Anmerkungen


Kapitel 1 -  Improvisation

  • "Wenn alles nach Plan läuft, passiert eigentlich gar nichts! Ein Ereignis ist immer etwas Unvorhergesehenes. Nehmen wir als Beispiel ein Rezept für ein Schlafmittel. Was haben wir am nächsten Morgen: Wohlausgeschlafene Leichen!"

  • Volker Noelle, Professor am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Universität Basel, in einer Vorlesung zu den "Grundbegriffen der Literaturwissenschaft". Bei der Erläuterung der referentiellen Funktionen der Botschaft in Jacobsons Kommunikationsmodell bezog er auch Handlungstheorien ein. Demnach wäre die Botschaft, als Handlung von vielen Faktoren bestimmt, eine Linse, durch die der gerade Strahl der Intention des Senders, als Referenzsubjekt, gebrochen wird.
     
  • Den Begriff generativ habe ich von dem Linguisten Noam Chomsky übernommen, der sprachliche Kompetenz wie Spracherwerb anhand seiner generativen Transformationsgrammatik beschreibt.

  • Noam Chomsky: Studies on semantics in generative grammar, Den Haag: Mouton 1976.
     
  • Riemann-Musiklexikon,Bd.2,230, Ausgabe von 1989; dort ein Verweis auf Goethe: Gespräche mit Eckermann, am 28.2.1824 und 29.1.1826.

  • Angabe nach: Christian Kaden: Ex improviso - für wen? Improvisation als Kommunikationsprozess, in: Improvisation II, Winterthur 1994; S.21. Der Autor wählte diesen Artikel als Ausgangspunkt seiner Erörterung, was denn Improvisation wirklich sei.
     
  • Friedrich Erhard Niedt: Musicalische Handleitung Teil I, Hamburg 1710. Das Kapitel XII handelt Von Allemanden, Couranten, Sarabanden, Menuetten und Giquen, wie selbige aus einem schlechten General-Baß zu erfinden sind. "Schlecht" heißt in diesem Fall "schlicht, einfach". In diesem Kapitel wird zu jedem Tanz dieselbe Baßlinie in den Takt des Tanzes gesetzt und an einigen Stellen beziffert. Anschließend werden die ersten Takte des jeweiligen Tanzes ausgeschrieben, um anzudeuten, wie und mit welcher Freiheit diese Vorlage konkret ausgesetzt, oder besser: wie hiervon ein Tanz erfunden werden kann. Wäre das Wort Invention besser als Improvisation?

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  • Den style brisé, den Froberger bei dem Lautenisten Blancrochet erlernte, vorher hatte er in Italien bei Frescobaldi gelernt, lernte Louis Couperin durch Frobergers Adaption auf das Clavecin kennen. Hieraus entstand die Notation des style non mesuré von Louis Couperin, in der keine Taktstriche ein Tempo vorgeben und die nur aus einer Kaskade ganzer Noten besteht, der Linienführung durch lange geschweifte Bögen angedeutet wird.

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  • Ulrich Krämer: "Alban Berg als Schüler Arnold Schönbergs. Quellenstudien und Analysen zum Frühwerk", (= Alban Berg Studien Bd. 4, hrsg. v. R. Stephan), Wien: Universal Edition 1996.

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  • Arnold Schönberg (1947): Brahms the progressive, in: Ders.: Style and Idea, deutsche Ausgabe (übers. von Gudrun Budde): Brahms der Fortschrittliche, in: Stil und Gedanke, Leipzig: Reclam 1989; S.99-145.

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  • Zumindest für aufmerksame Hörer, die manchmal mehr hören, als im Augenblick ein Musiker bewußt gestaltet haben mag. Aber auf die Wahrnehmung einer Hörerin oder eines Hörers kommt es hier an!

  • Die Unterscheidung zwischen bewußter und intuitiver Gestaltung bei der Analyse einer Improvisation kann nur über Protokolle getroffen werden, in denen die Musiker ihre Entscheidungen rekonstruiert und aufgeschrieben haben.
     
  • Christian Kaden: op. cit., S.21.

  • Die helvetische Rechtschreibung ist vom Herausgeber.
     
  • Doch nicht zu unterschätzen! Der Film Shine über den Pianisten Jeremias Gotthelf hatte immerhin einige Leitmotive, die auch bei den Soziologen wiederkehren:
  • Vielleicht nicht ganz uninteressant - in diesem Zusammenhang ist die Interpretation des Narziß-Mythos Theweleits, die er von Marshal McLuhan übernommen hat. McLuhan geht nicht davon aus, daß Narziß in sich verliebt ist, sondern daß Narziß im Umgang mit medialen Apparaten ein Unfall unterlaufen ist. Er nennt den medialen Zug, dem die Erstarrung anhaftet, narkotisch:
  • "Es ist vielleicht bezeichnend für die Tendenz unserer starken technischen und daher narkotischen Kultur, daß wir die Geschichte des Narziß lange Zeit so ausgelegt haben, daß sie eine Verliebtheit in sich selbst bedeute..."
    Klaus Theweleit schreibt in seinem Buch der Könige (Bd.1; Basel, Ffm 21991; S.369) über die Erstarrung vor dem Spiegelbild: Bei der Aufführung einer Komposition wäre der Musiker nur im Extremfall der bedienende Teil eines geschlossenen Systems. Wäre der Komponist ein Gott, so wäre der Musiker ein Priester und das Publikum seine Gemeinde. Durch den Historismus hat die Autorität des Interpreten noch die sakralen Weihen des Musikwissenschaftlers hinzugenommen. Veröffentlichungen wie Harnoncourts Der musikalische Dialog zeugen davon. Das Publikum unterscheidet den intellektuellen Typ wie Nikolaus Harnoncourt (historisierende Interpretation) oder Glenn Gould (aktualisierende Interpretation) vom intuitiven Typ (traditionelle Interpretation). Die Angaben in den Klammern beziehen sich auf Danusers Idealtypen in seinen Texten zur musikalischen Interpretationskultur. Das System ist so geschlossen wie diese Kultur überhaupt.
     
  • Christian Kaden (1990): "Aufbruch in die Illusion". Kommunikationsstrukturen in der Musik des späteren 18. Jahrhunderts, in: Ders.: Des Lebens wilder Kreis, Kassel 1993; S.150.

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  • Großes Modell für die öffentliche Versprachlichung von Intimitäten waren die Confessions von Jean-Jacques Rousseau. Nach der französischen Revolution überschattete die Popularität dieses Werkes die politischen Ideen des Autors. Liest man Schleiermachers Versuch einer Theorie des geselligen Betragens, der im Umkreis der Berliner Salonkultur entstanden ist, sieht man, wie diese Ideen einem  Rückzug ins Private weichen. In diesem Gesellschaftsvertrag, den er sich und den anderen Teilnehmern auferlegt, werden die sozialen Unterschiede zwischen ihnen ausgeblendet. Ihre Utopie bestand dagegen darin, daß sie hier zusammentreffen konnten, soweit eine bürgerliche Bildung ihnen Zugang verschaffen konnte.

  • Rousseau wurde für diesen Rückzug zum Prototyp stilisiert: Robinson sei in die Idylle geflüchtet. Rousseaus Rückzug auf eine Insel im Bieler See, den er in seinen Confessions beschreibt, machte aus der Initiation des höheren Sohnes für eine gerechtere Gesellschaft (Emile) den Rückzug eines Idealisten von seinen Idealen - hinein in die Infantilität. Dafür wurde er in den Satiren von Jean Paul und Musäus zur Gallionsfigur des neuen Rousseauismus im Deutschland des frühen 19. Jahrhunderts.
     
  • Im Paris der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts, als die Improvisation auf dem Klavier noch eine lebendige Tradition hatte, beobachtete Heinrich Heine bereits die Verwandlung von Pianisten und ihrem Publikum in Automaten, die er mit Bezug auf die industrielle Revolution als Akt der Selbstkasteiung der bourgeoisen Gesellschaft ansah - die Kunst werde mechanisirt (Musikalische Berichte aus Paris, 1843, in: Sämtliche Werke, hrsg. v. G. Karpeles, Bd. 10, Leipzig o.J.; S.265):
  • "Diese grellen Klimpertöne ohne natürliches Verhallen, diese herzlosen Schwirrklänge, dieses erzprosaische Schollern und Pickern, dieses Fortepiano tötet all unser Denken und Fühlen, und wir werden dumm, abgestumpft, blödsinng. Diese Überhandnehmen des Klavierspielens und gar die Triumphzüge der Klaviervirtuosen sind charakteristisch für unsere Zeit und zeugen ganz eigentlich vom Sieg des Maschinenwesens über den Geist. Die technische Fertigkeit, die Präcision eines Automaten, das Identifizieren mit dem besaiteten Holze, die tönende Instrumentwerdung des Menschen, wird jetzt als das Höchste gepriesen und gefeiert."
    Die Klavierkompositionen von Liszt, Chopin und Schumann können als Gegenprogramm gegen diese Erstarrung gesehen werden: Diese Musiker komponieren den ausgetriebenen Geist wieder in die Klaviermusik, indem sie die einzelnen Stücke in Zyklen auseinander entwickeln und sie mit einer poetischen Idee codieren. Diese Entwicklung könnte von zwei Richtungen her betrachtet werden: Die Erstarrung der Improvisation zur Komposition oder die Anreicherung der Kompositionstechnik durch formale Prozesse der Improvisation.
     
  • Erstes Zitat: Interview aus - Katharine Kuh: Marcel Duchamp, S.81.

  •   Zweites Zitat: Interview aus - Francis Roberts I propose to  strain the laws of physics, in: Art News 67/8 (1968).
    Angaben nach: Gloria Moure (Hg.): "Marcel Duchamp - Eine Ausstellung im Museum Ludwig, Köln, 27.6.-19.8.1984", Köln 1984. Hier wurden die Zitate zusammengetragen.
     
  • Umberto Eco: Opera aperta, Milano: Bompiani 1962.

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  • Heinrich Christoph Koch: Versuch einer Anleitung zur Composition, Zweyter Theil, Leipzig: Böhme 1787, alle drei Bücher 1969 als Reprint bei Olms (Hildesheim) erschienen; Bd.II, S.53:
  • "...findet man gleichsam von ohngefähr (und dieses kann auch bei blosen Instrumentalsätzen geschehen) eine schöne Wendung, welche eine Abänderung des Gewöhnlichen nöthig macht, so binde man sie nicht ängstlich an die bekannte Form, sondern man bilde sie so, wie es der Satz den man bearbeitet, erfordert, wenn man versichert ist, daß man eine würkliche Vervollkommnung des Satzes bewürken kann, und wenn dabey im Ganzen kein anderer zufälliger Uebelstand zum Vorschein kommt."
  • Christian Kaden: op. cit.
  • Karlheinz Stockhausen: Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik , Bd.1: Aufsätze 1952-1962 zur Theorie des Komponierens, Köln: DuMont Schauberg 1963; S.140.

  • Für Stockhausen führten die seriellen Techniken zur Elektronischen Musik. Dazu heißt es:
    "Offensichtlich werden also keine Instrumente verwendet, die von irgendeinem Interpreten gemäß einer Partitur gespielt werden. In der Elektronischen Musik hat der Interpret keine Funktion mehr."
  • Daß das Durchspielen aller Permutationsmöglichkeiten ebenfalls nicht der Komposition allein vorbehalten ist, zeigt sich wiederum bei John Coltrane. Gleich in den ersten zwei Minuten der Aufnahme von Supreme love ist die fast systematisch anmutende Permutation eines dreitönigen Motivs, das eben nicht - beim ersten Erscheinen - als Thema musikalisch in Szene gesetzt wird, sondern als Spielfloskel die Improvisation eröffnet und beim ersten Hören wohl nicht als solches bemerkt wird.
  • John Coltrane "Love supreme"

    Es ist bekannt, daß dieses Permutationsspiel in Coltranes musikalischer Arbeit einen wichtigen Platz einnahm. Kaden dagegen hält Konstruktionen, die zum systematischen Durchspielen aller Möglichkeiten neigen, für einen Extremfall kompositorischer Planung.
     

  • Das digitale MIDI-Format (Musical Instrument Digital Interface) erlaubt die Speicherung und digitale Bearbeitung "des kinetischen Teiles einer musikalischen Darbietung" (Formulierung von Marco Maria in seinem Aufsatz Neue Musiktechnologie, Körperbewegung, Musikwissenschaft). Sie ist die "eingefrorene Bewegung" des Musikers, von ihrer Einwirkung auf die Mechanik eines Klaviers her aufgenommen.

  • Mit dieser Technik wäre eine exakte Aufführung von Structures Ia möglich. Würde das angestrebt werden, wäre bereits hier der Interpret überflüssig und durch einen digital gesteuerten Automaten ersetzt worden. Erst dann gäbe es ein subjektfreies Werk, in das die Hörer Strukturen hineinhören könnten, wie wenn sie dem Prasseln von Regentropfen zuhören würden.
     
  • Wulf Arlt: Warum nur viermal? Zur historischen Stellung des Komponierens an der Pariser Notre Dame, in: Festschrift für Ludwig Finscher, Kassel 1995; S.44-48.

  •  
  • Karel Goeyvaerts: Rundfunkvortrag

  •  
  • Fritz Reckow: Processus und structura - Über Gattungstadition und Formverständnis im Mittelalter, in: Musiktheorie 1 (1985); S.5-29.

  •  
  • Frances A. Yates: Die Gedächtniskunst im Mittelalter, in: Dies.: Gedächtnis und Erinnern, Weinheim: VCH, Acta humaniora 1990; S.54-81.

  •  
  • Daniel Leech-Wilkinson: Written and improvised polyphony, in: Polyphonie de tradition orale, Paris 1993; S.171-182.

  •  
  • Leo Treitler: Der Vatikanische Organumtraktat und das Organum von Notre Dame de Paris, in: Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis 5 (1983), Winterthur: Amadeus; S.25.

  •  
  • Hierüber gibt es einen ganzen Streit von Aufsätzen, in denen Treitler, durch viele Erwiderungen seiner Kollegen veranlaßt, seine Theorie in vielen Punkten weiter ausgearbeitet hat. Ausgangspunkt ist der erste Aufsatz von 1974 (nächste Fußnote).
  • Leo Treitler: Homer and Gregory: The Transmission of Epic Poetry and Plainchant, in: Musical Quarterly 60 (1974), S.333-372; die 10 Punkte sind nach S.344f übersetzt.

  •  
  • Frederic C. Bartlett: Remembering: A study of experimental and social psychology, Cambridge 1932; reprint 1972. Jeff Pressing hat sich direkt mit Improvisation als kognitiven Prozeß auseinandergesetzt:
  • Frances Yates (op.cit.) verweist auf die im Mittelalter Tullius (Cicero) zugeschriebene Rhetorica vetus  et nova, die sich aus De inventione und Ad Herennium zusammensetzte. Beide Autoren gelten heute als unbekannt - erstere wird der Schule Ciceros, zweitere den nordafrikanischen Rhetorikzirkeln zugerechnet. Diese Textkompilation ist seit dem 9. Jahrhundert überliefert und scheint vor allem im 12. bis 14. Jahrhundert sehr populär gewesen zu sein.

  •  
  • Peter Wagner: Gregorianische Melodien, Bd.3: Gregorianische Formenlehre, Leipzig 1921, Reprint: Hildesheim: Olms 1962.


  • Kapitel 2 - Quellen
  • Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Ottob. lat. 3025, fol.46-50'.

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  • Zur Datierung:
  • Bezeichnung nach Coussemaker (Anonymus 4: De mensuris et discantu, in: Edmond de Coussemaker (Hg.): Scriptorum de musica medii aevi nova series a Gerbertina altera, 4 Bde., Paris: Durand 1864-76; Reprint: Hildesheim: Olms 1963; Bd.1). Es wird angenommen, daß Anonymus 4 aus Bury St. Edmunds (Schottland) stammt und Zögling an der Notre-Dame-Schule war.

  •  
  • Das Zitat folgt der neueren Ausgabe von Fritz Reckow (Der Musiktraktat des Anonymus 4, in: Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, Bd. 4-5; 2 Bde., Wiesbaden: Steiner 1967; Bd.1, S.46).

  •  
  • Michel Huglo: Notated performance practices in Parisian chant manuscripts of the 13th century, in: Plainsong in the age of polyphony, Cambridge 1992, S. 32-44.

  • Die drei Organa sind zu den Responsorien Operibus (6.12., St. Nicolas, nur in Saint Maur) und Petre amas me (29.6., St. Petrus, in Notre-Dame und Saint Maur) und zu dem Alleluiavers Hic martinus (11.11., St. Martin, in Saint Maur). Die in Klammern gesetzten Zuordnungen folgen Huglos Aufsatz.
     
  • Michel Huglo: Les débuts de la polyphonie à Paris: Les premiers "organa" parisiens, in: Aktuelle Fragen der musikbezogenen Mittelalterforschung. Texte zu einem Basler Kolloquium des Jahres 1975, Forum Musicologicum III (1982); Winterthur: Amadeus; S.93-164.

  •  
  • translatio sancti baboleni: Zur Liturgie der Translatio gehört eine Prozession, bei der ein Reliquienschrein - meist mit einer Büste des Heiligen geschmückt - getragen wird.

  •  
  • Acta Sanctorum, Bd. V (Junii), Brüssel 1867, S.183.

  • Beruht wahrscheinlich auf der Vita Baboleni: Troyes, Bibliothèque municipale, ms. 2273.
    Biblioteca hagiographica latina antiqua et mediae aetatis, ed. socii Bolandiani, Brüssel 1898-1901; S.887.
    Angaben nach Huglo (op.cit., S.95/96).
     
  • Amédée Gastoué: Histoire du chant liturgique à Paris, Paris 1904; S.77ff.

  •  
  • Paris, Bibliothèque Nationale, fonds latin, ms. 12596 und ms. 5607.

  •  
  • Christian Kaden: Die Anfänge der Komposition, in: Des Lebens wilder Kreis, Kassel 1993; S.65ff.

  • Seine Formel lautet: oratio et labor statt bellum et labor. Trotz der Losung, die Benedikt  in den Mund gelegt wird: ora et labora, ergibt sich aus der Regel eher eine Dreiteilung: Gebet, körperliche Arbeit und Meditation.
     
  • Eine Version des Gegensatzes weltlich/geistlich aus dem späten 14. Jahrhundert findet sich in dem Melusinenroman des Jean d'Arras, der eine Herrschergenealogie für das Geschlecht der Lusignan entwirft: Die Ahnmutter Melusine, die von der keltischen Fee Morrigane abstammt, steht für das weltliche Glück und seinen Verfall. Für den Verfall selber steht der hybride Held Geoffroy, der das Kloster Maillezais anzündet, worin sein Bruder eingetreten ist - eine Kain-und-Abel-Geschichte, die den Tabubruch in der Mahrtenehe ihrer Eltern und damit den Exorzißmus ihrer Mutter Melusine nach sich zieht. In ihrem letzten Moment prophezeit die Fee Melusine ihrem Gatten das Schicksal von Geoffroy und seine Bedeutung für die Dynastie: Geoffroy habe als Werkzeug Gottes gehandelt, denn Gott habe über die Mönche ihren Untergang verhängt, da sie ihre Regel nicht eingehalten hätten. Sie selbst hatte das Kloster gestiftet, er habe es vernichtet und werde dafür viele neue aus Reue stiften. Was wären die Klöster ohne ihre Stiftsdamen oder -herren?

  • Das historische Vorbild dieses Helden hatte eine etwas schlichtere Geschichte. Geoffroy de Lusignan, der ein Gottesleugner gewesen sein soll, verwüstete 1232 die Ländereien der Abtei Malliers - immerhin ihre ökonomische Grundlage - und mußte im Jahr darauf beim Papst Buße tun.

    Eine jüngere literarische Umsetzung des Antagonismus findet sich in Dostojevskijs Bratja Karamasovy, wo die Figur des Starez Sosima der Gegenentwurf zur Gestaltung des Atheismus in der Figur des Ivan Karamasov ist. Der Starez spricht von der Befreiung, "einiges über den russischen Mönch und seine mögliche Bedeutung" und der Konkurrenz zwischen weltlicher und monastischer Lebensweise:

  • Daniel Leech-Wilkinson: op.cit., S.173ff.

  • Über mögliche Organumpraxis bei den Zisterziensern diskutieren:
  • Das Zitat ist meine Übersetzung nach einer englischen Internetveröffentlichung. Der Originaltext findet sich in: Amnon Shiloah (University of Jerusalem): On Jewish and Muslim musicians of the Mediterranean, erschienen in einer multimedialen Publikation zu Musical Anthropology of the Mediteranean von Ethnomusicology Online (EOL)

  •  
  • Auch in Tarkovskijs Film über Andrej Rubeljov führt die Erkenntnis des Ikonenmalers Andrej, daß nicht Gott, sondern er selbst die Ikonen schafft, dazu, daß er die Malerei aufgibt.

  •  
  • Die besondere Hierarchie, in der die sakrale Musik ganz oben steht, findet sich in zahlreichen Abbildungen dargestellt. Sie steht oben als Verbindung zum Himmel - als Gewölbe, und bezieht damit die besondere spirituelle Funktion sakraler Architektur in die bildnerische Gestaltung mit ein. Der Hall, den die Akustik dieser Räume der Musik verleiht, erweckt ebenfalls den Eindruck räumlicher Weite. Auf der Seite des Wissens erscheint die Musik eingebettet in das System der sieben freien Künste, zu ihren Nachbardisziplinen Rhetorica und Grammatica. Dagegen gibt es die Musen der Musik und der Dichtung, in vielen mittelalterlichen Bildern aus dem Kreis der Künste ausgeschlossen, oder die weltliche Musik, die gegenüber dem Himmel mit der göttlichen Musik in eine Unterwelt gebannt wird. Dieser Gegensatz erinnert bereits an Shiloahs These von der Nähe zwischen Vergöttlichung und Verteufelung.

  •  
  • Frances A. Yates (op.cit.) weist ausdrücklich darauf hin, daß die Gedächtniskunst im Mittelalter eine religiöse Praktik ist - eine Meditation, die sich auf einer imaginären Landschaft zwischen den Gedächtnisorten bewegt, sie der Reihe nach aufsucht, aber bestimmte auch meidet. Diese Orte werden zu Komplexen unter die illustren Gedächtniszeichen wie Himmel und Hölle zusammengefaßt. Der Hinweis der Scholastiker, daß für die Gedächtnislandschaften erhabene Räume - z.B. das Innere einer Kirche - vorgestellt werden sollen, machte Yates darauf aufmerksam, daß eine Kirche mit ihren Bildern, Fenstern, Kapellen und Altären oft bereits nach dem Vorbild der Gedächtnislandschaften gestaltet ist. Solche Raumkonzeptionen sind durch ihre Funktion bestimmt, Ort für Gottesdienste und Prozessionen zu sein. Die Gedächtnisorte im Ablauf einer Liturgie zu suchen, liegt von daher ebenfalls nahe. Ein anderes populäres Beispiel ist natürlich auch Dante.

  •  
  • Epitaph aus zwei Handschriften, von gleicher Hand geschrieben (zitiert nach Huglo op.cit.):
  • Dieser Zusammenhang wird noch genauer im Kapitel über Modalität behandelt.

  •  
  • Es ist wohl kein Zufall, daß er in der Forschung für Guido Aretinus gehalten wurde:

  • Hans Oesch: Guido von Arezzo, Bern 1954.
     
  • Paris, Bibliothèque Nationale, fonds latin, ms. 12584, fol.306-306'.

  •  
  • Das zweite Neuma, das dem Responsorium mit der Rubrik Aliud folgt, findet sich auch in der späteren Handschrift aus Beauvais (London, British Library, ms. Egerton 2615) - dort mit der Rubrik in choro cum organo versehen.

  •  
  • Florenz, Biblioteca mediceo-laurenziana, Pluteo 29,I.

  •  
  • Zwei weitere Organa fand Huglo in anderen Handschriften aus Saint Maur:
  • Guido von Arezzo: Micrologus, Edition und deutsche Übersetzung in: E.L. Waeltner: Die Lehre vom Organum bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts, Tutzing 1975, S.90-103.

  •  
  • Besonders die Aufsätze von Susan Rankin zu Winchester Polyphony und Wulf Arlt zu den französischen Organa des 11. Jahrhunderts - in: Susan Rankin & David Hiley (Hgg): Music in Medieval English Liturgy, Oxford: Clarendon 1993.

  •  
  • z.B. zwei Transkriptionen vom Responsorium Martir clemens, auf unterschiedlichen Rekonstruktionen des cantus beruhend - in: Wulf Arlt: Stylistic Layers in 11th-Century Polyphony in op.cit.; S.136.
  • Die erste Rekonstruktion stammt von Huglo (op.cit., S.111) und die zweite aus:
  • Marion Gushee: Romanesque Polyphony - A Study of the Fragmentary Sources, Diss. Yale University 1965 (Ann Arbour Mf. 65-9676), 131ss.
  • De diaphonia, id est organi precepta und Dictae diaphoniae per exempla probatio (Vom Zusammenklang, d.i. die Lehre vom Organum; Veranschaulichung der beschriebenen Zusammenklänge durch Beispiele) heißen die beiden Kapitel.

  •  
  • Guidos Micrologus, zitiert nach Waeltner (op.cit.).

  •  
  • Guidos Micrologus, zitiert nach Waeltner (op.cit.).

  •  
  • Guidos Micrologus, zitiert nach Waeltner (op.cit.).

  •  
  • Diese Starrheit der Regeln hat Tradition. Die Organumregeln der Musica enchiriadis gingen hierin sogar so weit, daß sie ein Tonsystem nahelegten, das mit den diatonischen echoi des Westens gar nicht mehr vereinbar war. Guidos Überwindung dieser Starrheit, die er sich selbst zugute hielt, ist daher, obwohl sie sicher eine Lösung dieses Problems war, relativ.

  •  
  • Guidos Micrologus, zitiert nach Gerbert (Scriptores ecclesiastici, R: Hildesheim 1963; Bd.2, S.23).

  • Diese Idee - bezogen auf diese Passage aus dem Antiphon O sapientia - wurde im Traktat von Sélestat (Bibliothèque et Archives de la Ville 17) noch weiter ausgebaut:
  • Susan Rankin: Winchester Polyphony, in op.cit.; S.74-77.

  •  
  • Guidos Micrologus, zitiert nach Waeltner (op.cit.).

  •  
  • Michel Huglo: op.cit., S.121.

  •  
  • Michel Huglo: op.cit., S.95:
  • Christian Kaden: Die Anfänge der Komposition, in: Des Lebens wilder Kreis, Kassel 1993; S.71f, 88.
  • Zu Kadens Besprechung der Varianten auf S.88:

    Die beiden Varianten ergeben nur in einer rein melodischen Transkription dasselbe. In der Praxis besteht ein großer Unterschied, ob ein Ton mit einem oriscus zu verzieren ist oder nicht. Mir ist keine Schreibschule bekannt, die das anders als punktuell notieren könnte.
     

  • Christian Kaden: op.cit., S.74.

  •  
  • Montpellier, Bibliothèque de l'Université, Section de médecine, ms. H 384, fol.122-123.

  •  
  • Milano, Biblioteca Ambrosiana, M. 17, sup., fol.58.
  • Dieser Traktat ist außergewöhnlich. In seinem Prolog polemisiert der Autor gegen Guidos Organumlehre, kompiliert die Teile aus Micrologus, die den diaphoniae modus durum - Organum in Quart-Oktav-Parallelen - betreffen, und kurze Passagen aus dem Montpellier-Traktat. Guidos diaphonia dura wird nur gebraucht, um auch die diaphonia mollis auf die gleichen Intervalle festzulegen. Danach folgen 5 modi organizandi, die durch Beispiele erläutert werden. In einem Epilog wird der eingeschränkte Gebrauch der Intervalle ethisch gerechtfertigt. Der zweite Teil des Traktats ist in gereimten Versen geschrieben und behandelt das Organum metaphorisch: So verhalten sich beide Stimmen wie zwei Liebende, die in einem Kuß zusammenfinden - mit eingestreuten Beispielen zu einem cantus mit den Worten Hoc est exemplum. Hier aber werden im Unterschied zum ersten Teil keine Regeln gelehrt, sondern fertig komponierte Organa eingeübt.

    Eine Kopie um 1300 überliefert zwei Varianten zu Mailand und Montpellier: Berlin, Staatsbibliothek, Ms. theol. lat. qu. 261, fol.48-61'.
    Der cantus zum organum über den Alleluiavers Iustus ut palma ist durch diese Quelle überliefert.

    Eine ausführliche und hervorragende Besprechung dieses Traktats, überhaupt der theoretischen und praktischen Quellen zur Mehrstimmigkeit des 11. und 12. Jahrhunderts bietet Sarah Ann Fuller: Early Polyphony, in: New Oxford History of Music, Bd. 3, Oxford 1990; S.508-525.
     

  • Cambridge, Corpus Christi 473, fol.164. Übertragung aus Andreas Holschneider: Die Organa von Winchester - Studien zum ältesten Repertoire polyphoner Musik, Hildesheim 1968, S.97ff.

  •  
  • Chartres, olim Bibliothèque de la Ville 109, fol. 75. Übertragung wie in Sarah Fuller: Early Polyphony, (op.cit., S.519)

  •  
  • Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Reg. lat. 586, fol.87. Übertragung aus Wulf Arlt: Stylistic Layers, (op.cit., S.139).

  •  
  • Zitiert nach der Ausgabe von Edmond de Coussemaker: Histoire de l'harmonie au moyen-age, Paris: V. Didron, 1852; S.226-43.

  •  
  • Zitiert nach Coussemaker (op.cit., S.232).

  •  
  • Womit ich Treitler widerspreche, der den Vatikanischen Organumtraktat für einen Lehrtraktat in "mündlicher Komposition" hält - und sogar für den ersten. Von Improvised Polyphony spricht dagegen auch Daniel Leech-Wilkinson.

  •  
  • Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Ottob. lat. 3025, fol.46-50'.

  •  
  • Zitiert nach der Ausgabe von Irving Godt and Benito V. Rivera (The Vatican Organum Treatise, in: Gordon Athol Anderson (1929-1981) in memoriam, Henryville 1984; Bd.2, S.293).

  •  
  • Ebenda, S.294.

  •  
  • Ebenda, S.297f.

  • Die Tonnamen bezeichnen loci auf der Guidonischen Hand.
     
  • Ebenda, S.295.

  •  
  • Santiago di Compostela, Biblioteca de la Catedral, Liber sancti jacobi codex calixtinus, fol.185.

  •  
  • Venezia, Biblioteca Marciana, ms. lat. VIII. 85 (3570), fol.40'-43'.
  • Klaus-Jürgen Sachs: Zur Tradition der Klangschritt-Lehre. Die Texte mit der Formel «Si cantus ascendit...» und ihre Verwandten, in: AfMw 28 (1971), S.233-270.
  • Den Begriff übernimmt er von Eggebrecht, der die Traktatgruppe gegenüber der früheren "Klangfolge-Lehre" abgrenzen wollte. Die Traktate der Klangschritt-Lehre reichen vom zweiten Teil des Mailänder Traktates (um 1100) bis in das frühe 14. Jahrhundert. Er unterteilt sie in vier Gruppen. Den Vatikanischen Organumtraktat zählt er zur zweiten Gruppe, die durch die diatonische Zählung der Intervalle (z.B. «duas voces» für eine große oder kleine Sekunde) und der Bevorzugung der Quinte gegenüber der Quarte charakterisiert sei.
     

  • Zitiert nach der Ausgabe von Irving Godt and Benito V. Rivera (op.cit., S.299).

  •  
  • Reaneys Beschreibung der vatikanischen Handschrift in RISM 4,1.

  •  
  • Zitiert nach der Ausgabe von Irving Godt and Benito V. Rivera (op.cit., S.298).

  •  
  • Paris Bibliothèque nationale, fonds lat., ms. 1139, fol.60', und ms. 3719, fol.166'.

  •  
  • Paris, Bibliothèque Nationale, fonds latin, ms. 1120, fol.105.

  • Die Melismen des Organum lassen sich anhand der Strichpunkte klar den Cantustönen zuordnen. Meine Transkription orientiert sich an der von Sarah Fuller, die davon ausgeht, daß der Cantus auf D beginnt und endet, während das Organum in der Oktave beginnt und im Einklang endet. Vergleiche die Übertragung in der Dissertation von Sarah Ann Fuller: Aquitanian Polyphony of the 11th and 12th centuries, Diss. 1969 (University of California, Berkeley), 3 Bde., Ann Arbor Michigan (u.a.): University Microfilms International 1982; Bd.3, S.131.
     
  • Zitiert nach der Ausgabe von Reckow (op.cit., Bd.1, S.88).

  •  
  • In RISM und Friedrich Ludwigs Repertorium (Bd.2) unter MüA beschrieben, denn in München liegen zwei Doppelblätter aus einem Motettenfaszikel dieser Notre-Dame Handschrift. Andere Fragmente dieser Handschriften waren im Privatbesitz von Johannes Wolf und galten als verschollen, bis es in der Berliner Staatsbibliothek bei einer Katalogisierung seines Nachlasses wiederauftauchte (Herbst 1998). Seine neue Berliner Signatur ist: 55 MS 14. Entsprechend der Zählung der Blätter in Ludwig stammt dieser Fetzen, der nicht viel weiter geht als dieser Bildausschnitt, aus der rechten unteren Ecke des Blattes C1, das aus einem Faszikel des zweistimmigen Magnus liber organi stammt. Die Abbildung zeigt die Versoseite, auf der ein Organum im Einklang auf E beginnt.

  •  
  • Das Organum duplum über das marianische Graduale Benedicta et venerabilis hat ebenfalls in der Fassung von W2 (fol.77) ein ligiertes principium ante principium am Anfang des Verses Virgo.

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  • Zitiert nach der Ausgabe von Reckow (op.cit., Bd.1, S.88). Anonymus 4 kurz vor Ende seines Traktats. Er entwirft hier - im siebten Kapitel - auch das System der rhythmischen modi irregulares, mit dem er den vormodalen Rhythmus des organum purum zu erklären versucht. Es darf als sein Kapitel über das organum purum gelten.
  • Über das System der modi irregulares ist viel spekuliert worden, um eine rhythmischen Transkription der vormodalen organum-purum-Passagen in den von Perotin bearbeiteten Quellen des Pariser Magnus liber organi zu rechtfertigen. Eine Besprechung der musikwissenschaftlichen Kontroverse und der theoretischen Quellen, freilich ohne zu einem verbindlichen Ergebnis zu kommen, findet sich bei Jeremy Yudkin: The rhythm of organum purum, in: JAMS2 (1983/84), S.355-376.

  • Diese Haltung ist mit der der Zisterzienser vergleichbar. Der Orden der Prämonstrazenser ist erst im 12. Jahrhundert (1120) in Prémontré gegründet worden, etwa 20 Jahre nach der Gründung von Cîteaux. Ein ähnlicher Wille zur Schaffung neuer "wahrer Traditionen" wird sich der theoretischen Modelle des 11. Jahrhunderts bedient haben, wobei bestehende regionale Traditionen als Abweichung von der wahren gregorianischen Tradition betrachtet wurden. Zur Zeit von Hieronymus war diese "wiederhergestellte" Tradition immerhin schon 150 Jahre.

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  • Zitiert nach der Ausgabe von Simon Cserba (Hieronymus de Moravia: Tractatus de musica, Regensberg 1935, Bd.2, S.184f).

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  • Ein Beispiel hierfür ist ein Colloquium 1989 in Royaumont, dessen Beiträge veröffentlicht wurden:
  • Das Interesse von Marcel Pérès und seine Arbeit im Ensemble Organum wird im nächsten Kapitel über Modalität diskutiert. Es hatte jedenfalls Einfluß auf die Arbeit vieler anderer Ensembles in romanischen Ländern und in Polen.
     
  • Artikel im New Grove Dictionary (1980, Bd.9, S. 607).

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  • Zitiert nach der Ausgabe von Simon Cserba (Hieronymus de Moravia: Tractatus de musica, Regensberg 1935, Bd.2, S.187 & 186).

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  • Ebenda., S.185f.

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  • Klaus-Jürgen Sachs: op.cit., S.250-266.

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  • Saint-Dié, Bibliothèque Municipale, ms. 42.
  • Möglicherweise wurden mehrere Traktate in dieser Handschrift kompiliert. Die Ausgabe von Coussemaker (Scriptorum de musica medii aevi, Paris 1864-76, R: Hildesheim 1963; Bd.1, S.303-319) übernimmt diese Zusammenstellung und nennt die Autoren "Anonymus 2".
     

  • In der Ausgabe des Vatikanischen Organumtraktats von Godt und Rivera bemerken die Herausgeber, daß wir - im Unterschied zu kompetenten Musikern damals - den "genauen Rhythmus" nicht kennen. Es ist ganz ohne Zweifel so, daß Musiker, die sich mit der Rekonstruktion einer Tradition des Organum purum befassen, den zeitgenössischen Kantoren immer unterlegen sein werden, solange keine Zeitmaschine entwickelt ist, die uns erlauben würde, sie zu besuchen und von ihnen zu lernen. Woher aber die Sicherheit nehmen, daß sich ihnen vor Entwicklung der rhythmischen Modi dieses Problem überhaupt gestellt hat? Obwohl zahlreiche Organum- und Diskanttraktate aus dieser Zeit überliefert sind, gibt es nicht einen, der einen Hinweis darüber gibt, daß es vor den Modalnotation Perotins ein rhythmisch-metrisches System gegeben hat. Die Fixierung auf ein solches verrät eher vieles über die heutige westliche Musikausbildung.

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  • Anonymus 4: De mensuris et discantu, in: Edmond de Coussemaker (Hg.): Scriptorum de musica medii aevi nova series a Gerbertina altera, 4 Bde., (Paris: Durand 1864-76); Reprint: Hildesheim: Olms 1963; Bd.1, S.342:
  • Der Brauch der clausule-Anhänge, den übrigens nur die früheren Handschriften F und W1 kennen, hat leider nicht dazu geführt, daß die Organa Leonins unbearbeitet geblieben wären.

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  • Die syllabische Tropierung führt zur Auflösung der modalen Gruppierung und der Rhythmus kann nur durch den Rückbezug zu den clausule-Anhängen erkannt werden. Dieses Problem führte zu weiteren notationstechnischen Verfeinerungen im Bereich cum littera.

  • Hierzu: Fritz Reckow: Proprietas und Perfectio. Zur Geschichte des Rhythmus, seiner Aufzeichnung und Terminologie im 13. Jahrhundert, in: Acta Musicologica 39 (1967); S.115-143.
     
  • Einen Überblick über diese Kontroverse gibt Jeremy Yudkin 1984 in einem Aufsatz über The Rhythm of Organum purum (in: The Journal of Musicology 2; S. 355-376), wo er eine eigene - offensichtlich nicht ganz ernst gemeinte - Interpretation von den modi irregulares aus dem Traktat des Anonymus 4 anbietet, die seiner eigenen Klassifikation gemäß etwas zur Richtung von Willi Apels beiträgt.

  •  
  • 1985 erschien die erste mir bekannte CD mit einer Weihnachtsmesse mit drei organa dupla als zweite veröffentlichte Aufnahme des Ensemble Organum. Dominique Vellard, der an der ersten CD mit aquitanischer Mehrstimmigkeit in diesem mitwirkte, legte 1986 eine eigene Aufnahme vor, auf der er u.a. eine eigene Interpretation des Stils anhand des Ostergraduales Hec dies dokumentiert hat. 1997 erschien eine Aufnahme von Red Byrd, mit der John Potter an seine Arbeit im Hilliard Ensemble anknüpfte: Magister Leoninus als Fortsetzung der Einspielung Perotin.

  • Eine Interpretation, die gegenüber all den genannten auffällt und etwas Neues bringt, ist die ebenfalls Mitte der neunziger Jahre erschienene zweite Notre Dame-Aufnahme des Ensemble Organum, auf der Lycourgos Angelopoulos, ein Sänger aus der griechisch-orthodoxen Tradition, das Duplum der organa pura singt.
     
  • Fritz Reckow: Processus und structura. Über Gattungstadition und Formverständnis im Mittelalter, in: Musiktheorie 1 (1985); S.5-29.

  •  
  • Paris, Bibliothèque Nationale, fonds latin, ms. 12584, fol.306.

  •  
  • Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Ottob. lat. 3025, fol.50-50'.

  •  
  • Florenz, Biblioteca mediceo-laurenziana, Pluteo 29,I, fol.74'-75.

  •  
  • Die Quellen zur Liturgie der Nokturnen zum 29. Juni werden im vierten Kapitel besprochen.

  •  
  • Zitiert nach der Vulgata:
  • Lucca, Biblioteca Capitolare Feliniana, ms. 603, p.417f. Faksimile in Paléographie musicale 9,2 (Solesmes, 1914).

  •  
  • Peter Wagner: Gregorianische Melodien, Leipzig 1921, Reprint: Hildesheim: Olms 1962, Bd.3: Gregorianische Formenlehre, S.338f.

  •  
  • Ebenda., S.327.

  •  
  • Leo Treitler: Homer and Gregory: The Transmission of Epic Poetry and Plainchant, in: Musical Quarterly 60 (1974), S.347.

  •  
  • Das Verfahren erinnert an aquitanische Note-gegen-Note-Kompositionen wie z.B. der Benedicamus-domino-Tropus Noster cetus in Paris, Bibliothèque nationale, fonds lat., ms. 1139, fol.61.

  •  
  • Michel Huglo: Les debuts,op.cit., S.105.

  •  
  • Ebenda., S.104.

  • Wulf Arlt: Stylistic Layers, op.cit., S.135.
     
  • Hartmut Schick: Musik wird zum Kunstwerk - Leonin und die Organa des Vatikanischen Organumtraktats, in: Studien zur Musikgeschichte: Eine Festschrift für Ludwig Finscher, Kassel 1995; S.34-43.

  •  
  • Der Prometheus-Mythos in diesem Zusammenhang ist von mir, um auf eine aufklärerische Traditon und ihre Selbststilisierung anzuspielen. Bei Hartmut Schick dagegen ist Hans-Heinrich Eggebrecht Vater des Gedankens, dessen Geschichte der Mehrstimmigkeit eine Entwicklung zum Kunstwerk beschreibt (Die Mehrstimmigkeitslehre von ihren Anfängen bis zum 12. Jahrhundert, Darmstadt 1984).

  •  
  • Schicks Methode, beide Organa über dem Tenor so übereinander zu montieren, daß vergleichbare melodischen Strukturen zueinandergesetzt werden, finde ich sehr interessant, aber seine Beschränkung darauf klammert fast alle Aspekte der Formgestaltung aus und nivelliert viele Unterschiede.

  •  
  • Der Terminus discordare folgt dem ersten Teil des Vatikanischen Organumtraktats, der ähnlich wie der Mailänder Traktat nur zwei Arten von Gerüstklängen zuläßt: konkordante (Oktave und Einklang) und diskordante (Quinte und Quarte).

  •  
  • Ich entnehme diese sehr treffende Formulierung einem Aufsatz von Christian Kaden, der dem Unterschied zwischen Komposition und Improvisation nachgeht, und dabei auf die mediale Verlängerung gestoßen ist, die jedem Werk - übrigens ganz im Sinne von Eggebrechts artificium - anhaftet: Ex improviso - für wen? Improvisation als Kommunikationsprozess, in: Improvisation II, Winterthur 1994; S.27-30.


  • Kapitel 3 - Modalität
  • Daniel Leech-Wilkinson ersetzt "rediscovery" durch "reinvention" ("Translating Medieval Music"). Meiner Meinung nach haben diejenigen, die sich für wissenschaftlicher halten, weil sie mittelalterliche Traditionen nicht erfinden, sondern wiederentdecken, das Rufen von Geistern verstorbener Musiker als wissenschaftliche Methode entdeckt.

  •  
  • Daniel Leech-Wilkinson bildet hierbei keine Ausnahme. Er tut die Experimente von Musica reservata und Ensemble Organum als "making medieval music strange" ab:
  • "It is psychologically rewarding and therefore commercially sound. But it all aims to keep medieval music fresh, by keeping it different. The Other never ceases to delight us, so long as it is always a different other."
    Der folgende Absatz läßt durchblicken, daß Leech-Wilkinson die Arbeit seines Freundes Christopher Page gegen Kritik verteidigen wollte. Als ich ihm schrieb, daß korsische oder griechische Musiker die englische Chortradition ("English choral tradition") wohl kaum mehr "familiar" empfinden würden, als er die korsische oder griechische, bezichtigte er sich selbst einer Vereinfachung bei seiner Darstellung der Rezeptionsgeschichte. Interessanterweise beruht die Vereinfachung darin, daß er sich gezwungen sieht, zu ethnographischen Kategorien wie Fremd- und Selbstzuschreibung zu greifen, aber sie sehr grob anwendet, denn es gibt nicht die "medieval music" von Europa.
     
  • Cecily Sweeney: op.cit., S.8-12.

  •  
  • Über den gallikanischen Ritus in Paris und seine Relikte nach der liturgischen Reform durch Cluny, siehe Craig Wright: Music and Ceremony at Notre Dame of Paris, Cambridge: IMM 1989.

  •  
  • Zitiert nach der Ausgabe von Simon Cserba (Regensburg 1935; Bd.2, S.44).

  •  
  • Zitiert nach der Ausgabe von Simon Cserba (Regensburg 1935; Bd.2, S.63).

  •  
  • Alexander Šumski: Theoretikon der rumänischen Psaltikie (Flüeli-Ranft 1982).

  •  
  • Deutsche Umschrift nach der Transkription von bulgarischen Liedern durch Prof. M. Samokovlieva - Material, das sie in einem Gastseminar zum Thema Formen der Mehrstimmigkeit (WS 92/93, Musikwissenschaftliches Institut der Uni Basel) ausgeteilt hat.

  •  
  • Alexander Šumski: Theoretikon der rumänischen Psaltikie, (Flüeli-Ranft 1982; S.141).

  •  
  • Alexander Šumski: op. cit., S.142.

  •  
  • Alexander Šumski: op. cit., S.21.

  •  
  • Paris, Bibliothèque nationale, fonds grecques, ms. 360, fol.216-237.

  • Kapitel 4 - Petrusliturgie
  • Paris, Bibliothèque Nationale, fonds latin, ms. 12584, fol.306.

  •  
  • Florenz, Biblioteca mediceo-laurenziana, Pluteo 29,I fol.73'.

  •  
  • Jean-Paul Migne (Hg.): Patrologia cursus completus, Series latina, Paris 1879-90; Bd.212; Sp.72:
  • Die Benediktus-Regel - lateinisch-deutsch, hrsg. v. P. Basilius Steidle OSB, Beuron ²1975; S.90-99.

  •  
  • Faksimile: Antiphonaire monastique XIIIe siècle: Codex F. 160 de la Bibliothèque de la Cathédrale de Worcester, in: Paléographie musicale 12 (Solesmes, 1922).

  •  
  • Als Faksimile erschienen in Paléographie musicale 9 (Solesmes, 1914).

  •  
  • Gerard Achten: Die theologischen lateinischen Handschriften in quarto der Staatsbib., Teil 2, Ms. theol. lat. qu. 267-378, Wiesbaden 1984; S.233-236.

  •  
  • Zitiert nach der Vulgata (Matthäus 16,18-19):
  • Diese Homilie ist ebenfalls von Paulus Diaconus: Omilia venerabilis Bedae presbyterii. Philologisch-kritische Edition in: Jean-Paul Migne (Hg.): Patrologia cursus completus, Series latina, Paris 1879-90; Bd.94, S.219-224 (hom. I, 20; hom. II, 16).

  •  
  • Peter Wagner: Lektionen der Matutin, in: Gregorianische Formenlehre, (Gregorianische Melodien, Bd.3), Hildesheim 1962, S.38f.

  •  
  • Fjodor M. Dostojevskijs Konzeption des Atheismus in der Figur des Ivan Karamasov aus Brüder Karamasov greift in dessen Poem Der Großinquisitor die Hybris des Priesters auf, von der schon Spinoza meinte, sie verbreite allein durch die Macht der äußerlichen Erscheinung das Gefühl der Unlust bei denen, die ihnen begegnen. So will der Großinquisitor seiner Gemeinde die unmenschliche Last der Freiheit abnehmen (der Gegenentwurf zur Vision des Starzen Sosima), die ihr Jesus auferlegt hatte. Und Ivan erläutert die Priesterhaltung des Großinquisitors, der Jesus auf einer Autodafé der Inquisition verbrennen möchte, mit folgenden Worten:
  • Lateinisches Original zitiert nach dem Brevier der Staatsbibliothek (Ms. theolog. lat. qu. 377, fol.110):

  • Kapitel 5 - Montmajour

     


    Kapitel 6 - Organum purum
  • Ich stütze mich hierbei auf die Verstärkung bestimmter Obertöne durch die Artikulation der Vokale (Zungenstellung), wie sie der Komponist Karlheinz Stockhausen in der Einleitung zu seiner Komposition "Stimmung systematisiert hat. Das offene e (z.B. "Bett") verstärkt den 16. Partialton, also die vierte Oktave über dem Grundton:
  • In dieser Darstellung bezeichnen die Zahlen die Partialtöne und beginnen vom dunkelsten zum hellsten Vokal. Die Zahlen unter den Vokalen gelten für die Partialtöne tiefer Stimmen, die darüber für hohe Stimmen - bezogen auf die Tonhöhe des intonierten Grundtons. Diese Unterscheidung beruht auf der Eigenschaft, daß die Partialtonreihe mit zunehmender Höhe kürzer wird. Eine mitteltiefe Stimme hat zu einer Stimme, die eine Oktave höher singt, genau die gleichen Obertöne, die sich allerdings innerhalb der Partialtonreihe auf der höheren Oktave befindet - z.B. der vierte in der Unterstimme gegenüber dem zweiten Partialton in der Oberstimme läßt in beiden Stimmen die Oktave über der Oberstimme erklingen. Dadurch doppeln sich auch die Zwischentöne, da die Intervalle nach oben immer enger werden.
     
  • Um ein so deutliches Bild wie hier zu erhalten, muß die Tondatei auf ein Format von 8000 Hz (Samplerrate) heruntergebracht werden und wird die Aufnahmesehr verzerren - heute sind Raten von 44100 oder 48000 Hz Standard. Die Anzeige des Sonogramms ist im jeden Fall zu ungenau, um eine Tonhöhe zu messen. Sie zeigt hier aber den melodischen Verlauf dieser Obertöne, der den Haltetönen des Tenors folgt.

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