Zur kalophonen Bearbeitung des Stichīron τῷ τριττῷ τῆς ἐρωτήσεως

Die kalophone Bearbeitung von Gesängen aus dem Stichīrarion ist eine Gattung, die sich in Konstantinopel während der Palaiologenzeit (1261-1453) entwickelte. Ein Stichīrarion kalophōnikon aus dem späten 18. Jahrhundert aus der Bosporus-Region, das sich heute in der Berliner Staatsbibliothek befindet, bezeugt ein großes Interesse an dieser Form bis kurz vor der Einführung der neuen Methode, denn diese Handschrift umfaßt fast 1900 Seiten und ist mit etwa 310 Stichīra aus dem Zyklus mit den unbeweglichen Festen (Mīnaion) angefüllt.[30] Die Stichīra, die in einfachen Stichīraria bis ins 14. Jahrhundert nur etwa ein Drittel bis eine ganze Seite einnehmen, sind in diesem Buch so ausführlich notiert worden, daß sie durchschnittlich sechs Seiten füllen und in mehrere Teile unterteilt sind, deren letzter meist als Anagrammatismos (ἀναγραμματισμός) den Text etwas freier behandelt. Die Komponisten dieser Sammlung sind vor allem aus dem 14. und 15. Jahrhundert, besonders die Namen Iōannis Koukouzelīs, Xenos Korōnīs und Manouīl Chrysaphīs werden häufig angegeben, und so setzt sie der Gesangskunst der Palaiologenzeit ein Denkmal.

In den Druckausgaben der neuen Methode wurde nur ein winziger Teil des gewaltigen Repertoires stichirarischer Gesänge im Mathīmatarion („Übungsbuch“) abgedruckt oder verkürzt und ohne Teretismos in der Komposition des langsam stichirarischen Melos von Iakovos Prōtopsaltīs übertragen und in einem Buch, das Doxastarion argon genannt wird, veröffentlicht, zu denen auch das Stichīron Θεαρχίῳ νεύματι gehört, dessen Teile im zweiten Kapitel analysiert wurden. Die Rezeption des traditionellen Stichīrarion, die den Druckausgaben zugrundeliegt, geht auf die Zeit seit den 60er Jahren des 18. Jahrhunderts zurück. Offenbar hatte die gestalterische Freiheit der kalophonen Methode, den stichirarischen Melos zu bilden, die traditionelle chorische Auffassung des stichirarischen Melos verdrängt. Auf diese Lücke in der Überlieferung reagierte Petros Peloponnesios, als er in seinem Doxastarion eine neue durchrhythmisierte Auffassung des kurzen stichirarischen Stils vorlegte. In der folgenden Generation war es vor allem Iakovos, der den von Petros eingeführten Stil ablehnte und ihm sein traditionelles Verständnis als langsamen stichirarischen Stil entgegensetzte, das durch die Niederschrift seines Schülers Grīgorios von Kreta als Doxastarion argon in die Überlieferung einging. Die Gesänge dieses Doxastarion sind nur selten so ausgedehnt wie das genannte Doxastikon oktaīchon und sind mehr oder weniger direkte Anwendungen des Melos aus dem späten 18. Jahrhundert auf die Modelle im alten Stichīrarion, auf das Petros’ Schaffung eines schnellen stichirarischen Stils nicht mehr direkt als Thesis des Melos bezogen werden kann. Die Übertragungen des Stichīrarion nach der Neuen Methode beziehen sich daher nicht mehr direkt auf die alte Überlieferung der Stichīraria, sondern auf die Ausgaben der Doxastaria von Iakovos und Petros, die von der dritten Generation in die modernen Neumen übertragen wurden.[31]

Anders als das Eirmologion kalophōnikon wurde das entsprechende Stichīrarion kalophōnikon nicht in die neue Notation übertragen (zumindest gehört das Doxastikon τῷ τριττῷ τῆς ἐρωτήσεως nicht zur kleinen Auswahl im gedruckten Buch Mathīmatarion) und daher ist in der Diskussion um die cheironomischen Zeichen und um das angemessene Verständnis der spätbyzantinischen Notation gerade diese Gattung von Gregorios Stathīs ins Feld geführt worden.[32] Selbst die Rekonstruktion einer Praxis, wie sie sich bis in das späte 18. Jahrhundert erhalten hat, ist aus der heutigen Unwissenheit heraus eine Herausforderung.

Das Problem der Ignoranz hinsichtlich der kalophonen Gesangskunst

Die Unzulänglichkeit der ersten Versuche, die cheironomischen Zeichen mit einer Standardform der Umschrift zu katalogisieren, wird allein durch die frühe postbyzantinische Praxis des 15. Jahrhunderts deutlich, wie sie von Manouīl Chrysaphīs kritisiert wird. Die Theseis waren hinsichtlich der Gattungen und Formen so differenziert, daß viele Sänger die verschiedenen Methoden durcheinanderbrachten:

ἀλλὰ μηδὲ τὸν δρόμον, ὦ οὗτος, τῆς μουσικῆς ἁπάσης τέχνης καὶ τὴν μεταχείρησιν ἁπλῆν τινα ωομίσῃς εἶναι καὶ μονοειδῆ, ὥστε τὸν ποιήσαντα στιχηρὸν καλοφωνικὸν μετὰ θέσεων ἁρμοδίων, μὴ μέντοι γε καὶ ὁδὸν τηρήσαντα στιχηροῦ, καλῶς ἡγεῖσθαι τοῦτον πεποιηκέναι καὶ τὸ ποιηθὲν ὑπ’ αὐτοῦ καλὸν ἁπλῶς εἶναι καὶ μώμου παντὸς ἀνεπίδεκτον· ἐπεὶ εἰ καὶ μεταχείρησιν στιχηροῦ τὸ ὑπ’ αὐτοῦ γινόμενον οὐκ ἕχει, τῷ ὄντι οὐκ ἔστιν ἀνεπίληπτον. μὴ τοίνυν νόμιζε ἁπλῆν εἶναι τὴν τῆς ψαλτικῆς μεταχείρησιν, ἀλλὰ ποικίλην τε καὶ πολυχιδῆ καὶ πολὺ τι διαφέρειν ἀλλήλων. γίνωσκε τὰ στιχηρὰ καὶ τὰ κρατήματα καὶ τὰ κατανυκτικὰ καὶ τὰ μεγαλυνάρια καὶ οἱ οἶκοι κατὰ τὰς μεταχειρίσεις αὐτῶν καὶ τὰ λοιπά, περὶ ἅ ἡ τέχνη καταγίνται· ἄλλη γὰρ ὁδὸς καὶ μεταχείρησις στιχηροῦ καὶ ἄλλη κατανυκτικοῦ καὶ ἑτέρα κρατήματος· ἄλλη μεγαλυναρίου καὶ τῶν οἴκων ἑτέρα καὶ ἄλλη χερουβικοῦ καὶ ἀλληλουϊαρίου ἑτέρα. ἔνθεντοι κἄν τοῖς καλοφωνικοῖς στιχηροῖς οἱ τούτων ποιηταὶ τῶν κατὰ τὰ ἰδιόμελα μελῶν οὐκ ἀπολείπονται, ἀλλὰ κατ’ ἴχνος ἀκριβῶς ἀκολουθοῦσιν αὐτοῖς καὶ αὐτοῖς μέμνηνται. ὡς γοῦν ἐν μέλεσι διὰ μαρτυρίας καὶ τῶν ἐκεῖσε καιμένων μελῶν ἔνια παραλαμβάνουσον ἀπαραλλάκτως, καθάπερ δὴ καὶ ἐν τῷ στιχηραρίῳ ἔκκειντο, καὶ τὸν ἐκεῖσε πάντες δρόμον παρ’ ὅλον τὸ ποίημα τρέχουσιν ἀμετατρέπτει, καὶ τῷ πρωτέρῳ τε τῶν τοιητῶν ἀεὶ ὁ δεύτερος ἕπεται καὶ τοῦτο ὁ μετ’ αὐτόν, καὶ πάντες ἁπλῶς ἔχονται τῆς τέχνης ὁδοῦ. ὄτι δὲ ταῦθ’ οὕτως ἐχει, καθάπερ ἐγώ φημι νῦν δῆλον ἐντεῦθεν.

Ὁ γὰρ χαριτώνυμος μαΐστωρ, ὁ Κουκουζέλης, ἐν τοῖς ἀναγραμματισμοῖς αὐτοῦ τῶν παλαιῶν οὐκ ἐξισταται στιχηρῶν, ἀλλὰ κατ’ ἴχνος τούτοις ακολουθαῖ, δυνάμενος ἄν πάντως καὶ αὐτός, ὡς οἱ νῦν, καὶ πολὺ μᾶλλον εἴπερ οὗτοι, μέλη μόνα ποιεῖν ἴδια, μηδέν τι κοινωνοῦντα τοῖς πρωτοτύποις αὐτῶν στιχηροῖς. ἀλλ’ εἰ οὕτως ἐποίει, οὔτε καλῶς ἂν ἐποίει, οὔτε ἐπιστήμης προσηκόντως ἐπαΐειν ἐδοκει. διὸ καὶ κατ’ ἀκρίβειαν τοῦ τῶν παλαιῶν στιχηρῶν ἔχεται δρόμου καὶ αὐτῶν οὐ πάνυ τοι ἐξίσταται, τοῖς τῆς ἐπιστήμης νόμοις πειθόμενος.

But, O my friend, do not think that the manner of the whole musical art and its practice is so simple and uniform that the composer of a kalophonic sticheron with appropriate theseis who does not adhere to the manner of old sticheron can think that he has done well and that which he has written quite good and free from every condemnation – since, if what he has composed does not include the method of the old sticheron, it is not correct. Do not think therefore, that the performance of chant is simple, but rather that it is complex and of many forms. Know that the stichera and the kratemata and the katanyktika [Stichīron, das zum Orthros und Esperinos gesungen wird] and the megalynaria [Hymne für die Gottesmutter, der Anfang aus dem Magnificat, Ode 9b und in Anschluß an diese zu besonderen Festtagen gesungen wird] and the oikoi [Strophe eines Kontakion] differ greatly from each other according to their use and in other matters about which the art is concerned. For one kind of manner and practice pertains to the sticheron, another to the katanyktikon, another to the kratema, another to the megalynarion, another to the oikoi, another to the cherubikon, another to the alleluiarion. Thus even in the kalophonic stichera the composers of these do depart from their original melodies but follow them accurately, step by step, and retain them. Therefore, they take over some melodies unchanged from tradition and from the music thus preserved (as it is recorded in the old Sticherarion), and they all follow the path unaltered throughout the entire composition. The second composer always follows his predecessor and his successor follows him and, to put it simply, everyone retains the technique of the art. That things are as I now say can be seen from that follows.

Ioannes Koukouzeles, the maistor, does not alter the stichera in his anagrammatismoi, but follows them step by step, although, like composers now, he was entirely able (indeed he was much more able) to create his own original chants which had nothing in common with their prototype stichera. But, had be acted thus, he would neither acted correctly nor would he have thought that he had interpreted the science of composition befittingly. Therefore, he follows the path of the old stichera precisely and does not alter them at all, obeying the rules of the science.[33]

Manouīl Chrysaphīs macht ausdrücklich einen Unterschied zwischen einer eigenen Komposition und der Anwendung der Thesis — und sei es in einer so kunstvollen Weise, wie sie in einem Anagrammatismos geschieht. Der Herausgeber Dimitri Conomos versteht unter Anagrammatismos eine Form, die nur einen Teil des traditionellen Stichīron „kalophon“ gestaltet und am Anfang sowie gegen Ende dieses Teils noch ein Kratīma einfügt. So gesehen wären fast alle Gesänge des Stichīrarion kalophōnikon ἀναγραμματισμοί, da ein traditionelles Stichīron meist in drei kalophone Bearbeitungen aufgeteilt wird.[34] Die Glossen des Berliner Stichīrarion kalophōnikon zeigen aber ein engeres Verständnis dieser Gattung und bezeichnen nur eine Komposition über den letzten Teil des Modells (Stichīron) als Anagrammatismos, bei der auch der Text verändert wird — z.B. durch Wiederholung von Worten, aber auch durch dichterische Einfügungen von neuen Texten, die mit den Worten der Vorlage spielen. Möglicherweise waren das im 15. Jahrhundert Techniken, die Manouīl Chrysaphīs auf der Grundlage seiner Unterscheidung zwischen Thesis und eigener Komposition kategorisch ablehnte — wahrscheinlicher ist, daß er mit diesen Worten auf freiere Kompositionen anspielte, die — im Unterschied zu den „Ignoranten“ — beide Techniken miteinander verbanden. Denn selbst in der Form Anagrammatismos schließt die Technik, die Thesis „Schritt für Schritt“ auf die Überlieferung im „alten Stichīrarion“ anzuwenden, keineswegs originelle Gestaltung aus. In diesem Sinne sollten die großen Meister studiert werden, um zu neuen eigenständigen Lösungen anzuregen. So folgen die großen Sänger der byzantinischen Kirchenmusik einander, ohne dabei in sklavische Nachahmung verfallen zu müssen, aber auch ohne gegen die elementaren Regeln der Thesis des stichirarischen Melos zu verstoßen.

Im 18. Jahrhundert wird die alte Unterscheidung zwischen einer freien und eigenen Komposition und der „Methode der Thesis“ eines Stichīron kalophōnikon nach dem Modell oder „Prototyp“ im alten Stichīrarion so ausgedrückt: Es ist von den Komponisten die Rede, die in der Kunst der Kalophōnia dem Modell gefolgt sind (ἑκαλλωπίσθη δὲ παρὰ τοῦ κουκουζέλους), von dem Modell im alten Stichīrarion und einer Komposition eines „Vorgängers“ (ἕτερον στιχηρόν τήν αὐτήν ἑορτήν· κυρ[ίου] νικολάου τοῦ καμπάνη) und schließlich von dem Schreiber der Handschrift Gavriīl aus Neochōri aus dem 18. Jahrhundert, dessen analytische Notation die Stichīra kalophōnika aus dem 15. Jahrhundert übertragen hat. In einem Eintrag eines späteren Besitzers, auf der letzten Seite der Handschrift, werden die „Verschönerungen“ der „alten Meister“ als „Lehrstücke“ ausgewiesen:

Ἡ μουσικὴ αὕτη καὶ τερψιχόρης βίβλος
τερπνῶν φέρου σασειρὰν τῶν μαθήματων
ἐκ τοῦ παλαιοῦ ὡς ἐνί μετα πόνου
ἐκαλλιγράφη χειρὶ τοῦ Γαβριήλου·
προσκυνητοῦτε, καὶ θύτων διακόνου,
πατρίς ᾦπ(ερ) πέφυκε τὸ νεοχῶρι,
μέρος ὅν ὡς ἔγγιστα τῆς κωνσταντίνου,
ἐν βοσπόρῳ κείμενον καὶ ἐγνωσμένον·
ὅθεν τοῦ τῳ φίλτατε ἀπό καρδίας,
σὔχου τυχεῖντε τῆς κληρουχίας :—

Diese Musik und das Buch der Terpsichore
enthält auf angenehme Weise eine Reihe von Lehrstücken
der alten (Meister) – wie sie sorgfältig
in Schönschrift von der Hand des verehrungswürdigen Gavriīl
aufgeschrieben wurden, dem Diakon,
der in Neochōrios (Yeniköy) aufwuchs,
ein Ort (in der Gegend) um Konstantinopel (Istanbul),
der am Bosporus liegt und bekannt ist;
Von dort kam das Buch dieses von Herzen geliebten Freundes
bei einer Erbaufteilung zu mir.

κατὰ τὸ ᾳωβ’ σωτήριον ἔτος .

im 1802. Jahr des Heils

Es gibt daher mehrere Ebenen, die auseinanderzuhalten sind:

Zwar können nicht alle Fragestellungen im Rahmen dieser Arbeit erschöpfend behandelt werden, doch lassen sich einige Aspekte einer Überlieferung beleuchten, die seit dem 13. Jahrhundert und bis ins 18. Jahrhundert bestanden hat und deren Repertoire im Vergleich umfangreicher als die Sammlung des Magnus liber organi ist.

das Stichīron τῷ τριττῷ τῆς ἐρωτήσεως

Anmerkungen

30

Berlin, Staatsbibliothek, Mus. ms. 25059.

31

Th. Phokaeōs: Δοξαστάριον Ιακώβου, Istanbul/Konstantinopel 1836, 2 Bde.

In Iakovos' Thesis des Melos des hier zur Rede stehenden Stichīron τῷ τριττῷ τῆς ἐρωτήσεως im īchos tetartos wird — zumindest in der Übertragung von Chourmouzios (abgedruckt in Bd. 2, S. 42-45) — der Quintsprung zu Beginn auf den Pentachord des Prōtos verlagert, da entsprechend Petros Peloponnesios der stichīrarische Melos mit der Basis auf D re (πα) verlegt wird. Chrysanthos äußerte sich zu dem Problem, daß derselbe Pentachord von den Prōtos wieder in den Tetartos umgebaut werden müsse in seinem Mega Theorītikon (S. 173f, §. 388). Zur Diskussion dieser metavolī kata tonon und zur Auffassung dieses Stichīron in der heute lebendigen Tradition (mit Noten und Tonbeispielen) siehe:

http://www.analogion.com/

Möglicherweise kann eine Beschäftigung mit der älteren Überlieferung wie hier zu sehr viel einfacheren Erklärungen beitragen, die seit Chrysanthos und der neuen Methode für die Praxis nicht mehr zugänglich sind. Dabei sollte allerdings Iakovos' Verständnis der Thesis des stichirarischen Melos nicht unterschätzt werden: Allerdings bewegt sich die metavolī kata tonon in der spätbyzantinischen Notation zwischen Tetartos und der Phthora nenanō (φθορά νενανὼ) und wird durch das rote Epegerma (ἐπέγερμα) angezeigt, das in beiden Ansingformeln notiert wird: am Ende des Kallopismos (Abb. 233) und bei der Wiederholung des Anfangs über παλὶν (Abb. 235).

32

G. Th. Stathis: An Analysis of Sticheron τὸν ἥλιον κρύψαντα by Germanos, Bishop of New Patras, in: Studies in Eastern Chant 4 (1979), S. 177-227.

33

D. Conomos: The Treatise of Manuel Chrysaphes, S. 40-45.

34

D. Conomos: The Treatise of Manuel Chrysaphes, S. 43, Anm. 12:

An anagrammatismos is a kalophonic setting of certain Byzantine stichera used on festal occasions. Only a part of the hymn text is used, and this is preceded and followed by florid teretismata.