Oliver Gerlach: Im Labyrinth des Oktōīchos - Das Labyrinth im einstimmigen Gesang: (3) Übung in der kalophonen Kunst, das Stichīron «τῷ τριττῷ» zu singen

Analyse der Freiheiten in der kalophonen Methode der Thesis

Das notierte Gerüst im Stichīrarion kann in Analogie dazu als Fundament des Melos in der komponierten Form eines Stichīron kalophōnikon oder Anagrammatismos verstanden werden, wobei auch die Notation des 18. Jahrhunderts noch nicht die Ebene des Melos ausschreibt, aber die Kunst des Überganges bis auf die allseits bekannten Formeln und Ornamente auskomponiert. Im Vergleich der Handschriften kann die erste Freiheit der Gestaltung über diesem Fundament allein in der Behandlung des Textes der Dichtung gefunden werden:

δ’ (G sol) τῷ-το-το-το· (ἐνήχημα)
δ’ (G sol) τῷ τρι-ττῷ- τῆ-τῆς ἐ-ρω-τή-σεω-χως τῷ πέ-χε-τρε- Ε- φιλεῖς με· πλ δ’ (C sol)
παλιν δ’ τῷ τρι-κι-κι-κι-κι-κι-κι-κι-ττῷ· τῷ- τρι-ττῷ- τῆς ἐρωτή-σεω-χως τῷ- πέ- Εχε- Ετρε- φιλεῖ-ς με· δ’ ἔσω

Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv, Mus. ms. 25059, fol. 758
235: Wiederholung des Modells mit der medialen Intonation παλὶν („noch einmal“)

πέ- Ε-τρε- φιλεῖ-ς με· δ’ ἔσω (C sol) πέ- Ε-τρε- Ε- φιλεῖ φιλεῖς με- Ε-νε-χε- φιλεῖς με πέ-τρε· δ’ ἔσω (C sol)
πέ-τρε φιλεῖ- φιλεῖς με-· πλ β’ (E mi) τὸ- τρι-ττὸν τῆς ἀρνήσε-ω-ς· α’ (a re)
ὁ χριστὸ-χο- Ος· διoρθώχω-σατο-· πλ δ’ νανὰ (C ut)
νανὰ (F fa) δι-ὸ- καὶ- πρὸς τὸ-ν κρυφι-ο-γνώ-στη-ν ὁ σίμων· πλ δ’ (C sol)
το-το-το· (κράτημα) πλ δ’ νανὰ (C ut)
διὸ- καὶ- πρὸ-ς τὸ-ν κρυφιο-γνώ-χω- Ωστη-ν ὁ σί-μων· πλ δ’ νανὰ (C ut)

Petros wird durch diese Wiederholung nicht dreimal gefragt, sondern siebenmal. Die mediale Intonation παλὶν meint nicht den Namen einer Tonart oder einer Zusammensetzung und dessen Melos, sondern ganz einfach „noch einmal“, um den Isonsängern zu vermitteln, daß das zugrundeliegende Modell nochmals von vorne durchlaufen wird. Die Kadenz zum ἦχος πλάγιος τοῦ δευτέρου könnte eigentlich — entsprechend der Metrophōnia und der medialen Signatur im alten Stichīrarion — vor dem Neuanfang gebildet werden. Sie wird aber in der von Gavriīl notierten Komposition in eine Kadenz auf den Plagios Tetartos umgelenkt — oder vielmehr: in die — mit der Cheironomia Tromikon (τρομικόν), in schwarzer Tinte, und Krousma (κροῦσμα), in roter Tinte, verzierte — Intonationsformel der Haupttonart zurückverwandelt (violetter Rahmen).[44] Auf diese Weise wird die erste mediale Signatur erst nach der letzten Wiederholung erreicht, d.h. bis zur medialen Intonation παλὶν wird lediglich die Hauptonart ἦχος τέταρτος exponiert.

Bei der Textbehandlung fallen die eingeschobenen Konsonanten und Großschreibung von Binnenvokalen durch den Skriptor auf, die mit einer technischen Eigenheit byzantinischer Gesangskunst zusammenhängt, die bis heute üblich ist und auch das Singen von sehr langen Melismen ermöglicht. Der Sänger schneidet den Gesang ohne Abphrasierung ab, um eine kurze Atempause zu machen, ohne die Spannung aufzulösen.

Stichīron kalophōnikon τῷ τριττῷ τῆς ἐρωτήσεως

Um zu zeigen, inwiefern dem durch Metrophōnia memorierten Modell „Schritt für Schritt“ gefolgt wird, sind Übereinstimmungen mit ihm durch blaue Tonbuchstaben wiedergegeben. Diese Übereinstimmungen beruhen vor allem auf den revidierten Fassungen des Stichīron τῷ τριττῷ τῆς ἐρωτήσεως in den Stichīraria des 14. Jahrhunderts, aufbewahrt in den Bibliotheken in Mailand und Berlin, und auf den mit Tonneumen in roter Tinte hinzugefügten Varianten des Modells. Zwischen diesen Übereinstimmungen erstrecken sich bei einer Häufung von roten Tonbuchstaben melismatische Felder, die durch weitere cheironomische Zeichen aufgefüllt sind. Diese sind ähnlich wie in einem Tropus „Schritte“, die zumindest keinen Schritten im alten Stichīrarion folgen, aber möglicherweise den „Fußstapfen“ anderer Komponisten, wie denen des Komponisten Nikolaos Kampanīs, ein früher Komponist der Palaiologen-Periode.

Erst nach der Intonation παλὶν, also mit der Wiederaufnahme des Modells vom Anfang, wird im dritten Kolon die mediale Signatur für den ἦχος πλάγιος τοῦ δευτέρου vorbereitet, indem der Melos sich im Pentachord des Devteros zwischen E mi (βου) und b mi (ζω’) bewegt (weißer Rahmen). Der gleiche Pentachord erscheint auch zuvor im Melisma über πέ-χέτρε, wird aber zur Stufe des Prōtos aufgelöst (schwarzer Rahmen) — entsprechend dem gewichtigen „Schritt“ der dyo apostrophoi (δύο ἀπόστροφοι) in der Metrophōnia (Solmisation des Modells) des alten Stichīron über der Silbe τὸ. Das alles ist nur Vorbereitung, denn erst nach den zahlreichen Wiederholungen der Frage wird am Ende schließlich die mediale Signatur des ἦχος πλάγιος τοῦ δευτέρου erreicht.

Der Anfang des Stichīron kalophōnikon dagegen entwickelt den stichirarischen Melos des ἦχος τέταρτος?

Die stilistischen Untersuchungen zu den Tonarten im zweiten Kapitel haben ergeben, daß die Kadenzformeln der Stichīra im wesentlichen mit der Melodiebildung des Eirmologion übereinstimmen und die Notation des Stichīrarion sich gegenüber den Schreibkonventionen des Eirmologion durch das Setzen medialer Signaturen auszeichnet. Damit kennzeichnen den stichirarischen Stil keine eigenen Kadenzformeln gegenüber den Gesängen des Eirmologion, wie es die seit dem 18. Jahrhundert verbreiteten Gesänge vorführen, sondern die stichirarischen Gesänge des alten Stichīrarion weiten die modellhaften Kadenzen des eirmologischen Melos durch Überformungen aus, so daß sich der stichirarische Melos gegenüber der klaren Fixierung der Tonart im Eirmologion durch Übergänge in andere Tonarten von diesen Modellen freimacht. Eine Bestätigung für diese These findet sich in den eigenwilligen Ansingformeln in dem Faksimile der Ausgabe der Erōtaprokriseis-Traktate, in denen die besondere Anordnung der acht Tonarten im Doxastikon oktaīchon Θεαρχίῳ νεύματι eingeübt wird — wohl um den Sänger den Einstieg zu erleichtern, der hierin gleich den großen Ambitus des Gesanges überschauen und die seiner Stimme gemäße Tonhöhe finden kann, von der aus der Gesang begonnen werden sollte.[45] Die oft ungewöhnliche Disposition der Tonarten zeigt, wie flexibel das System in jedem Stichīron gehandhabt wird und sogar noch im Verlauf eines Stichīron verändert werden kann.

Auf das Stichīron τῷ τριττῷ τῆς ἐρωτήσεως angewandt, wäre der ἦχος τέταρτος im Eirmologion eine Tonart mit Kadenzen auf der ersten G sol (δι) bzw. d sol (πα’) (Tetartos) und auf der zweiten Stufe a re (κε) bzw. e re (βου’) (Prōtos).[46] Im ersten Teil, wo die Haupttonart auf G sol (δι) exponiert wird, wird die Quintgattung des Prōtos als Pentachord zwischen D re (πα) und a re (κε) im Melos präsent (schwarzer Rahmen). Die Kadenz liegt daher einen Tetrachord tiefer als erwartet, dementsprechend werden in der Wiederholung des Anfangs nach der medialen Intonation παλὶν die Kadenzen des Tetartos einen Tetrachord tiefer als ἦχος τέταρτος ἔσω (mediale Signatur) mit der Finalis auf C sol (νη) gebildet. Hier werden die Tonarten der Plagioi in die der Kyrioi verwandelt, Petrus wird daher nicht wie die Gottesmutter in den Himmel geholt, sondern vielmehr in die Hölle gestoßen, denn der Oktavraum der acht Tonarten verlagert sich nach unten und der Abgrund tut sich unter ihm auf. Indem er auf Erden binden kann, was im Himmel gebunden sein soll, steht es in seiner Macht, ob die von ihm vetretene Religion den Menschen nur Leiden bringt. Diese Konstruktion ist bereits im traditionellen Stichīron angelegt (im oberen Fenster bei den Worten ὁ χριστὸς): Das einzige Melisma des ersten Teils, über den das Stichīron kalophōnikon gebildet wird, versucht, die zweite Stufe des ἦχος πρῶτος wieder im oberen Tetrachord auf a re (κε) zu errichten, doch über die Cheironomia des Piasma (πίασμα) purzelt es wieder nach unten auf D re (πα) und findet von dem ἦχος πρῶτος ἔσω aus den Mesos auf der Stufe des Tritos F fa (γα) — als φθορά νανὰ, die bekanntlich in den ἦχος πλάγιος τοῦ τετάρτου, in diesem Fall auf C sol (νη), sich auflöst (siehe unteres Fenster).[47] Der weise Richtspruch des Christus, der nur in einer Frage besteht, läßt Petrus nicht aus dem Labyrinth finden — oder vielmehr: läßt ihn den Ausgang des ἦχος τέταρτος ἔσω einen ganzen Tetrachord tiefer finden. Diese Doppeldeutigkeit zwischen Kyrios und Plagios ist es, die die kalophone Komposition als Thema herausarbeitet.

die großen Zeichen im Stichīron kalophōnikon über τῷ τριττῷ τῆς ἐρωτήσεως

Anmerkungen

44

Die Bestimmung der cheironomischen Zeichen oder großen Hypostasen folgen dem Lehrgesang Mega Ison von Koukouzelīs in der Ausgabe von Maria Alexandru: Koukouzeles’ Mega Ison – Ansätze einer kritischen Edition, in: CIMAGL 66 (1996), S. 3-23; τρομικόν 8 (ἦχος πρῶτος) & κροῦσμα 19 (ἦχος τρίτος in der φθορά νανὰ):

zitiert nach: Maria Alexandru: „Koukouzeles’ Mega Ison – Ansätze einer kritischen Edition“ in: CIMAGL 66 (1996), S. 11.zitiert nach: Maria Alexandru: „Koukouzeles’ Mega Ison – Ansätze einer kritischen Edition“ in: CIMAGL 66 (1996), S. 12.
317: Tromikon τρομικὸν & Krousma κροῦσμα in Koukouzelīs' Lehrgesang «Mega Ison»

45

Sechster Traktat der Erōtaprokriseis-Sammlung (S. 170).

46

Vergleiche hierzu die eirmologische Ode Θαλάσσης το Ερυθραίον πέλαγος im ἦχος τέταρτος (S. 271).

47

Zur Identifizierung der Namen der cheironomischen Zeichen.