Zur Rekonstruktion der Nokturnen der Petrusliturgie

Um in zwei südfranzösischen Abteien arbeiten zu können, habe ich als Gegenleistung jeweils ein Konzert angeboten, das der liturgischen Form der Nokturnen folgen sollte - dem Nachtgottesdienst, in dem vor allem die Organa in der Pariser Tradition erklungen sind.

Da der Schutzpatron der Abtei Montmajour der Apostel Petrus ist, bot sich die Einbeziehung der Organa über die Responsorien Cornelius centurio und Petre amas me an. Die Aufführung beider Responsorien cum organo am Ende einer Nokturne ist seit Ende des 11. Jahrhunderts durch die nachträglich eingefügten Organa im Graduale-Antiphonar von St. Maur-des-Fossés überliefert. Diese Eintragung stammt möglicherweise von einem fremden Kantor, der im Zuge einer Reform die Kantoren der Abtei im Organumsingen unterrichtet haben könnte.

Das Responsorium Cornelius centurio gehört nicht zu der einstimmigen Liturgie, die der Schreiber der Abtei St. Maur für die Nokturnen für das Petrusfest In natale sancti petri apostolorum principis am 29. Juni vorsieht. Es ist nordfranzösischer Provenienz und findet sich auch in der Handschrift Florenz des Magnus liber organi für die Pariser Notre-Dame Kirche im 13. Jahrhundert.

Die Liturgie von Saint-Maur-des-Fossés

Folgende Antiphone und Responsorien sieht der Schreiber von St. Maur für die Liturgie der Nokturnen am 29. Juni vor:

AD INVITATORIUM

Invitatorium Christum regem regum adoremus... Invitatoriumspsalm 94 (Venite exultemus...)

IN I. NOCTURNO

6 Antiphone
A. Petrus et iohannes... mit Psalm 18 (Celi enarrant...)
A. Claudus quidam... mit Psalm 33 (Benedicam dominum...)
A. Argentum et aurum... mit Psalm 44 (Eructavit...)
A. In nomine iesu... mit Psalm 46 (Omnes gentes...)
A. Exiliit claudus... mit Psalm 60 (Exaudi deus deprecationem...)
A. Vidit populus... mit Psalm 63 (Exaudi deus orationem...)

4 Responsoria
R. Symon Petre...
R. Si diligis me...
R. Tu es petrus...
R. Domine si tu es...

 IN II. NOCTURNO

6 Antiphone
A. Petrus autem servabatur... mit Psalm 74 (Confitebimur...)
A.  Erat petrus dormiens... mit Psalm 149 (Cantate domino...)
A. Angelus domini astitit... mit Psalm 95 (Cantate...)
A. Dixit angelus ad petrum... mit Psalm 97 (Cantate domino...)
A. Exiens petrus... mit Psalm 96 (Dominus regnavit...)
A. Misit dominus angelum... mit Psalm 100 (Misericordiam...)

4 Responsoria
R. Surge Petre...
R. Tu es pastor...
R. Ego pro te...
R. Quem dicunt...

AD CANTICA

A. Gloriosi principes...

4 Responsoria
R. Solve jubente...
R. Qui regni claves...
R. Beatus es symon bariona...
R. Petre amas me...

AD PROCESSIONEM

A. PROCESSIONALIS Sancte Petre...
A. Quem dicunt...
A. Cumque vidisset...
A. Domine si tu es...
A. Petrus ad se reversus...
Benedicamus Domino

Bereits die Prozession ist von anderer Hand geschrieben und zwar auf einer Seite, die nachträglich an die Petrusnokturn angenäht wurde (nach heutiger Zählung fol.306). Es sieht danach aus, als ob die Nokturnen am Ende in eine Prozession gemündet haben, die der Übergang zur Morgenmesse gewesen ist. Wahrscheinlich begann die Zelebration zwischen 1 und 2 Uhr und dauerte bis zum Sonnenaufgang, um mit einer Prozession zur Morgenmesse überzuleiten. Diese Erweiterung ist ein Hinweis darauf, daß das Petrusfest den Rang eines Patronatsfestes gehabt haben muß. Die Abtei Saint Maur war im 7. Jahrhundert Saint Pierre geweiht.

Auf der eingefügten Seite fol. 306 hat dann noch jener dritter Schreiber etwas hinzugefügt, der wohl als fremder Kantor in die Kunst des Organumsingens eingeführt hat: Nämlich den Anfang und den Vers des Responsoriums Petre amas me, das am Ende der dritten Nocturn steht. Bereits jener Vorfall in St. Maur, der in die Miracula des Heiligen Babolenus eingegangen ist, besagte, daß nach der zwölften Lesung des Abtes jener Vorsänger Hildoard in Empörung ausbrach, um die adinventiones - "Erfindungen" - zu verhindern. Demnach ist jedem Responsorium eine Lesung vorausgegangen und wenigstens das zwölfte scheint zu festlichen Anlässen cum organo gesungen worden zu sein.

Der dritte Schreiber, der dem Graduale-Antiphonar von St. Maur - wohl Ende des 11. Jahrhundert - etwas hinzugefügt hat, notierte in mehrerer Hinsicht "adinventiones": Die Melodie von Petre amas me weicht im Vergleich zum ersten Schreiber des Antiphonars und zu den Fassungen in anderen Antiphonaren des 11. und 12. Jahrhunderts nicht sehr ab, hat aber ein Neuma - ein vom Kantor hinzukomponiertes Melisma - auf Symon am Anfang des Verses. Genauer gesagt gibt es zwei Neumae, denn der Schreiber notiert am Ende des Responsoriums eine zweite Fassung dieses Anfangs mit der Bezeichnung "ALIUD". Neben dieser horizontalen Ausschmückung gibt es noch eine vertikale: Über dem Text, der entsprechend der Schreibkonvention eines Organums nur die intonatio und den solistischen Vers des Responsoriums umfaßt, stehen zwei Neumenreihen notiert und sie ergeben zusammen einen Satz im Stil eines organum. Ein weiteres Responsorium findet sich auf der Rückseite des eingefügten Blattes (fol.306'), das nicht zu der Liturgie von St. Maur gehörte und augenscheinlich neu hinzugekommen ist. Ein weiteres Organum wäre am Ende der abschliessenden Prozession möglich. Auf dem Folio 306 notierte der dritte Schreiber drei zusätzliche Benedicamus Domino-Melodien, die mit der Wende zum 12. Jahrhundert von cluniazensischen Kantoren verbreitet wurden.

Die Liturgie von Notre-Dame de Paris

Laut Edikt des Bischofs Eude de Sully (1198) sieht die Notre-Dame Kirche auf der Ile de la Cité für die Nokturnen am Morgen des 29. Juni ein Organum für das dritte und sechste Responsorium vor - als Kathedralschule hat sie eine weltliche Liturgie, die gegenüber der monastischen nicht so ausgedehnt ist, so daß beide Responsorien jeweils die erste und die zweite Nokturn schließen. Gemäß eines Antiphonars von Notre-Dame umfaßt die Liturgie folgende Responsorien (Paris, Bibliothèque nationale, fonds lat. ms. 748):

IN I. NOCTURNO

R. Symon Petre...
R. Si diligis me...
R. Cornelius centurio...

IN II. NOCTURNO

R. Domine si tu es...
R. Surge Petre...
R. Petre amas me...

AD CANTICA

R. Tu es pastor...
R. Quem dicunt...
R. Dum esset petrus...

Beide Responsorien finden sich als Organa dupla im Repertoire des Magnus liber organi wieder und zumindest auch Petre amas me wird neben einem anderen Responsorium als Beispiel im Vatikanischen Organumtraktat aufgegriffen und bildet damit das Grundgerüst an Quellen, auf dem Huglo seine Geschichte von den ersten Pariser Organa aufgebaut hat.

Die Liturgie der Nokturnen nach der Benediktinerregel

Der genaue liturgische Ablauf der Nokturnen wird von Benedikt de Nursia (ca.480-547), dem Schöpfer der Benediktinerregel, auf die sich bis heute alle Klostergemeinden berufen, folgendermaßen beschrieben:
"Während der oben erwähnten Winterzeit singe man zuerst dreimal den Vers: Herr, öffne mir die Lippen, und mein Mund wird deinen Ruhm verkünden. Darauf folgt der dritte Psalm und das Ehre sei dem Vater. Dann der vierundneunzigste Psalm, mit Antiphon oder doch wenigsten einfach gesungen. Es folgt der Hymnus des Ambrosius, darauf sechs Psalmen mit Antiphonen.
   Sind diese gesungen, und ist der Vers gesungen, so spricht der Abt das Segensgebet; dann setzen sich alle auf die Bänke, und die Brüder lesen abwechselnd aus einem Buch auf dem Pult drei Lesungen vor, zwischen denen auch drei Responsorien gesungen werden.[...]
   Die Bücher, die man zu den Vigilien liest, sind die von Gott beglaubigten Bücher des Alten wie des Neuen Testaments, aber auch deren Erklärungen, die von den anerkannten und rechtgläubigen katholischen Vätern verfaßt sind.
[am Sonntag:]
Dann setzen sich alle geordnet und der Rangfolge entsprechend auf die Bänke, und man liest, wie wir oben bestimmt haben aus einem Buch vier Lesungen mit ihren Responsorien. Nur zum vierten singt der Vorsänger das Ehre sei den Vater [kleine Doxologie]. Sobald er es anstimmt, stehen alle sofort in Ehrfurcht auf.
   Auf diese Lesungen folgen der Reihe nach sechs weitere Psalmen mit Antiphonen wie vorher und der Vers. Darauf liest man vier weitere Lesungen mit ihren Responsorien, in der gleichen Ordnung wie oben.
   Dann singt man drei Lobgesänge aus den Propheten, die der Abt festsetzt. Diese Lobgesänge singt man mit Alleluya. Nachdem auch der Vers gesungen ist, und der Abt das Segensgebet gesprochen hat, liest man vier weitere Abschnitte aus dem Neuen Testament, in der gleichen Ordnung wie oben. Nach dem vierten Responsorium stimmt der Abt den Hymnus Dich, Gott, loben wir an. Wenn dieser zu Ende gesungen ist, liest der Abt einen Abschnitt aus dem Evangelium, wobei alle in Ehrfurcht stehen. Ist das Evangelium gelesen, so antworten alle Amen, und der Abt schließt sogleich den Hymnus Dir gebührt Lob an, und nach dem Segensgebet beginnt die Morgenfeier.
[an den Festtagen der Heiligen:]
An den Gedenktagen der Heiligen und an allen Festen hält man es so, wie wir es für den Sonntag bestimmt haben. Nur nimmt man die Psalmen, Antiphonen und Lesungen, die zum betreffenden Tag gehören. Doch wird die oben angegebene Ordnung beibehalten."
Sowohl die Abtei St. Maur, als auch St. Pierre de Montmajour und die Zisterzienserabtei Notre Dame du Thoronet, in denen wir gearbeitet haben, drücken ihren Bezug zur Benediktinerregel durch die Architektur aus: Die Benediktinerregel wurde täglich im Kapitelsaal verlesen. Dennoch ist die Art, diesen Rahmen auszufüllen, je nach Tradition sehr verschieden und es gibt auch rivalisierende Ausdeutungen. Die Zisterzienser, die gegenüber den cluniazensischen Benediktinern die besseren Benediktiner sein wollten, indem sie den Akzent auf die asketische Lebensführung setzten, um den Prunk von Cluny anzuprangern, sind nur eines von vielen Beispielen.

Die beiden Quellen, die zu den beiden Responsorien zweistimmige Haltetonorgana überliefern, sind die Fassung F des Magnus liber organi und der frühere Organumtraktat. In ihnen gibt es auch Organa über die erste Hälfte der nachfolgenden Doxologie - also bis spiritui sancto, deren Tenor nach den Formeln der responsorialen Psalmodie gebildet ist. Diese Psalmodie ist aber gar nicht so formelhaft, sondern frei und benutzt besonders am Ende Melismen, in denen melodische Wendungen der Responsorien aufgegriffen werden. Sowohl die Responsorien, wie die Psalmodie weichen in beiden Handschriften voneinander ab. Das Gloria wird schon nach Benedikt solistisch gesungen, während die Klostergemeinde in Ehrfurcht aufsteht, und gibt dem letzten Responsorium eine dreiteilige Anlage, indem die individuelle Gestalt der Psalmodie gleichberechtigt neben die beiden beiden Teile des Responsoriums tritt. Diese Dreiteiligkeit wird durch die drei Organa noch mehr hervorgehoben.

Das Responsorium Cornelius centurio

Der Improvisation eines Organums über das Responsorium Cornelius centurio legten wir eine Version zugrunde, die in einem englischen Antiphonar aus dem 13. Jahrhundert überliefert wird: Worcester, Library of the cathedral, Codex F. 160. Anders als die Fassung, die im Tenor des organum duplum Notre-Dame-Handschrift F zu finden ist, überliefert die englische Version das Responsorium in zwei Tonarten. Die intonatio der Pariser Fassung gibt bereits den d-Ton vor, in dem das ganze Responsorium steht. Dagegen intoniert der Vorsänger der englischen Fassung nach f:

Im weiteren Verlauf gibt es eine Modulation nach d, wo von der gottgefälligen Wohltätigkeit des römischen Hauptmanns Cornelius die Rede ist: vir religiosus actimens deum. Der gemeinsame Rezitationston von f-plagal und d-authentisch ist a. Durch die Wendung nach a bei religiosus ist der Quintsprung nach d vorbereitet. Durch die folgenden zwei Wörter wird die Tonart um diesen Ton zentriert, dennoch endet der erste Teil auf f. Der Text des Repetendumteils ist entgegen der Konvention dieser liturgischen Gattung länger als der solistische Teil. Es sind die Worte des Engels, der zu Cornelius spricht. Die Musik zu diesen Worten ist in der englischen Fassung so reich an Melismen gestaltet, daß dieser Teil einen zweiten Solisten erfordert. Die Struktur des Responsoriums wird verwendet, um die Zwiesprache zwischen Cornelius und dem Engel zu verkörpern. Gegenüber dem Vordersatz steht dieser Teil ganz eindeutig in d.

Der folgende Vers beruht zwar in beiden Handschriften auf der gleichen Melodie, doch die Fassung von Worcester vermeidet am Anfang den Quintsprung d-a, um die Wendung nach f bei in christo stärker wirken zu lassen, bevor der Vers schließlich auf d endet, indem die Erscheinung des Wiedergeborenen zu ihm kommt (apparuit nach f, bei ei nach d). Das System der Tonarten wird auf diese Weise bei der Darstellung der Konversion des Römers benutzt. Die Melodie des Verses wird auch für das Gloria benutzt, wobei die f-Wendungen nicht mehr wie zuvor prononciert werden. Diesem Gloria antwortet wiederum der Engel-Refrain und er erweitert damit das Responsorium zur dreiteiligen Form.

Die Liturgie von Lucca

Eine Fassung der Nokturnen, die der des Graduale-Antiphonars von St. Maur sehr nahe kommt und in der daher das Responsorium Cornelius centurio nicht vorkommt, überliefert ein Antiphonar aus Pontetetto: Lucca, Biblioteca Capitolare Feliniana, ms. 603, p.412-419.

AD INVITATORIUM

Invitatorium Tu es pastor ovium... Invitatoriumspsalm 94 (Venite exultemus...)

IN I. NOCTURNO

6 Antiphone
A. Petrus et iohannes... mit Psalm 18 (Celi enarrant...)
A. Claudus quidam... mit Psalm 33 (Benedicam dominum...)
A. Argentum et aurum... mit Psalm 44 (Eructavit...)
A. In nomine iesu... mit Psalm 46 (Omnes gentes...)
A. Exiliit claudus... mit Psalm 60 (Exaudi deus deprecationem...)
A. Vidit populus... mit Psalm 63 (Exaudi deus orationem...) und Versikel In omnem terram (Psalm 18,5)

4 Responsoria
R. Symon Petre...
R. Si diligis me...
R. Tu es petrus...
R. Domine si tu es...

 IN II. NOCTURNO

6 Antiphone
A. Petrus autem servabatur... mit Psalm 74 (Confitebimur...)
A.  Erat petrus dormiens... mit Psalm 95 (Cantate domino...)
A. Angelus domini astitit... mit Psalm 96 (Dominus regnavit exsultet...)
A. Dixit angelus ad petrum... mit Psalm 97 (Cantate domino...)
A. Exiens petrus... mit Psalm 98 (Dominus regnavit irascantur...)
A. Misit dominus angelum... mit Psalm 100 (Misericordiam et...) und Versikel Constitues eos... (Psalm 44,17-18)

4 Responsoria
R. Surge Petre...
R. Tu es pastor...
R. Ego pro te...
R. Petre amas me...

AD CANTICA

A. Gloriosi principes... mit Canticula Vos secuti... (Matthäus 19,28) und Versikel Nimis honorati sunt... (Psalm 138,17)

4 Responsoria
R. Solve jubente...
R. Qui regni claves...
R. Beatus es symon bariona...
R. Quem dicunt...

Da dieses Antiphonar zugleich aus der Zeit stammt, in der die improvisierte Form des organum purum üblich war, haben wir fast alles aus diesen Neumen gesungen. Das Responsorium Petre amas me erscheint hier in einer schlichten Form im Vergleich mit der Einfügung dritter Hand für St. Pierre-des-Fossés, wo neuma und organum den cantus erweitern. In beiden Antiphonaren wird im Unterschied zu Worcester die Doxologie mit der responsorialen Psalmodie nicht notiert.

Rekonstruktion der Lesungen und Gebete

Da die Antiphonare nur die Responsoria und die Antiphone, also den kompositorisch gestalteten musikalischen Teil des Gottesdienstes dokumentieren, mußte ich noch ein Brevier hinzuziehen, um die gesamte Liturgie der Nokturnen oder Vigilien zu rekonstruieren. Bei der Suche stieß ich auf ein Brevier, dessen Liturgie zu dem Graduale-Antiphonar von St. Maur paßt und das im Katalog der Handschriftenabteilung der Berliner Staatsbibliothek anhand der romanischen Schrift zwischen 1030 und 1040 datiert und seiner Herkunft nach im Südosten Frankreichs lokalisiert wird: Seine Signatur ist "Ms. theolog. lat. qu. 377" (qu. meint Quartformat, da die Handschriften nach ihren Formaten signiert wurden).

Das Brevier ist bescheidener gestaltet als das Antiphonar von Saint Maur und wohl auch etwas früher entstanden. Die Übereinstimmungen in der Liturgie mit St. Maur führten dazu, daß man dem antiphonalen Teil einen cluniazensischen Einfluß attestierte. Die Lectiones dagegen seien nicht cluniazensisch, sondern verraten eine eigene regionale, vielleicht maurische Tradition, die in dieser Kombination augenscheinlich in das Einflußgebiet der cluniazensischen Reform geraten war.

Die Form, die das Brevier hat, ist erst in seiner Entstehungszeit üblich geworden. Ursprünglich ein Verzeichnis von Incipits, über das alle Gebrauchshandschriften koordiniert wurden und der genaue liturgische Ablauf kontrolliert werden konnte, umfassen Breviere seit dem 11. Jahrhundert auch das Lectionar und Nocturnale, manchmal auch das Antiphonar und das Psalterium. Von den Antiphonen stehen meist nur neumierte Incipits, dagegen stehen zwischen den Lesungen in kleiner Schrift die ganzen Responsorien mit Neumen. Die Neumenschrift ist zentralfranzösisch und hat Ähnlichkeiten zu der von St. Maur: Den Knick rechts oben und die leichte Wölbung nach links im Bogen des torculus, die eckige clivis, die senkrechte Schreibachse des scandicusund die Form der quilismae - besonders in zusammengeschriebenen Melismen. Auffällig ist die Notation auch an vielen Stellen, wo die Figuren in einzelne Punkte aufgelöst werden: Sie stehen auch bei Aufwärtsbewegungen, wie man das von aquitanischen Neumen kennt.

torculus clivis scandicus quilisma puncta

Die Formeln der Lektionen sind meist nur mit durch einfache Punkte notiert: positurae. Nur in den Auslegungen des Evangeliums in der dritten Nokturn sind die positurae noch durch Neumenzeichen verdeutlicht - vielleicht, weil die Epistellesung des Petrusbriefes auswendig und die Homilie der vier Lesungen der dritten Nokturn direkt aus dem Buch vorgetragen wurde.


2. Lesung der 3. Nokturn der Petrusliturgie (Auslegung des Petrusbekenntnis von Paulus Diaconus)
Brevier aus dem 11. Jahrhundert (Berlin, Ms.theolog.lat.qu.377, fol.113)

Die vorliegende Handschrift wäre für die genaue Rekonstruktion der Liturgie denkbar geeignet, doch ist das Brevier in zwei Bände aufgeteilt, von dem nur dieser Band aus dem Winterhalbjahr erhalten ist, in dem das Fest In natale S. Petri zum 29. Juni nicht vorkommt. Dafür gibt es das andere Petrusfest In cathedra S. Petri am 22. Februar, zu dem es in vielen Brevieren und Antiphonaren Querverweise gibt, da die Liturgien der Nokturnen sehr ähnlich sind. Auch hier sind die Übereinstimmungen zu In natale S. Petri der Liturgie von Saint Maur - zumindest, was die Responsorien anbelangt, erstaunlich:

SUPER VENITE

Invitatorium Tu es pastor ovium... (Neumen sind ausrasiert) Invitatoriumspsalm 94 (Venite exultemus...)

IN I. NOCTURNO

6 Antiphone
A. In omnem terram...(Incipit)
REQVIRC INNATL aplor.

4 Lesungen mit Responsoria

Lectio prima (Erster Brief des Petrus 1,1-6)
Petrus apostolus ihesu christi...
R. Symon Petre...

Lectio secunda (Erster Brief des Petrus 1,6-12)
Modicum nunc si oportet...
R. Si diligis me...

Lectio tertia (Erster Brief des Petrus 1,13-16)
Propter quod succincti...
R. Tu es petrus...

Lectio quarta (Erster Brief des Petrus 1,17-21)
Et si patrem invocatis...
R. Domine si tu es...

 IN II. NOCTURNO

6 Antiphone
A. Vos amici...(Incipit)
A.  Tollite iugum...(Incipit)
A. Iugum enim...(Incipit)
A. Tam non dicamus vos...(Incipit)
A. Beati pacifici...(Incipit)
A. In pacientia vestra...(Incipit)

4 Lesungen mit Responsoria

Lectio quinta (Erster Brief des Petrus 1,22-25)
Animas vestras...
R. Surge Petre...

Lectio sexta (Erster Brief des Petrus 2,1-6)
Deponentes igitur...
R. Tu es pastor...

Lectio septima (Erster Brief des Petrus 2,7-10)
Vobis igitur...
R. Ego pro te...

Lectio octava (Erster Brief des Petrus 2,11-16)
Carissimi...
R. Quem dicunt...

AD CANTICA

A. Beatus petrus apostolus...
A. Iterum crucifigi...(Incipit)

4 Lesungen mit Responsoria

Lectio nona
Secundum Matheum (16,13)
In illo Tempore - Venit ihesus in partes...
Omilia venerabilis Bedae presbyterii (Paulus Diaconus):
Lectio sancti evangelii quam modo fratres carissimi audistis . ante secula promisit...
R. Solve iubente...

Lectio decima (sermon)
Si enim scire volumus...
R. Qui regni claves...

Lectio undecima (sermon)
Venit  inquit ihesus...
R. Beatus es symon bariona...

Lectio duodecima (sermon)
Interrogabat denique ihesus...
R. Petre amas me...

Lectio secundum evangelium Mathei (16,13-19)
In illo tempore - Venit ihesus in partes...

Oratio
Deus qui apostolo tuo petro...

Tatsächlich ist diese Liturgie dem Fest In natale von St. Maur ähnlicher als In cathedra. Nur die Gestaltung des Antiphonarteils scheint grundsätzlich anders zu sein: Die sechs Antiphone der zweiten Nokturn sind nicht so episch wie in den Antiphonaren von Lucca und St. Maur, sondern kompilieren die in den Evangelien überlieferten Predigten Christi, die einen Bezug zu der Priesterrolle des Petrus als Erster unter den Jüngern haben.

Von dem Schluß der letzten Nokturn ist die letzte Evangeliumslesung des Abtes in die letzten vier Lesungen eingebettet. Nur anstelle des Evangeliums wird ein Sermon über die Stelle im Matthäusevangelium gelesen, in der Petrus sein Bekenntnis ablegt. Auf dieses Bekenntnis (Matthäus 16,13-20) antwortet Jesus, indem er Petrus seinen Jüngern voranstellt (Matthäus 16,18-19):

"Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen. Ich will dir des Himmelreichs Schlüssel geben und alles, was du auf Erden binden wirst, wird auch im Himmelreich gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel los sein."

Eine andere Stelle im Evangelium, wo diese besondere Bedeutung von Petrus unterstrichen wird, findet sich in der Fassung von (Johannes 21,15-17). Sie handelt von der dritten Erscheinung des Auferstandenen am See Tiberias. Bei dem Mahl, das der auferstandene Jesus mit seinen Jüngern hält, fragt Jesus Petrus:

"Simon, des Johannes Sohn, hast du mich lieber, als mich diese haben? Er spricht zu ihm: Ja, Herr, du weißt, daß ich dich lieb habe. Spricht Jesus zu ihm: Weide meine Lämmer."
Entsprechend, daß Petrus Christus dreimal geleugnet hat, wird er dreimal gefragt: Petre amas me? und erhält dreimal die Aufgabe: Pasche oves meas. Petrus wird traurig bei der dreifachen Frage. So wächst aus seiner Sünde heraus Petrus' tiefere Bereitschaft, seine Bestimmung, die Gemeinde zusammenzuhalten, auf sich zu nehmen.

Theologisch kreisen fast alle 12 Responsorien um diese beiden Stellen und die Bedeutung, die Petrus aus dieser Vorsehung heraus zukommt. Zu ihnen führen die Lesungen aus dem Anfang des Petrusbriefes, die von der Auserwähltheit, dem Glauben und von der Verantwortung des Glaubens handeln. Mit einer Auslegung des Bekenntnisses im Evangelium - der in diesem Brevier bevorzugte Kirchenvater ist Paulus Diaconus - folgen dann die Lesungen der dritten Nokturn und integrieren die Evangelienlesung des Abtes am Ende. Nach den cantica der dritten Nokturn beginnt die neunte Lesung mit einem Vers aus dem Matthäusevangelium, der in der Homilie ausgelegt wird: 16,13. Dem Vers der Evangelienlesung wird die Formel In illo tempore vorangestellt. Danach kommt eine formelhafte Anrede der Mitbrüder, die den Bezug zur Klostergemeinde herstellt. Nach dem anschließenden Responsorium folgt mit der zehnten Lesung die Auslegung.

Wahrscheinlich ist das Evangelium und die Predigt darüber Sache des Abtes gewesen, wie bereits aus der Legende vom aufmüpfigen Mönch Hildoard hervorgeht. Die Epistellesungen aus dem Petrusbrief dagegen können auch von anderen gelesen werden, wahrscheinlich nach einer kurzen Eröffnungszeremonie, bei der der Rezitator mit den Lektionsformeln den Segen des Abtes erbittet, um nach der Segnung durch den Abt mit der Lesung zu beginnen.

Die abschließende Evangelienlesung kommt nach dem zwölften Responsorium Petre amas me mit der Doxologie, sie bettet den ausgelegten Vers in den Kontext ein und schließt zugleich den Zyklus der zwölf Responsorien. Die Führungsrolle des Petrus als Erster unter den Aposteln wird durch das Bild des Hirten verkörpert, dessen Aufgabe es ist, die Schafe zu hüten und die Herde, d.i. die Gemeinde, zusammenzuhalten. Petrus ist trotz dieser Bedeutung keine positive, sondern eine hybride Figur in der Perspektive der Evangelisten. Als Jesus die Verleugnung und den Verrat durch Petrus prophezeit, sagt er auch, daß er mit dieser Prophezeiung die Herde auseinandertreiben wird und daß es Petrus' Aufgabe sein wird, sie wieder zusammenzubringen. Die Hybris verdeutlicht er in dem Satz: Die Ersten werden die Letzten sein und die Letzten die Ersten. Diese Umkehrungen durchziehen in beiden Richtungen die Geschichte des Petrus. Diese spirituelle Idee wird reflektiert und meditiert durch das Kernstück der Petrusnokturnen: die Responsorien und die Lesungen.

Den Rahmen hierzu bildet das Schlußgebet (Oratio):

"Herr, der Du Deinem Jünger Petrus den Schlüssel zum Himmelreich übergeben hast und damit die Priesterschaft, zu binden und zu lösen, gewähre uns seine Hilfe, indem Du eingreifst, und wir werden von den Verstrickungen unserer Sünden befreit."

und das Invitatorium Du bist Hüter der Schafe, zu dem der Psalm 94 in einer sehr kunstvollen Formel mit drei Perioden und zwei Rezitationstönen gesungen wird. Die Dramaturgie der drei Nokturnen beruht auf dem Zusammenwirken ihrer Teile: Während die Responsorien Stellen aus den Evangelien zitieren oder paraphrasieren, aus der die Bedeutung des Heiligen hervorscheint, haben die 6 Antiphone am Anfang der ersten und zweiten Nokturn eine epische Funktion. Jede Antiphonserie schildert eine Episode aus dem Wirken des Petrus nach der Auferstehung Christi. Sie erzählen Vers für Vers aus der Apostelgeschichte von Lukas. Dazwischen werden die Psalmen als Gebete eingeschoben, die sich auf die Situation der Episoden beziehen. Im Graduale-Antiphonar von Saint Maur handelt die erste Nokturn von der Heilung eines Lahmen durch Petrus und die zweite von der wunderbaren Befreiung des Petrus aus einem Kerker, in den ihn Herodes sperren ließ, durch einen Engel Gottes. In der Dramaturgie der maurischen Tradition kommen den Responsorien kontemplative und den Antiphonen epische Funktionen. Das Responsorium Cornelius centurio fällt aus diesem Rahmen heraus. Die Episode von der Konversion des Römers gehört daher zum Antiphonteil der zweiten Nokturn in der Liturgie In cathedra sancti petri, wie sie in der Handschrift von Saint Maur niedergeschrieben ist. Der Text der Antiphon folgt nicht der kunstvollen Form des Responsoriums, sondern einfach der Form der Vorlage: entsprechend der Versstruktur der Apostelgeschichte.

Zu dem Ende der Vigilien ergibt sich bei der Verbindung von patristischer Homilie und abschließender Evangelienlesung wenig Raum für ein Te deum. Dieses musikalische Gewicht dürfte auf das letzte Responsorium und dessen Doxologie übergegangen sein und wurde mit der Singweise cum organo dem Kantor anvertraut. Ein Stein des Anstoßes wohl auch für den Vorsänger Hildoard, der genau an dieser Stelle protestierte. Ein anderer Hinweis, daß das Te deum in den von Cluny beeinflußten Liturgien vernachlässigt wurde, ist der besondere Wert, der den Melodien dieses Hymnus bei der Neuschaffung einer Zisterziensertradition beigemessen wurde - für einen Orden, der Ende des 11. Jahrhunderts als Gegenbewegung zu Cluny gegründet wurde. In der zisterziensischen Tradition wurden die Lesungen reduziert und die Melodien des Te deum waren dagegen sehr ausgedehnt.

In einer sehr halligen Akustik braucht die Zelebration der ganzen Liturgie drei bis vier Stunden und ist weitaus größer dimensioniert und stärker inhaltlich und dramaturgischgestaltet als das hohe Fest der Messe. Das wird der Grund sein, warum in der cluniazensisch-maurischen Liturgie die Nokturnen der Platz sind, an dem die ersten Organa improvisiert worden sind.