Improvisation und Komposition

In Texten zum Thema Improvisation wird immer wieder behauptet, Komposition und Improvisation schlössen sich gegenseitig nicht aus und doch erheben sich die meisten Überlegungen aus einer Unterscheidung und Abgrenzung beider Musizierformen gegeneinander. Über viele Paradoxe hinweg drehen sich diese Gedanken immer wieder um das Schöpferische in der Musik selbst.

Ich möchte in diesem Kapitel kurz auf die theoretischen Texte zu diesem Thema eingehen, deren Lektüre ich sehr anregend fand. Vielleicht ist Praxisferne im Bereich Improvisation problematisch, aber aus ihr ergibt sich oft eine Ungezwungenheit, die auch zu neuen Experimenten im praktischen Bereich motivieren kann. In diesem Sinne soll dieses Kapitel Raum für theoretische Überlegungen bieten.

Mir geht es dabei nicht um eine präzise Definition von Improvisation oder Komposition, sondern um das, was sich hinter diesen Begriffen verbirgt. Diese Öffnung der Begriffe zu ihrem Gegenstand geschieht unter Einbeziehung von Überlegungen zu:

Improvisation und die Kategorie des Unvorhersehbaren

Erst die Vorstellung, daß Musik eine Form habe, die logisch nachvollziehbar ist, ermöglicht eine Erwartung, in deren Wahrnehmung das Vorherhörbare wie das Unvorherhörbare erst erscheinen kann.

Das Unvorhersehbare setzt die Kenntnis von Formen, von ihren Bauteilen, die sich oft zu Formeln verfestigt haben, voraus, sonst wäre eine Abweichung davon nicht wahrnehmbar. Ein Trugschluß ist als solcher nur für ein Publikum hörbar, daß die enge Auflösung eines Durdreiklangs mit Septe - und eventuell auch None - als Norm zu empfinden gelernt hat. In den Skizzen Beethovens zu dem Streichquartett op. 59 Nr. 3, das letzte der Rasumowski-Quartette, findet sich eine Abschrift von der langsamen Einleitung aus Mozarts Dissonanzenquartett - sozusagen als Musterbeispiel für die Kunst der komponierten "Improvisation", in der das Publikum ständig aus der festen Bahn seiner harmonisch-tonalen Orientierung geworfen wird. Für die Einleitung seines Streichquartetts wählte Beethoven im Vergleich zu seinem Vorbild eine simple Methode der tonal-harmonischen Desorientierung: Er fügte lauter Septakkorde aneinander, die permanent "falsch" aufgelöst werden, bis die vier Stimmen, die anfangs in der engsten Mittellage beginnen, zu einem Ambitus von vier Oktaven auseinander treten - theoretisch, denn das Cello wird am Ende statt einer Sekunde nach unten eine Septime nach oben springen - ein Kompromiß des Komponisten, um niemanden zu dem Verstimmen des Instrumentes zu nötigen. Diese Einleitung erreicht ihre zeitliche Dichte und Konzentration aus dem "Ereignis" des Unvorhersehbaren. Welchen Unterschied ergibt sich für das Publikum zwischen kalkulierten und spontanem "Ereignis"?

Viele, die den Begriff "Im-pro-visation" etymologisch angehen, stoßen automatisch auf diese Erwartung in der visuellen Wahrnehmung. Sie scheint von semiotischen Prozessen auszugehen, in der visuelle Umsetzungen einen wichtigen Platz einnehmen. Ebenso auffällig sind Analogien im Sprechen über Musik und Komposition, die immer wieder in den Bereich der Sprache hineinragen. In vielen Kulturen, besonders im sakralen Bereich, ist Musik lediglich eine Form der Sprache und es geht daher am ehesten um Sprache und nicht um Musik. Dort, wo die Musik als solche wahrgenommen wird, wird ihre Eigenständigkeit gegenüber der Sprache genau dadurch etabliert, daß musikalische Form über ihre Analogien zur Sprache verstanden wird. Dieses Verstehen macht bereits deutlich, daß Musik keine Universalsprache ist, auch wenn ihr Sozialisierungsbereich weiter als der einer Sprache ist. Sie muß, genau wie jede Sprache, erlernt werden. So bekamen z.B. im Mittelalter junge Knaben oder Mädchen in den Klöstern mit dem Memorieren der Choräle zugleich ihre ersten Grammatiklektionen. Entsprechend der Linguistik kann man auch die Fähigkeit, Musik zu verstehen, sie zugleich zu erlernen, sie im Gedächtnis festzuhalten und sie spielend oder singend - mehr oder weniger improvisierend - zu wiederholen, als generativ bezeichnen.

Zu der Grammatik musikalischer Formen gehört auch eine formschaffende Bezüglichkeit, für die eine weitere Analogie zur Sprache hinhalten mußte: Im Artikel Improvisieren aus Riemanns Musiklexikon wird die Idee der Konversation aus der Salonkultur des frühen 19. Jahrhunderts aufgegriffen. Dort wird - mit Verweis auf Goethes Gespräche mit Eckermann - Improvisieren "als das unvermittelte Produktivwerden über einen zur Aufgabe gestellten Gegenstand" verstanden. Merkwürdigerweise wird der gleiche literarische Verweis auch gerne benutzt, um die musikalische Gattung des Streichquartetts mit der Idee eines improvisierten vernünftigen Gesprächs über ein vorgegebenes Thema zu verbinden. Diese Gattung wurde bald überhaupt zur anspruchsvollsten Form für Kompositionen auf höchstem Niveau.

Dennoch ist es seit der höfischen Kultur der Renaissance so, daß Musik wie Gedichte sowohl in geschriebener wie in extemporierter Form über ein gegebenes Thema gestaltet wurden. Mit Instrumenten wird ebenso über bereits komponierte Madrigale diminuiert über einfache viertönige Baßmodelle ("tunes"), und noch Friedrich Erhard Niedts Musicalische Handleitung (1710) sieht das Spielen einer ganzen Suite auf der Grundlage einer vorgegebenen Baßlinie vor (Beispiel für die Allemande):



Bei der Generalbaßimprovisation bilden die Baßlinie und die Tanzsatzcharakteristik (Tempo, Rubato, Taktart, die an das Tempo gebundene Art der Variation - z.B. komplexe Harmonien oder Diminution) den Rahmen, in der eine Suite improvisiert wird. Die generativen Fähigkeiten beim Hören wie beim Spielen sind die gleichen: Das Wiedererkennen der Baßlinie entspricht dem Einüben einer harmonischen Grundfolge gemäß der Oktavregel, vor deren Hintergrund z.B. komplexe und ungewöhnliche Harmonien als solche erkannt werden. Das Unvorhersehbare in der Harmonik setzt die schlichte Norm der Oktavregel voraus - unabhängig, ob sie aktiv eingeübt oder durch Hören von Musik passiv aufgenommen und als Gehöreindruck mehr oder weniger bewußt erinnert werden kann. Die nächste Ebene der Tanzsatzcharakteristik stellt Erwartungen an die Kunstfertigkeit des Musikers: Bei einer Gigue z.B. werden keine ungewöhnlichen Harmonien, aber rhythmische Raffinessen bei der Diminution in der rechten Hand erwartet, bei einer Tombeau geht es darum, harmonische Vorhalte anzuhäufen, um den Pavane-Rhythmus herauszuzögern. Das hier als Beispiel eingefügte Tombeau darf als Niederschrift einer Improvisationspraxis gelten - style brisé, die Froberger bei dem Lautenisten Blancrochet gelernt hatte, zu dessen Ehren er dieses Tombeau schuf.

Johann Jakob Froberger Tombeau sur la mort de Monsieur Blancheroche

Mit diesem Stil und seiner improvisatorischen Technik des Arpeggierens kann jede Baßlinie, jedes Thema in der Oberstimme ebenso, zum Verschwinden gebracht werden. Das unvorhergesehene "Ereignis" wäre hier das Verschwinden des Themas beim Musizieren "über einen zur Aufgabe gestellten Gegenstand".

In der Kompositionsschule Arnold Schönbergs wird das Verschwinden des Themas im Dienste der Gestaltung einer offenen oder geschlossenen Form funktionalisiert. Dem Thema alles das zu nehmen, was es in den Ohren der Hörer charakterisiert, nennt er Liquidation. Damit ist zugleich gemeint, daß die Form ein Ende nehmen muß, die aus dem liquidierten Thema gestaltet ist. Wird aus dem Material des liquidierten Themas ein neues Thema geschaffen, entsteht auch eine neue Form und aus der Liquidation wird eine Variation. Die offene Frage bleibt, wie stark ist die Grenze zwischen alter und neuer Form. Schönberg beantwortet sie über das Charakteristische. Je mehr der Wiedererkennungswert des Themas liquidiert wird, desto stärker die Grenze . Hier wirkt sich das Unvorhergesehene auf die Formbildung aus. Das ist Formbildung auf Schönbergs kompositorischem Niveau, welche er anhand entwickelnden Variation entdeckte, die er bei Johannes Brahms vorfand. Formteile können innerhalb der Variation abgeschlossen und neue eröffnet werden .

Selbst solche komplexen Formbildungen sind durchaus in der Improvisation möglich. Auf dem Juan les Pins Jazz Festival in Antibes (1965) improvisierten 4 Musiker (Tenorsaxofon, Klavier, Baß und Schlagzeug) fast 50 Minuten über den Standard Love supreme: John Coltrane, Mc Coy Tyner, Jimmy Garrison und Elvin Jones. Bereits am Anfang verzichtet der Saxofonist John Coltrane auf eine Exposition des Themas. Nach etwa dreißig Sekunden des Mitschnitts beginnt ein Riff, 20 Sekunden setzt das Saxofon mit einer Variation des Themas ein, dessen Ende zwar in der Harmoniefolge erkennbar bleibt, aber von dem Saxofon durch virtuose Umspielungen und Skalen überspielt und geöffnet wird. Eine prägnante dreimalige Exposition des Themas erfolgt erst 15 Minuten später, sie endet mit gedehnten und wiederholten melodischen Schlußformeln, zu denen die anderen Musiker ihre spielen (Klaviertremolo, Oktavsprung im Baß, Trommelwirbel). Das provoziert Schlußapplaus, aber der Schlagzeuger entwickelt aus seiner Schlußgeste den Anfang seines Solos. Seine Schlußformeln werden als Anfang umfunktioniert und setzen den Übergang in Szene, kommunizierend mit dem Publikum. Die ersten 20 Minuten, bis zum ersten Schlagzeugsolo variieren die 4 Musiker das, was jeweils ihr Instrument zum Thema beiträgt (die figurale Auflösung des Songs vom Saxofon, das Harmonieschema vom Klavier, Riff und gehender Baß vom Kontrabaß, rhythmische Gesten vom Schlagzeug). Jeder Musiker teilt die Form in eigene Abschnitte auf und erklingt bisweilen solo, aber reagiert stets auf die anderen und läßt sich von ihnen anregen.

John Coltrane A love supreme [16:57]

Die Form, die entsteht, ist nicht weniger komplex, auch nicht weniger bezugsreich als eine strenge Komposition von Brahms, aber der Rhythmus der Form ist weitaus länger und ausgedehnter, trotz dem schnellen und virtuosen Spiel der einzelnen Musiker: Sie dauert länger und dehnt den Entscheidungs- und Spielraum der Musiker aus und die Form entsteht auf gänzlich andere Weise als in der Komposition. Wie kompliziert solche Formen sein können, ist leicht an dem komplizierten Notenbild zu erkennen, das bei einer Transkription entsteht (z.B. Eric Dolphy). Wie problematisch es auch sein mag, Jazzimprovisationen durch das analytische Hörrohr Schönbergs zu behorchen, ist es doch nicht uninteressant zu hören, wie sie sich dadurch anhören.

Was könnte aber der Grund dafür sein, daß das Unvorhergesehene mit der Improvisation identifiziert wird? Das Unvorhersehbare als ästhetische Kategorie hat im heutigen Konzertbetrieb ausgedient, soweit es um Kompositionen geht, die immer wieder gespielt werden. Das scheint mir der tiefere Grund zu sein, warum diese Kategorie heute als Inbegriff von Improvisation verstanden wird.

Für die Musiker ist dieser Unterschied weitaus realer, wo Musizieren aus Noten als der unnatürliche, simulierte Zustand freien Musizierens erscheint. Der Unterschied ist vergleichbar mit dem freien Sprechen und dem Ablesen eines geschriebenen Textes, das idealerweise wie freies Sprechen klingen soll. Es ist sehr schwer, Unmittelbarkeit zu inszenieren. Das komponierte Unvorhersehbare kann beim Musizieren aus Noten als ästhetischen Höhepunkt inszeniert werden, aber es reicht niemals an die Intensität eines Momentes heran, den ein Musiker unmittelbar vor einem Publikum finden kann.

Dialog- und Kommunikationstheorien

Wird der Begriff Improvisation über seine Etymologie auf die Kategorie des Unvorhergesehenen reduziert, wird er eigentlich dem alltäglichen Gebrauch, den er auch unter Musikern erfährt, entfremdet. In seinem Aufsatz über Improvisation als Kommunikationsprozess definiert Christian Kaden:
"Ex improviso - so will ich kurzerhand postulieren - nie und nimmer für einen Musizierenden allein, sondern stets für zwei. Erst wo der Musiker mit einem Partner zusammentritt: einem anderen Musiker, einem Hörer auch, erst dort, wo der Freiraum des einen am Freiraum des anderen sich bricht, wo wirkliche Interaktion, Kommunikation entsteht, erst dort ist es sinnvoll, von Improvisation sensu strictu zu sprechen."
In diesem Aufsatz wird die Improvisation zur Utopie und die Aufführung von Kompositionen zur Gespensterjagd. Die Gespenster verstorbener Komponisten oder die Geister nicht anwesender lebender Komponisten schlüpfen in die Musiker, saugen ihre Lebenskräfte aus und lähmen ihre Fähigkeit zur Kommunikation. Dieser originellen Interpretation des Musizierens nach Noten liegt nicht zuletzt die Entfremdungstheorie von Karl Marx zugrunde, die besagt, daß die organisierte Arbeitsteilung den Arbeiter von dem Produkt seiner Arbeit entfremdet. Diese Entfremdung ist zwar - gemessen an der industriellen Produktion - harmlos. Als Kritik an einem Musikleben, wie es durch staatliche Institutionen wie Konzert- und Opernhäusern, Hochschulen und Universitäten gepflegt wird, wohl nicht ganz unzutreffend - und erklärt auch die Absicht, die Improvisation zu idealisieren.

Die gespenstische Anwesenheit der Komponisten beim Musizieren aus ihren Noten zerschneidet den unmittelbaren Dialog in zwei Teile (Räume und Zeiten):

"Der Compositeur ist und bleibt konstitutionell ein Einzelgänger. Sein Platz ist das karge Kabinett - Johann Sebastian Bach -, das Komponierhäuschen - Mahler -, die 'Bergeinöde' - Richard Strauss. Während er findet und erfindet, bleibt er für 'alle' Optionen frei, verhält sich pointiert improvisatorisch, weitestgehend unberechenbar. Ebendiese Unberechenbarkeit aber des kreativen Akts tobt sich aus: in ein Unantastbares hinein. Ist das Werk erst einmal fertig und aufgeschrieben, gibt es an ihm, cum grano salis, kein Deuteln mehr. Im Moment klanglicher Vergegenwärtigung, klanglicher Verkörperung steht für den Komponisten, idealiter, alles fest. Nur der Hörer mag seine Not mit der Vergegenwärtigung haben, nur ihm mögen Rätsel sich aufgeben, die er zu lösen hat. Sozial folgenreich ist dieses Improvisum nicht. Die Freiheiten der Komposition und des Hörprozesses: sie treffen ausdrücklich nicht regulativ, nicht wechselwirkend aufeinander. Exakt dort, wo sie der Komposition zugeleitet werden könnte, schlägt die Beweglichkeit der Komposition in Starrheit und Versteinerung um. Kompositorische Freiheit ist: Freiheit, stillegestellt. Nur ehrfürchtig und geniessend kann der Hörer dieser Freiheit innewerdend, genauer: des Umstandes, dass da einmal Freiheit war. In sie einzugreifen, sie zu gestalten, mitzugestalten, bleibt ihm verwehrt."
Kaden entdeckt hier die Virtualität eines frühen Mediums, der schreibbaren Unterlage, auf der Musik notiert werden kann, und die Erstarrung, die jede mediale Umsetzung nach sich zieht. Über die Freiheit der Musiker schreibt er merkwürdigerweise nur in Andeutungen, auch nichts über weitere Arbeitsteilung, die sich auf der Rezeptionsseite durch weiteres Deuteln ergeben hat und die zur Gründung der Musikwissenschaft als geisteswissenschaftliche Disziplin geführt hat. Dafür erklärt er das Werk aus dem menschlichen Bedürfnis heraus, der Furcht vor dem Tod etwas Unveränderliches entgegenzusetzen, das die eigene Person verewigt.

Wird Musik in seiner elementaren Form als Improvisation verstanden, als unmittelbare musikalische Äußerung, dann ist eine Komposition eine Art Protokoll, in dem der improvisierende Musiker seine Entscheidungen niedergeschrieben hat. Entscheidungen wofür oder wogegen? Das ist die gleiche Frage nach der Grundlage der unvorhergesehenen Entscheidungen, nach der Frage, die im vorangegangenen Abschnitt mit dem Begriff einer generativen Grammatik in der Musik verbunden war. Daher gilt das, was Schönberg über das Komponieren schrieb, für die musikalische Form überhaupt: nämlich, daß absolute Freiheit unschöpferisch sei, aber daß viel Mut zur Freiheit gehört, eigene Regeln zu finden. Mit Mut, neue Regeln zu finden, ist bereits etwas ausgedrückt, das sich auf ein Verhältnis zu einer Tradition und deren Konventionen bezieht. Solche Konventionen legen im Falle einer Arbeitsteilung zwischen Komponist und Interpreten fest, was in wessen Kompetenz fällt.

Der Extremfall, ich nenne ihn mal "Werktreue", ist von Kaden geschildert worden und er hat ihn in einem anderen Aufsatz sogar dargestellt:

Ein solcher Extremfall könnte z.B. die Kammermusik von Johann Sebastian Bach gewesen sein. Die Forschung zur Musik des 17. und 18. Jahrhunderts ist in den letzten Jahren vor allem durch Musiker weitergebracht worden, die sich intensiv mit der Diminutions- und Generalbaßpraxis auseinandergesetzt haben. Insbesondere bei Bachs Kompositionen ist nicht klar, was er alles als herausragender Musiker mit hineinkomponiert hat, was eigentlich in den Kompetenzbereich eines Musikers fällt. Ein Beispiel hierfür sind die sechs Violinsonaten (BWV 1014-1019), von denen zwei handschriftliche Quellen folgende Besetzungsangaben im Titel tragen:

"a Cembalo certato è Violino solo col Baßo per Viola da Gamba accompagnata se piace"
Der Titel verweist bereits auf die Schreibkonvention der italienischen Sonaten, die lediglich eine undiminuierte Violinstimme über einer Baßlinie notiert. In einem Druck von 1700 aus Rom nimmt eine viersätzige Sonate Corellis etwa anderthalb Seiten eines Notenheftes im Querformat ein. 1684 erschienen in Bologna drei Stimmbücher für Corellis Sonate a tre. Neben der Violinstimme gibt es eine Organo-, und eine Violone- oder Theorbenstimme, beide mit unterschiedlichen Diminutionen zur Basstimme und mit Bezifferung, die auch den Harmoniewechsel der liegenden Akkorde über den Hauptnoten der Diminution anzeigen (jeweils zweieinhalb Seiten m Hochformat). Die Geigerin Chiara Banchini und der Cembalist Jesper Böje Christensen, beide Spezialisten im italienischen Stil, spielen Corellis Sonaten mit Violone und Theorbe, zum Teil mit notierten Diminutionen, zum Teil mit eigenen. Die meisten und virtuosesten spielt die Violine, das Violone diminuiert entsprechend, wenn es das soggetto hat, das Cembalo nur, wenn zwischen den beiden anderen Stimmen sich Freiräume ergeben, die rechte Hand spielt in langsamen Sätzen siebentönige Akkorde, um den durch rubati aufgebrochenen Takt durch die Harmoniewechsel anzudeuten. Die Musiker konnten anhand der überlieferten Diminutionen und anhand der gedruckten Diminutionsschulen, die meist um die Wende zum 17. Jahrhundert erschienen sind, sich die Kompetenz aneignen, die die Musiker damals anscheinend gehabt haben müssen. Durch dieses Wissen ergibt sich erst die Möglichkeit, im Musizieren Entscheidungen zu treffen.

Das hat Bach in seinen Violinsonaten, in denen alles ausgeschrieben ist, den Musikern abgenommen. Sollte dieses Wissen bei ihnen noch vorhanden sein, muß wohl gesagt werden: Er hat es ihnen weggenommen - und sie "zelebrieren" den Musiker Bach, indem sie "werktreu" spielen. In einem zeitgenössischen Verständnis sind sie seine Automaten, ein traditionell an der Musikhochschule ausgebildeter Geiger heute ahnt nur selten etwas davon. Aber selbst, wenn diese Kompetenz zu improvisieren nicht mehr geläufig ist, so ist die "komponierte Improvisation" wohl kaum die Methode, mit der Improvisation erlernt werden kann. Aber, und das betrifft auch die Methode dieser Arbeit, sie kann zu einer wichtigen Quelle werden - die ein Beispiel liefert, anhand dessen die Regeln und die generative Grammatik einer Improvisation  rekonstruiert werden können.

Was aber ist die "kommunizierende", die "wahre Improvisation"?

Der Idee des Musizierens als "Konversation" zwischen vier gleichgesinnten Musikern, wie sie zwischen Goethe und Eckermann ausgetauscht wurde, ist zugleich eine Selbstbespiegelung. Es war im 18. Jahrhundert üblich, Gespräche oder Briefwechsel zu veröffentlichen. Sie gehen also immer von der Intimität eines Gesprächs aus, das privat ist und die Öffentlichkeit ausschließt. Die Öffentlichkeit wird erst über ein Medium, z.B. einer gedruckten Veröffentlichung, miteinbezogen. Sie scheint zunächst außen vor, aber "das zur Aufgabe gestellte Thema" enthält bereits den Hinweis, daß hier ein Thema in Hinblick auf eine Veröffentlichung gewählt wird. Goethe spricht mit Eckermann über die "Konversation", um ihr eigenes Tun öffentlich zu verhandeln, und sie wird vom Autor bearbeitet, bevor sie in den Druck geht. Für diese mediale Multiplikation eines privaten Gesprächs gibt es keine wirkliche Unmittelbarkeit, aber durchaus inszenierte.

Die Salons in Paris, Wien und Berlin entwickelten sich mit der Wende zum 19. Jahrhundert zu Schreibstuben, von denen aus die Briefe, die zwischen den Bekanntschaften dieser Salons wechselten, veröffentlicht wurden. Das intime Zwiegespräch in der neuen Öffentlichkeit des Salons war zu einer neuen Kunstform geworden, die aus der Kommunikation eine Repräsentation gemacht hatte. Diese Entwicklung zur eitlen Selbstdarstellung hin ist eine mediale Verwandlung und ihr Problem war nicht die Eitelkeit an sich, sondern ihre Erstarrung. Das gilt auch für die musikalischen Formen der Improvisation, in der die Komposition sich als Ausweg erwies. Chopins Klaviermusik, die heute nur in komponierter Form zugänglich ist, mag einer dieser kompositorischen Auswege gewesen sein: Sie hört sich an wie improvisiert, ist es aber nicht. Einzelne kurze Stücke reihen sich zu Zyklen, deren Zusammenhalt nicht für alle hörbar ist, sondern "geheim", also für wenige.

Sun Ra and his intergalaxtic Arkestra strebten 150 Jahre später nicht mehr danach, zu den Eingeweihten zu gehören. Chopins Prélude op.28/7 "lösten sie aus kompositorischer Erstarrung", indem sie das Thema von komponierten Improvisationen befreiten und es als Standard - im Sinne des free jazz - verstanden:

Prelude in A-Major, op.28, N.7 (Chopin)

Was wird aus dem Dialog mit dem toten Komponisten, wenn sich die Musiker keine Mühe mehr geben, das 19. Jahrhundert auferstehen zu lassen? Nur das Spielen aus den Noten gewährleistet die Wiederauferstehung eines abwesenden Subjekts, das durch seine musikalischen Entscheidungen wieder anwesend wird, die Musiker für ihn ausführen. Die Geschichte zeigt, daß solche Entscheidungen auch dann noch ausgeführt werden, wenn weder sie noch die Noten verstanden werden - und zwar, ohne daß die Musiker sich dessen bewußt sind wie Sun Ra.

Wenn es um Dialog geht, sollte auch der Monolog erwähnt werde, den ich lieber den "inneren Dialog" nennen möchte. In indischer Kunstmusik ist er wirklich unmittelbar. Ein Musiker der in Druphad spielt oder singt, findet erst beim Beginnen das Raga, das zur Stimmung der Tabura und zu seiner Stimmung paßt. Allein hierdurch ist er dazu angehalten, mit sich in einen Dialog zu treten. Die Musik wächst aus diesem Dialog und ihr Regelwerk macht sie zur Sprache zwischen den Dialogpartnern in und um die Musiker.

Gestaltung der Zeit in der Musik

Genau wie in Erzählungen existieren in Musikstücken mehrere Zeitebenen: Die Erzählzeit, die erzählte Zeit und die Zeit, die benötigt wird, um eine Erzählung zu erfinden. Angewandt auf Musik nenne ich sie Aufführungszeit, erlebte Zeit beim Schaffen und beim Hören, diese ist subjektiv, und Vorbereitungszeit. Die Zeitqualitäten bewegen sich zwischen endlicher und unendlicher Zeit (Ewigkeit). Ich hoffe mit dieser Unterscheidung den Hang zu Drogen gerecht zu werden, wie er unter Musikern und Komponisten verbreitet ist.

Zur Vorbereitungszeit: Sie ist auch in allen Formen der Improvisation nicht identisch mit der Aufführungszeit. Bis jetzt kenne ich nur einen Komponisten, bei dem sie ewig war. Seine Werke scheinen trotz allem bescheiden zu sein. Über Grand verre schrieb Marcel Duchamp:

"Meiner eigenen Meinung nach ist Grand Verre eine Trennung von allem, was ich vorher gelernt hatte und war die wichtigste Einzelarbeit, die ich jemals gemacht habe. Ich verbrachte acht Jahre mit ihm (1915-1923). Dieser Zeitfaktor verdeutlichte allein für sich, was ich mit der Trennung von traditionellen, schnelleren Techniken meine. Aber weit wichtiger war das Ziel, das hinter Grand Verre stand, das Ziel, auch von der Idee, ein Bild zu malen, wegzukommen. Stattdessen führte ich absichtlich Elemente ein, die als Anathema zur Kunst galten, wenigstens zu dieser Zeit, vor fünfzig Jahren."
"Es war nicht wirklich mein Anliegen, es zu vollenden. Es dauerte zu lange und am Ende verliert man das Interesse. Ich fühlte, daß manchmal in einer unvollendeten Sache mehr Wärme ist, die man im vollendeten Werk nicht ändert oder besser macht. Sehen Sie, die Skizzen, die ich für Verre vorher zeichnete, einige davon 1914, enthalten keine kreative Innovation mehr für mich, der Schaffensprozeß war wie eine Übersetzung von etwas, das jemand anderer bereits geschaffen hatte."
Diese Haltung des Künstlers zu seinem Werk, darunter gibt es einige Skizzen, die das aleatorische Finden von Tönen betreffen und auf diese Weise komponieren, führte dazu, daß bis heute Komponisten und Maler kreative Innovation darin finden, auf Grundlage von Duchamps Skizzen immer weitere Umsetzungen zu schaffen, wie es Duchamp selbst zu den einzelnen Teilen von La Mariée mise à nu par ses célibataires, même. immer wieder getan hat. Duchamp hatte nichts gegen diese Umsetzungen, wohl aber etwas gegen die Vorstellung, daß sie jemals vollendet sein würden. Dadurch konnte es nicht als Sakrileg gelten, das Werk zu verändern und es in immer wieder andere Formen zu bringen. Dadurch geht seine Vorbereitungszeit gegen unendlich, denn es geht weder darum, etwas zu vollenden, noch darum, etwas für andere unveränderlich festzulegen, die die Skizzen neu realisieren und dadurch neue Skizzen schaffen. Hat sich damit das Werk aufgelöst, oder hat es sich nicht vielmehr in ein "offenes Werk" verwandelt?

John Cage, der als Komponist von Duchamp sehr beeinflußt wurde, schrieb sogenannte "Improvisationen", die genausogut auch "Anleitung zum Komponieren" heißen könnten. In diesen Improvisationen bestimmen die Musiker mittels aleatorischer Verfahren die Regeln und den Notentext, nach denen musiziert wird. Die Improvisation kann in mancher Hinsicht festgelegter sein, als so manche Komposition. Die Musiker treten daher auch hier als Medium auf und hinter ihre Persönlichkeit zurück - ein ästhetisches Ereignis, das als geistigen Hintergrund Cages Beschäftigung mit dem zen-buddhistischen Buch der Wandlungen hat. Es gibt keine klar definierte Grenze, ab wann ein "offenes Werk" Komposition und ab wann es Improvisation ist.

Auch die Vorbereitungszeit in der Komposition ist Wandlungen ausgesetzt: In der Musikgeschichte lassen sich ebenfalls Veränderungen der Vorbereitungszeit beobachten. Im 18. Jahrhundert war die Vorstellung verbreitet, daß sich ein Compositeur einer bewährten Form bedienen könne, sofern er ihr nicht eine "musikalische Wendung" opfern müsse, die nach einer anderen Form verlange. Aber die andere Form müßte das Gleiche leisten. Komposition wurde nach dem Vorbild einer normativen Rhetorik gelehrt. Sie kam im Zuge der Aufklärung und ihren gesellschaftlichen Umwälzungen in Verruf. Immanuel Kant forderte, der Mensch solle nach seinen eigenen Verstandeskräften sprechen. Er entwarf das Ideal einer "unendlichen Rhetorik". In gewisser Weise ist die Komposition ihrem veränderten Vorbild gefolgt. Robert Schumann nahm sich Beethovens Kompositionen, besonders das Spätwerk, zum Vorbild, da Beethoven immer wieder die Form neu aus dem Geiste schaffe. Damit war die Möglichkeit, aufgrund der Eigenheiten eines Themas bewährte Formen zu verlassen, zur Herausforderung, wenn nicht zum Zwang geworden. Das aber braucht Zeit. Wieviel Arbeit und Umgestaltung die späten Klaviersonaten und Streichquartette Beethoven kosteten, wieviele Wahlen getroffen, ausprobiert, verworfen und wieder neu getroffen wurden, um immer neue Formen zu schaffen, läßt sich an den Skizzen Beethovens studieren. Aber das Nutzen dieser Skizzen, um andere Entwürfe auszukomponieren, würde nicht für aufführungswürdig gehalten werden, sondern für Pfuscherei mit etwas, was aus der Werkstatt eines Genies geraubt wurde.

Auch Christian Kaden spricht in seinem Aufsatz Ex improviso unter dem Stichwort das Problem der Freiheit den Befund an, das Komponieren tendiere im Laufe der Geschichte zu stets wachsender Komplexität. Bereits in den musikgeschichtlichen Visionen Stockhausens und seiner Abwendung von den Musikern in seinen frühen Experimenten mit elektronischer Musik scheint mir der Endpunkt dieser Geschichte erreicht zu sein. Das war nicht das Ende der Komposition.

Serielle Kompositionstechniken, Kadens Beispiele für "Ehrgeiz" zur "maximalen Auslastung von Freiheitsgraden", scheinen bereits vor der elektronischen Musik den Musiker abgeschafft zu haben. Die Uraufführung von Boulez' Structures Ia veranlaßte einen Rezensenten zu der Äußerung, dies sei eine Musik, die sich abgöttisch liebe - nur eben nicht ihr Publikum. Die Präzision einer Aufführung - z.B. die Interpretation der Brüder Kontarski - mag noch so groß gewesen sein: Der Notentext ist erst heute im digitalen Zeitalter, wo jede Spielbewegung auf dem Klavier programmierbar und einfrierbar geworden ist, aufführbar geworden. Aber Boulez ging es vielleicht nicht um eine perfekte Wiedergabe des Notentextes, sondern um eine aleatorische Art, Strukturen zu schaffen, die der Komponist mit seinen seriellen Techniken intendieren kann. Sie werden von dem Pianisten geschaffen, und so gesehen erinnert Structures Ia an die Notation eines Prélude non mésuré von Louis Couperin.

Der Grund, warum ich auf das von Kaden erörterte Problem der Freiheit eingehe, ist, daß sich solche Kompositionsprinzipien bereits in der Notre-Dame-Polyphonie des frühen 13. Jahrhunderts finden lassen. Das an Isorhythmie erinnernde Permutationsprinzip, das er anhand Strawinskis Petruschka analysiert, findet sich bereits in den modalrhythmischen Klauseln zweistimmiger Organa. Es scheint mir kein Zufall zu sein, daß sich serielle Komponisten wie Boulez und Goeyvaerts für Musik von Machaut und Vitry interessierten, die diese Kompositionstechnik zur Isorhythmie weiterentwickelt haben. Diese Klauseln stehen im denkbar größten Gegensatz zu dem freirhythmischen Rest des organum duplum. Beide Formen haben völlig unterschiedliche Zeitqualitäten und ich möchte die freie, "wachsende" Form - in Anlehnung an Fritz Reckow - processus nennen, die modal komponierte Klausel dagegen als structura.

Diese Zeitqualitäten ergeben sich aus dem Verhältnis der objektiv meßbaren Aufführungszeit und der subjektiv erlebten Zeit bei Musikern und bei Hörern. Was sich bei Improvisationen bereits messen läßt, ist eine Zeitdehnung. Die Zeit oder Musik steht nicht still, aber sie geht langsamer, während sie eine Form findet und beim Ablauf eines harmonischen Schemas ergeben sich Einschübe. In dem Begriff processus ist bereits das Gehen enthalten. Die Frage nach der erlebten Zeit der Musiker wäre hier: Existiert das Gehen auch in der Vorstellung der Musiker, die ein Organum über einen Choral singen?

Das Gedächtnis in mündlicher und schriftlicher Überlieferung

Eine direkte Antwort über die Vorstellungswelten der Kantoren, die in den siebziger oder achtziger Jahren des 12. Jahrhunderts im Chor der Pariser Notre-Dame Kirche gesungen haben, ist uns nicht überliefert. Aber eine indirekte: Im Mittelalter galt die Gedächtniskunst als Teil der Tugend Klugheit (prudentia), aber sie muß ein sehr wichtiger Bestandteil für jede schriftlose Tradition gewesen sein, da nur sie gewährleisten kann, daß sie auch in Zukunft fortbesteht. Da liturgische Musik nicht einfach Musik, sondern eher ein Gebet mit Musik war, das möglichst frei aus dem Gedächtnis (cum corde), aber im Rahmen einer Tradition zu gestalten sei, war sie auf die Gedächtniskunst angewiesen. Ein typisches Mittel der mittelalterlichen Gedächtniskunst waren die loci - die Orte, durch die hindurch eine Folge von Gedächtniszeichen durchlaufen wird. Hierzu gehört die Vorstellung eines gegliederten Raumes, der zwischen den Orten durchlaufen wird. Es gibt eine räumliche Organisation von Dingen, die im Verlauf des Musizierens bei einem Gang durch einen imaginären Raum gefunden und abgeholt werden. Die Nähe zu mystischen oder meditativen Welten zeigt sich dann, wenn diese räumliche Vorstellung derart angeeignet wird, daß sie als zweite Welt real wird. Diese zweite Welt hat ihre eigene Topographie mit Punkten, an denen Begegnungen mit Geistern zu erwarten sind. Diese räumliche Vorstellung wird im Rahmen einer Liturgie bisweilen direkt zelebriert: in der Prozession.

Bei einem Organum geht es darum, den vorgegebenen und zu erinnernden Choral durch eine zweite Stimme zu verzieren. Die Organumtraktate des 11. und 12. Jahrhunderts sind angefüllt mit Begriffen, die mit Gehen (Vatikanischer Organumtraktat: procedens, subsequens, ascendere, descendere u.a.) zu tun haben. Der Haltetonsatz eines Organum purum erweitert den Choral durch Melismen. Er ist der früheren Verzierungsform eines Neumas verwandt, wo an bestimmten Stellen des Chorals ein Melisma eingefügt wird. Hier weicht der Solist von der Überlieferung des Chorals und es gibt einen Einschub. In der rhetorischen Terminologie wird es digressio genannt: Abschweifung. Hier wird also der Pfad des Chorals verlassen und der Musiker betritt unsicheres Terrain, die Zeit wird zunehmend gedehnt und kann durch das Aushalten eines durch eine Verzierung herausgehobenen Tones nahezu zum Stillstand gebracht werden.

Besonders melismatische Gattungen in der Liturgie des Chorals, wie Offertorium oder Alleluiavers, können manchmal mit spirituellen Praktiken verbunden sein. So hängen die ausladenden Melismen auf der Schlußsilbe des Nonsens-Wortes "Alleluya", die Jubilus genannt werden, mit der mystischen Praxis des Zungenredens zusammen. In der digressio wird in dem imaginären Raum, über den der überlieferte Choral memoriert ist, ein weiterer Raum eröffnet.

In dem Vatikanischen Organumtraktat gibt es etwa 350 Beispiele darüber, wie das Organum über einen Tonschritt im Tenor eine Melodie bildet. Daniel Leech-Wilkinson bemerkte in seinem Aufsatz Written and improvised polyphony, daß der Autor des Traktats durch seine Beispiele Möglichkeiten zeigt, die sich nicht auf Regeln reduzieren lassen. Die einzige Ausnahme hiervon ist der Text am Anfang, der den Umgang mit Guidos Solmisation lehrt, um die reinen Quinten und Quarten der Zielklänge zu finden. In der Musik läßt sich eine der einfachsten Formen der Gedächtniskunst bei der Guidonische Hand finden, in der die Hand und die Finger als "Landkarte" benutzt werden.

Leo Treitler dagegen verwirft in diesem Zusammenhang den Begriff Improvisation:

"Da aber die praktischen Beispiele - wiederum im Gegensatz zu denjenigen des neunten Jahrhunderts - keinen festgelegten Instanzen-Charakter haben, sondern neu erfundene Konkretisierungen von Prinzipien sind, die zum Teil nicht einmal erklärt werden, ist der Traktat als eine Art Kompositionslehre anzusehen; die Beispiele sind als Kompositions-Modelle gedacht. Der Vatikanische Organumtraktat überliefert also die früheste uns bekannte Kompositionslehre der abendländischen Tradition.
   Gegen diese Behauptung könnte der Einwand erhoben werden, daß es sich bei dem Traktat um eine Improvisationslehre, nicht um eine Kompositionslehre handele. Allerdings würde sich dieser Einwand zum einen auf eine falsche Dichotomie, zum anderen auf eine irrige Sichtweise stützen: daß nämlich Improvisation und Komposition einander ausschließende Vorgänge sind, und daß sich die eine mit mündlicher, die andere mit schriftlicher Äußerung deckt. Dieser Standpunkt läßt sich deswegen nicht aufrecht erhalten, weil wir bei der mittelalterlichen Musik über keine zuverlässigen Kriterien zur Differenzierung zwischen solchen Stücken verfügen, die zunächst mündlich konzipiert und später schriftlich aufgezeichnet wurden, und solchen, die gleich als festliegende Kompositionen aufgeschrieben wurden. Die genannten Voraussetzungen sind auch deswegen falsch, weil sie eine fundamentale und für die Überlieferung mittelalterlicher Musik charakteristische Tatsache außer acht lassen, daß nämlich das ,schriftliche Komponieren' in vielen Gattungen und Traditionen lange nichts weiter war, als das Aufzeichnen von Musik, die nach Prinzipien der mündlichen Tradition konzipiert war. So gesehen lebte die mittelalterlich Musikkultur noch lange nach der Einführung der Notenschrift im Grunde genommen als mündliche Kultur fort. Und so ist es viel sinnvoller, daß wir von ,mündlicher' und ,schriftlicher' Komposition, nicht aber von ,Improvisation' und ,Komposition' sprechen."
Was aber ist dann mündliche Komposition? Dieser keinesfalls selbstverständliche Begriff wird von Treitler an dieser Stelle nicht erläutert. Dafür aber in vielen anderen Aufsätzen, die um orality und transmission kreisen. Die wichtigsten grundsätzlichen Gedanken hat er bereits 1974 veröffentlicht, den ersten Aufsatz zu diesem Thema. Er bezieht sich dort auf eine Studie von Frederic C. Bartlett zur Erinnerung, die eben keine Reproduktion, sondern eine Rekonstruktion sei. Er führt hierzu 10 Punkte auf:
  1. Erinnerung beruht auf der Wahrnehmung, also auf dem, was ich in diesem Kapitel als generative Fähigkeit bezeichnet habe.
  2. Wahrnehmung ist daher nicht passiv, sondern aktive Organisation. Sie ordnet das Material neu und paßt es dem Schema oder Raster unserer Wahrnehmung an. Dieses Raster wird dabei stets reorganisiert. Es bestimmt allgemein unser bewußtes Leben, denn aus ihr entspringt unsere Erinnerung an die Vergangenheit und unsere Haltung zur Zukunft.
  3. Entsprechend dem Raster erscheinen gewisse Dinge wichtig. Im Prozeß der Annäherung und Neuorganisation dienen sie als Wegweiser.
  4. Bei der Erinnerung bilden Gruppierungen dieser Wegweiser ein Gerüst und entlang diesen Wegweisern werden die Feinheiten gestaltet - ein Prozeß der Konstruktion und nicht der Reproduktion.
  5. Was wir erinnern, muß mit dem Raster unserer Wahrnehmung übereinstimmen, andernfalls wird es korrigiert oder eliminiert.
  6. Dieses Raster prägt stereotype Formen aus und sie bilden die Konventionen einer Tradition und ihrer kulturellen Ausdrucksformen.
  7. Besonders Anfang und Ende gerinnen zu Formeln und sie bilden die Brennpunkte bei der Wiedererinnerung.
  8. Die Form besteht durch alle Details hindurch, die aus ihr herausragen, und sie bildet die entscheidende Grundlage, um Erinnerung zu ermöglichen.
  9. Die herausragenden Details bilden als Wegweiser eine Scharnierstelle, an der ein Formteil verlassen und ein anderer begonnen wird.
  10. Erinnerung und die vorgestellte Konstruktion bilden ein einziges Kontinuum. Sie unterscheiden sich relativ, aber nicht wesentlich.
In wesentlichen Punkten stimmen diese Beobachtungen zum Kognitionsprozeß mit den im 12. und 13. Jahrhundert verbreiteten Traktaten zur Gedächtniskunst überein: Als Tugend prudentia verbindet sie die Vergangenheit mit der Gegenwart und bereitet auf die Zukunft vor. Das gilt sowohl für die Tradition als solche als auch für den Moment des Musizierens, in dessen Verlauf ein locus erreicht wird, der als Wegweiser zu dem nächsten verweist. Auch hier wieder die Metapher des Durchwanderns einzelner Stationen im imaginären Raum der Erinnerung.

Solange es um die Überlieferung eines Chorals geht, mag Treitlers Begriff der mündlichen Komposition greifen. Beim Organum wie beim Neuma kommt dagegen die Abschweifung hinzu - etwas, das von dem direkten Weg von einem Wegweiser zum nächsten wenigstens zeitweilig abführt. Leo Treitler bezieht auf den Gregorianischen Choral, auf Peter Wagners Formenlehre und auf dessen Idee einer Grundgestalt, die allen Formen die rezitierende Psalmodie zugrundelegt. Aber beim Organum geht es um den Abweg nach fast jedem Ton des Chorals, dessen Verzierung, aber auch um die mündliche Improvisation, die Abkehr von der Bedeutung des Textes und die Hervorkehrung der phonetischen Seite der Sprache.