Oliver Gerlach: Im Labyrinth des Oktōīchos - Das Labyrinth im einstimmigen Gesang: (3) Was ist Koukouzelīs' kalophone Methode bei der Thesis des stichirarischen Melos?

Der kalophone Melos von Nikolaos Kampanīs’ und Koukouzelīs’ Methode im Mega Ison

Auf der Grundlage dieses Fadens durch das Labyrinth wird eine Kunst des Überganges entwickelt. Durch die Wiederholung des Modells entsprechend der Wiederholung der Frage „Petrus liebst du mich?“ im Text, ergibt sich auch eine Häufung der melismatischen Felder. Doch wenn der Sänger auch dem Text nach durch Wiederholungen ermüdet — so doch nicht in der Musik, wo die Wiederholung durch die Variation ersetzt wird. In dieser Variation weiten sich die farblich markierten Felder in den Melos anderer ἦχοι aus und bilden so eine Brücke zu den in den medialen Signaturen angegebenen ἦχοι.

Als Beispiel für die Variation kann gleich das erste Melisma dienen, das über der ersten Silbe des Wortes τριττῶ sich ausbreitet. In der ersten Fassung wird das Melisma durch die cheironomischen Zeichen Lygisma (λύγισμα) und Tromikon (τρομικὸν), beide in roter Tinte geschrieben, gestaltet — abweichend vom Modell wird der Schritt zwischen G sol (δι) und b mi (ζω’) nicht mit der Kombination Dyokentīmata (δύο κεντήματα) über Oxeia (ὀξεῖα), sondern Kentīma (κέντημα) über Vareia (βαρεῖα) genommen (Rahmen in Orange):

Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv, Mus. ms. 25059, fol. 758
236: Beginn des Stichīron

Bei der Wiederholung des Gerüstes vom Anfang wird das gleiche Melisma in längerer Form mit anderen cheironomischen Zeichen in roter Tinte gebildet: Antikenōma (ἀντικένωμα) und danach die mit der Notation des Mega Ison fast identische Gruppe entlang der zwei schwarz notierten Parakalesmai (παρακάλεσμα) bilden über den Worten τῷ τριττῷ ein eigenes Kolon.[48]


237: Wiederholung des Anfangs

313: Parakalesma (παρακάλεσμα), das 25. Zeichen in Koukouzelīs' Lehrgesang «Mega Ison» (ἦχος τέταρτος)

Das folgende Kolon orientiert sich an der Körper-Neume (σῶμα) des Pelasthon (πελασθὸν), das hier offensichtlich auch eine Phrasierung anzeigt, die den Pentachord des Devteros von b mi (ζω’) nach E mi (βου) hinabsteigt und so den Übergang zur medialen Signatur des ἦχος πλάγιος τοῦ δευτέρου vorbereitet.

Der Vergleich zwischen den wiederholten Abschnitten zeigt die gestalterische Freiheit, die der Komponist im kalophonen Melos hat, während er dem Modell im alten Stichīrarion „Schritt für Schritt“ folgt. Die Namen und Bedeutung der cheironomischen Zeichen wurden den Sängern durch Lehrgesänge vermittelt, die seit dem 14. Jahrhundert überliefert sind.

Mit diesen Zeichen werden konventionelle Formeln und bestimmte formale Funktionen verbunden, die sie innerhalb des Melos eines besonderen ἦχος haben. Ein Beispiel hierfür wäre eine Gruppe des Tromikon (τρομικὸν), die einmal über ἐρωτήσεως auf der Stufe a re (κε) und zweimal über φιλεῖς auf E mi (βου) erscheint (siehe unteres Fenster).

zitiert nach: Maria Alexandru: „Koukouzeles’ Mega Ison – Ansätze einer kritischen Edition“ in: CIMAGL 66 (1996), S. 11.
314: Tromikon (τρομικὸν), das 8. Zeichen in Koukouzelīs' Lehrgesang «Mega Ison» (ἦχος πρῶτος)

Ein anderer Baustein wäre der „Aufstieg“ (ἀνάβασμα), der jedesmal bei τῆς ἐρωτήσεω-χως, τὸ πέτρε vorkommt, und ein ähnlicher – diesmal auf C sol (νη) beginnend, der alle Wiederholungen der Frage πέτρε φιλεῖς με; und das gegen Ende eingeschobene Teretismos einleitet.[49]

zitiert nach: Maria Alexandru: „Koukouzeles’ Mega Ison – Ansätze einer kritischen Edition“ in: CIMAGL 66 (1996), S. 12.
315: Anavasma (ἀνάϐασμα), das 21. Zeichen in Koukouzelīs' Lehrgesang «Mega Ison» (ἦχος τρίτος)

Die wiederkehrende Abfolge dieser Bausteine oder Formeln lassen in dem Stichīrarion kalophōnikon, geschrieben im späten 18. Jahrhundert von Gavriīl, die Schrittfolge des im traditionellen Stichīron notierten Gerüstes erkennen. Die Verbindungen zwischen diesen und die Ausdehnung der einzelnen tonalen Felder nach der Wiederholung, die das, was zu Beginn bereits angelegt war, weiterentwickeln, können gut das gewesen sein, was noch im 18. Jahrhundert als „Vordergrund“ galt. Als Komposition überlieferter „Hintergrund“ ist aber vermutlich die Umwertung der bis dahin tiefsten Stufe C sol (νη) als Ort des „tiefen“ ἦχος τέταρτος.

Nachdem schließlich die mediale Signatur des ἦχος πλάγιος τοῦ δευτέρου erreicht ist, erfolgt der im alten Stichīrarion überlieferte schrittweise Aufstieg zum ἦχος πρῶτος auf a re (κε), dem von E mi (βου) bis G sol (δι) „gefolgt“ wird. Danach erfolgt ein melismatisches Feld, um die Kadenz zu bilden. Um im Pentachord des Prōtos von a re (κε) nach D re (πα) hinabzugelangen, wird eine Formel (weißer Rahmen) gewählt, die in der Cheironomia des Mega Ison im Melos des ἦχος πλάγιος τοῦ πρώτου gebraucht wird: die παρακλητική.[50]


316: Paraklītikī (παρακλητική), das 34. Zeichen in Koukouzelīs' Lehrgesang «Mega Ison» (ἦχος πλάγιος τοῦ πρώτου)

Doch gegenüber dem Lehrgesang erscheint die nahezu identische Tongruppe eine Quarte zu tief und ist daher nicht nach a mi (κε), sondern nach E mi (βου) gerichtet, beendet dann aber das Kolon auf D re (πα) — nach der hier angezeigten Solmisation (παραλλαγή) wäre diese Formel bereits im triphonen Tonsystem aus konjunkten Tetrachorden gedacht.

Beim folgenden Wort und Kolon διορθώσατο· steht nicht eine Schlußformel in der φθορά νανὰ, sondern vielmehr eine mediale Intonation, die als Phthora einen Wechsel über den Melos bewirkt und im Teretismos diesen Wechsel als Wechsel zwischen den beiden Mesoi des Tetartos, E mi (βου) im diatonischen Melos und F fa (γα) im Melos der Phthora, rekapituliert. Um die Triphōnia zu unterstreichen, erscheint am Ende das letzte Kolon mit dem Aufstieg von C ut (νη) eine Quarte tiefer, d.h. im triphonen Tonsystem der Phthora NANA einen Tetrachord tiefer.

Dieser Schluß wäre nach einer modernen Auffassung des Melos, wie sie sich zu Gavriīls Zeit herausbildete, ein Schluß im papadikischen Melos des ἦχος πλάγιος τοῦ τετάρτου. Nach der Auffassung des 15. Jahrhunderts, wie sie in der Schrift von Manouīl Chrysaphīs dokumentiert wird, ist dieser Schluß dagegen die einzig mögliche Auflösung der Phthora NANA. Diesen zwischen papadikischer und stichirarischer Gattung stehenden Melos bezeichnet Konstantinou als „langsam stichirarisch“, da Iakovos’ Auffassung dieses Melos, in Absetzung gegen Petros’ Peloponnesios neuen rhythmischen Stil, deutlich vom Stichīrarion kalophōnikon beeinflußt war.

Um die Schwierigkeiten zu verdeutlichen, die das Lesen von Gavriīls Stichīrarion kalophōnikon bereitet, kehre ich zu den vier Ebenen zurück:

Diese Gattungsgrenzen berühren auch die zu Beginn des 19. Jahrhunderts eingeführte Neue Methode der Übertragung in die vereinfachte Notation von Chrysanthos und damit alle praktischen Probleme, die sich christlich-orthodoxen Sängern stellen, die dieses alte Repertoire aufführen möchten. Je mehr die Funktion von Koukouzelīs’ Mega Ison verlorengegangen ist, die Thesis zu lernen und damit die Fertigkeit zu erlangen, aus der spätbyzantinischen Notation zu singen, um so mehr zielen Übertragungen des Lehrgesanges darauf, Sängern alles und mehr abzuverlangen, was die Gesangskunst (psaltikī technī) ihnen auferlegen kann.[52] Die 13-seitige Übertragung in der Ausgabe von Sarafov unterschlägt mit dem Text die didaktische Idee des Mega Ison, indem er nur die vier Neumennamen textiert, die heute noch bekannt sind. Ansonsten durchläuft der Gesang, auf dreizehn Seiten transkribiert, alle acht Tonarten, 65 große Zeichen (μεγάλα σῃμάδια) und findet am Ende bei der Rückkehr in den ἦχος πρῶτος die Musik um eine Terz höher transponiert: auf F re (γα). Diese Transposition ist ein Kraftakt desjenigen, der die alte Notation übertragen hat, die Fassungen des 14. und 15. Jahrhunderts sehen dagegen keine Transposition vor. Die moderne Übertragung findet daher in der Gesangskunst nicht mehr aus dem Labyrinth heraus und hat dafür gesorgt, daß im heutigen Gottesdienst Koukouzelīs zugeschriebene Kompositionen nur noch sehr selten erklingen. Der Text läßt den Lehrgesang des Mega Ison mit den Worten enden, die noch eine andere mögliche Bedeutung der Zuschreibung des Stichīron kalophōnikon als „Verschönerung von Maïstoros Koukouzelīs“ andeutet:

ἐντεχνῶς συντέθετα παρὰ ιωάννου τοῦ κουκουζελή καὶ μαΐστορος.[53]

Würde daher ein Psaltīs oder Byzantinist auf die Idee kommen, diesem Lehrmeister, der sich hier im Namen von Iōannīs Koukouzelīs bei der Übertragung im ausgedehntesten papadikischen Melos ausgetobt hat, notengetreu zu folgen, ein Stichīron kalophōnikon wie τῷ τριττῷ τῆς ἐρωτήσεως würde zu eine Dauer anwachsen, die jeden noch so festlichen Rahmen sprengt. Damit hat dieser „Koukouzelīs“ den Lernbegierigen, die die spätbyzantinische Notation erlernen und den Vorder- vom Hintergrund unterscheiden wollen, einen tüchtigen Streich gespielt. Es wird noch eine genauere Studie nötig sein, um die spezielle Methode dieses Koukouzelīs von einer einfacheren zu unterscheiden, die der bescheidenen Idee dieses Lehrgesanges gerecht wird. Aber dieser mögliche Übergang von der gewöhnlichen zu einer besonderen Umsetzung ist auf seine Art lehrreich und beweist in der Unkontrollierbarkeit zugleich die Lebendigkeit der Traditionen orthodoxer Kirchenmusik bis heute.

Wir wissen auch nicht, wieviele Methoden auf diesen Lehrgesang angewandt wurden oder ob mit ihm nur der papadikische Melos durchexerziert wurde, da es meist in dem Buch Akolouthiai zu finden ist. Einige Übereinstimmungen mit der Notation des 14. und 15. Jahrhunderts, die in Mega Ison nicht mehr Raum einnimmt als in den üblichen Listen, wo die großen Zeichen mit Gruppen von Tonneumen gesammelt sind, lassen sich im Stichīrarion kalophōnikon aus dem 18. Jahrhundert finden — zumindest, wo die großen oder cheironomischen Zeichen in schwarzer Tinte geschrieben sind. Der Begriff Neue Methode drückt daher schon treffend aus, wie mit dieser einen Methode eine Vielzahl von Methoden verlorengegangen ist, über deren Verfall Manouīl Chrysaphīs bereits im 15. Jahrhundert geschrieben hat.

Damit sind wir zu dem heutigen Koukouzelīs-Bild gekommen, in das alle verlorengegangenen Fähigkeiten eines Prōtopsaltīs, Domestikos oder Lampadarios projiziert werden, die die Psaltes jeglichen Ranges heute verloren haben: Koukouzelīs als Sänger und Heiliger ist zum Inbegriff eines singenden Engels geworden, oft ausgedrückt durch den Beinamen „der Engelszüngige“, dessen Gesänge offenbar ewig sind und niemals verklingen. Einem schreienden oder unterbrechenden Abt oder Metropoliten kann ein orthodoxer Sänger jederzeit mit der Erwiderung begegnen: „Ich singe es eben koukouzelisch!“

die italienischen Quellen des Cherouvikon asmatikon

Anmerkungen

48

Maria Alexandru: Koukouzeles’ Mega Ison – Ansätze einer kritischen Edition, in: CIMAGL 66 (1996), S. 13; παρακάλεσμα 25 Abschnitt im ἦχος τέταρτος.

49

Vergl. M. Alexandru: Koukouzeles’ Mega Ison – Ansätze einer kritischen Edition, in: CIMAGL 66 (1996), S. 12; ἀνάϐασμα 21, Abschnitt im ἦχος τρίτος.

50

Vergl. M. Alexandru: Koukouzeles’ Mega Ison – Ansätze einer kritischen Edition, in: CIMAGL 66 (1996), S. 15; παρακλητική 34, Abschnitt im ἦχος πλάγιος τοῦ πρώτου.

51

Maria Alexandru schreibt in Koukouzeles’ Mega Ison – Ansätze einer kritischen Edition (CIMAGL 66 (1996), S. 3, Anm. 2) über den Komponisten, der am 1. Oktober als Heiliger verehrt wird und dessen Taufname angeblich Ioannīs Papadopoulos war:

Nach Erich Trapp, Critical Notes on the Biography of John Koukouzeles, in: Byzantine and Modern Greek Studies 11 (1987), S. 225-227, wurde der Komponist vor etwa 1270 geboren und lebte bis ca. 1330.

52

Peter V. Sarafov: Рьководство за практическото и теоритическо изучване на восточната църковна музника (Anleitung für das praktische und theoretische Erlernen der östlichen Kirchenmusik), Sofia 1912; S. 170-183.

53

Vergl. M. Alexandru: Koukouzeles’ Mega Ison – Ansätze einer kritischen Edition, in: CIMAGL 66 (1996), S. 22.