem litteram in utroque habere latere. ut a B in [sqb]. et a [Gamma]. in c et a D in d. et reliqua. Sicut enim utraque uox eadem littera notatur. ita per omnia eiusdem qualitatis perfectissimaeque similitudinis utraque habetur et creditur. Nam sicut finitis septem diebus. eosdem repetimus. ut semper primum et octauum eundem dicamus: ita primas et octauas semper uoces easdem figuramus et dicimus. quia naturali eos [eas corr. supra lin.] concordia consonare. ut D. et d. Vtraque enim tono et semitonio et duobus tonis remittitur. et item tono et semitonio et duobus tonis intenditur. Vnde et in canendo duo aut tres aut plures cantores pro ut possibile fuerit. si per hanc speciem differentibus uocibus eandem quamlibet antiphonam incipiant [-f.6r-] et decantent. miraberis te easdem uoces diuersis locis. sed minime diuersas habere. eundemque cantum grauem et acutum  et super acutum. tam unice resonare hoc modo."

Die drei Stimmen bilden über jeden Cantuston einen perfekten Klang, der um jedes melodische Intervall transponiert werden kann. Da eine reine Quinte und reine Quarte eine reine Oktave bilden, ist die reine Quarte das Umkehrungsintervall der reinen Quinte. Rein heißt hier: Sie stimmen mit den zweiten und dritten Partialton der harmonischen Obertonreihe überein. Die reine Oktave auf das tonale Zentrum verlagert, von wo aus die Quintreihen sich um das pythagoräische Komma gegeneinander verschieben. D.h.: Die Oktave auf der Finalis ist rein, aber der Tritonus ist streng genommen zweimal vorhanden. Da er nur vom unteren Grundton aus gebildet und der andere von oben gebildete weggelassen wird, gilt es als das unreinste Intervall, das ganz knapp unter der reinen Quinte liegt.

Die grundlegende Proportion ist der dritte Partialton, also der Flageolet-Ton, den man erhält, wenn den Finger auf einen Schwingungsknoten legt, der sich zwischen den Dritteln der Saite bildet. Daher ist eine Saite aus gleichem Material und Stärke um eine Quinte höher, wenn die Saite zwei Drittel so lang ist, und umgekehrt ist eine Saite um eine Quinte tiefer, wenn die Saite um die Hälfte länger ist. Die Proportionen werden je nach Richtung des Intervalls über den Kehrwert gebildet. 3:2 mal die Frequenz und der Ton ist eine Quinte höher, 3:2 mal die Länge der Saite und sie ist um eine Quinte tiefer usw.

Wird das System auf F gebildet, wie Guido es tut, brauchen wir 6 Quinten darüber, um die diatonische Skala zu bilden: also F>c>G>d>a>e>h. Diese Töne können - hier mit den bei Guido üblichen Buchstaben bezeichnet - innerhalb der Oktave bleiben, indem jede zweite Quinte um eine Oktave nach unten transponiert wird und damit - statt eine Quinte nach oben - eine Quarte nach unten bildet. Für die Proportion und die Frequenz heißt das: 3:2 x 3:2 = 9:4. 9:4 mal die Frequenz ergibt eine große None, 9:4 x 1:2 = 9:8 ist die Proportion für den «tonus», denn 2:1 ist die Proportion der Oktave. Das Gleiche funktioniert auch in entgegengesetzter Richtung, wenn die Quintenreihe nach unten gebildet wird. Ich steige um eine Quinte ab und transponiere sie um eine Oktave nach oben: 2:3 x 2:1 = 4:3 ist die Proportion der reinen Quarte. Reine Quarte und Quinte bilden zueinander das Umkehrungsintervall, da sie zusammen eine Oktave ergeben. Daher ist die Quarte nach unten gleichwertig wie die Quinte nach oben und die Quarte nach oben gleichwertig wie die Quinte nach unten. Die Quintschichtung von F nach oben verschränkt sich innerhalb der Oktave zu einer Sekundschichtung F-G-a-h-c-d-e, wobei h (b quadratum) die stärkste Tendenz zur Höhe hat - entsprechend der Reihenfolge der Quintschichtung, d.h. es liegt der reinen Oktave zu C sehr nahe. Guido nämlich geht von diesem hohen h aus die Quintreihe wieder zurück, indem er abwechselnd eine Quarte nach oben und eine Quinte nach unten geht, und bildet dabei drei reine Oktaven auf C, D und E:

Nun kann natürlich auch von F aus eine Quintreihe nach unten gebildet werden, um eine chromatische Skala zu erhalten: F>b>Es>as>Des>Ges>Ces. Die erste Quinte abwärts ergibt h rotundum. In der verschränkten Form f-es-des-ces-b-as-Ges, wobei ces so nahe an b rotundum liegt wie b quadratum an c. Diese Intervallreihe bildet von der Oktave f die Umkehrung zu der Reihe: F-G-a-h-c-d-e - nur der Tritonus gis stört die Symmetrie. Die diatonische Reihe für den Ton d-authentisch wäre d-e(+)-f(-)-g-a-b(-)-c(-).

Die folgende Tabelle mit den chromatischen Intervallen ist einer Internetveröffentlichung zum Thema von Margo Schulter entnommen. Dort ist auch die Formel für "cents" zu finden, die den exponentialen Anstieg der Frequenz gegenrechnet und das Verhältnis der Intervalle zueinander ermittelt: Die Oktave mißt 1200 cents, ein Halbton in heute üblicher gleichschwebender Temperatur 100 cents, ein pythagoräischer «tonus» 204 cents und ein «semitonus» 90 cents. Die mikrotonale Verschiebung zwischen beiden been, was in Byzanz "Enharmonik" meint (apotome), beträgt 114 cents. Durch Klicken auf die Intervalle können Sinustonintervalle, also ohne Obertöne und deren Differentialtöne, gehört werden. Fast alle Intervalle wirken sehr stark als Schwebungen, hinter denen ein dritter Differentialton hervorscheint. Die Töne wurden möglichst so zusammengemischt, daß die Töne ganz außen liegen und die Schwebungen im Raum wirken können.

Pythagorean intervals and their derivations

Interval Ratio Derivation Cents Frequence example (Hz)

Unison 1:1 Unison 1:1 0.00 114
Minor Second 256:243 Octave - M7 90.22 120
Major Second 9:8 (3:2)^2 203.91 128
Minor Third 32:27 Octave - M6 294.13 135
Major Third 81:64 (3:2)^4 407.82 144
Fourth 4:3 Octave - 5 498.04 152
Augmented Fourth 729:512 (3:2)^6 611.73 162
Fifth 3:2 (3:2)^1 701.96 171
Minor Sixth 128:81 Octave - M3 792.18 180
Major Sixth 27:16 (3:2)^3 905.87 192
Minor Seventh 16:9 Octave - M2 996.09 202
Major Seventh 243:128 (3:2)^5 1109.78 216
Octave 2:1 Octave 2:1 1200.00 228

Dieses Tonsystem liegt auch der Gliederung in drei Hexachorde zugrunde, die den Wechsel zwischen b mi und b fa steuern sollen und die über einen Hymnus und seine Anfangssilben memoriert werden.

Respiratio

Der Begriff respiratio (lat. Atemholen; Pause) bezieht sich auf eine Interpunktion (media distinctio) oder auf einen Ordostrich, wo eine Atempause gemacht wird.

Responsorium

Bezeichnet im weiteren Sinne eine musikalische Form, zu der auch die Meßgattungen Graduale und Alleluiavers gehören. Es folgt immer einer Lesung, besonders Epistel- und skripturale Lesungen, hat einen solistischen Vers in der Mitte und eine solistische intonatio. Im engeren Sinne werden zwei Gattungen der Offizien unterschieden: Responsorium und Responsorium breve. Die kurze Form wird in den meisten Offizien gebraucht. Die größere Form gehört zu den Nokturnen der Matutin oder Vigilia und wird am Ende einer Nokturn mit Gloria gesungen, am Ende eines jeden Teils gibt es einen Refrain (ad repetendum), der meist von der Schola gesungen wird. Es gibt mehrere Formen:

rR1-2/v/R2/Gloria/R2 aber auch rR1-3/v1/R2-3/v2/R3/Gloria/R3

Die solistischen Teile des Responsorium (klein geschrieben) verbinden eigene responsoriale Formen der Psalmodie mit Melismen und Verzierungen (siehe Analyse des Responsoriums Petre amas me).

Stimmtausch

Stimmtausch ist eine besondere Kompositionstechnik, die seit der aquitanischen Mehrstimmigkeit überliefert ist. Bevorzugt und in extremer Form wird sie im Diskant eines Rondellus benutzt (zweite Hälfte 13. Jahrhundert), wo meist drei oder vier Stimmen ihre Formeln miteinander austauschen, wodurch die Musik sich nur durch den Registerwechsel bewegt wird, da sie nur aus Wiederholungen besteht.

Tropus

Vis organi

In der diaphonia mollis, so schreibt Guido im Micrologus, bilden c, f und g die Grenztöne (vires organi), auf dem der Organumsänger liegenbleibt, auch wenn kleinere Intervalle als Quarten entstehen. Der Grenzton wird gehalten, wenn der Cantus die distinctio über oder auf dem Grenzton schließt, geht er deutlich unter den Grenzton, wird er im Organum über dem Cantus gehalten, organum suspensum, oder das Organum springt nach kurzem Halten wieder in die Unterquarte. In diesem Sinne ist die vis organi die Basis, von der aus ein occursus gebildet wird. Es ist wohl kein Zufall, daß Guidos vires die Sockeltöne der drei Hexachorde sind. In Guidos Organum ist daher die Mutationslehre mit der Praxis der Halte- und Grenztöne eng verbunden.