Entwicklung der Organa in der Liturgie um Paris

Die wichtigste Quelle zu der Kunst, organa über Haltetöne zu improvisieren, die auf der Melodie eines vorgegebenen Chorals beruhen, ist ein theoretischer Traktat, der uns durch eine Handschrift aus dem frühen 13. Jahrhundert überliefert ist. Der Traktat selber wird anhand des Organumstils auf die siebziger Jahre des 12. Jahrhunderts datiert. Diese stilistische Einordnung beruht im wesentlichen darauf, was hundert Jahre später ein Zögling der Notre-Dame Schule von Paris über die Musik dieser Schule schrieb. In seinem Traktat beschreibt Anonymus IV den Stil eines freirhythmischen Organums, welches er organum purum nennt.

"Von Maître Léonin wird gesagt, daß er der beste Organumsänger (organista) gewesen ist. Er machte das Magnus Liber Organi zum Antiphonar und zum Graduale mit Gesängen für zahlreiche Gottesdienste. Es blieb gebräuchlich bis zur Zeit des Maître Pérotin, der es dann kürzte. Er prägte einen neuen rhythmischen Stil, den Diskant, und fügte clausule ein, da er der beste Diskantsänger (discantor) war und besser als Léonin – allerdings nicht, was die Subtilität der Organa betraf."

«Et nota, quod magister Leoninus, secundum quod dicebatur, fuit optimus organista, qui fecit magnum librum organi de gradali et antifonario pro servitio divino multiplicando. Et fuit in usu usque ad tempus Perotini Magni, qui abbreviavit eundem et fecit clausulas sive puncta plurima meliora, quoniam optimus discantor erat, et melior quam Leoninus erat. Sed hoc non <est> dicendum de subtilitate organi et cetera.»

Rein bezieht sich hier auf Leonins Organum. Durch die Bearbeitung der Organa kommt die Zutat der modalrhythmischen Organisation, die Anonymus IV Diskant nennt und als dessen Meister er Perotin betrachtet. In diesem Sinne habe Perotin als Diskantor das Magnus liber organi des Organista Leonin verkürzt und durch ein Repertoire drei- und vierstimmiger Organa erweitert. Anonymus IV identifiziert das organum purum mit Leonin. Die Forschung ist seit einigen Jahren übereingekommen, das Wirken eines magister scholae mit dem Namen Leonin auf die siebziger Jahre des 12. Jahrhunderts zu datieren, das des magister scholae mit dem Namen Perotin dagegen auf die neunziger Jahre.

Auf dieses zeitliche Grundgerüst bezieht sich auch die Datierung des Organumstils. Liturgisch lassen sich die drei Organumstücke am Ende des Organumtraktats dem Kloster Saint Maur des Fossés und der Kirche Notre-Dame auf der Île-de-la-Cité zuordnen. Daher die Annahme, die Handschrift des Vatikanischen Organumtraktats sei eine spätere Kopie eines Traktats, der in den siebziger Jahren in Paris entstanden sei, um ausgewählten Sängern in der Kunst des Organumsingens zu unterweisen – eine Kunst, in der Leonin, dem Schöpfer des zweistimmigen Magnus liber organi, Meister gewesen sei.

Entlang der liturgischen Stücke dieses Traktats hat Michel Huglo versucht, eine Vorgeschichte zu rekonstruieren. In seinem Aufsatz zu den Anfängen der Pariser Organa sind einige Handschriften aus dem Pariser Raum aufgelistet und ausgewertet worden, die für diese Rekonstruktion in Frage kommen. Im Unterschied zu den üblichen historischen Darstellungen zum Thema frühe Mehrstimmigkeit, die alle verfügbaren theoretischen und liturgischen Quellen auswerten, um eine Entwicklung von den Anfängen einer handschriftlich überlieferten Mehrstimmigkeit zu beschreiben, bezieht sich Huglos Aufsatz liturgie- und kirchengeschichtlich auf Paris.
 

Ein legendärer Vorfall in Saint Maur des Fossés

Huglos Geschichte beginnt im Kloster Saint-Maur-des-Fossés - mit einer Legende, die sich auf einen Vorfall bezieht, der sich Mitte des 11. Jahrhunderts während einer Nokturn zur Überführung des Heiligen Babolenus (die Nacht zum 26. Juni) in diesem Kloster zugetragen haben soll. Nachdem der Abt die zwölfte und letzte Lesung beendet hat, nach der das Responsorium gesungen wird, das gegen Ende der dritten Nokturne erklingt, intonieren vier Brüder mit Organum (cum organo) das Responsorium Sanctus Domini confessor. Als sie zu der Stelle ...dies terris illuxit... gelangen, gerät einer von ihnen in Wut, ein Mönch, der Hildoard genannt wird und das Amt des Vorsängers hat (gerens officium praecantoris), und geht in die Mitte des Chores und intoniert gegen die anderen das Responsorium Ecce vere Israelita. Danach schwört er bei seinem Leben, daß er nicht weiter hinnähme, daß man in dieser Kirche die Erfindungen (adinventiones) von diesem Odon, dem Komponisten des Responsoriums, singe. Als er sich nach diesem Eklat in seiner Zelle schlafen legt, erscheint ihm der Heilige Babolenus und tadelt Hildoard für sein Benehmen...

Huglo fand diese Geschichte in einer Sammlung mit Wundergeschichten um den Heiligen Babolenus: Miracula sancti Baboleni. Er geht davon aus, daß die Angaben auf falschen Akten beruhen und unzuverlässig sind. Folgt man Amédée Gastoué, so könnte jener Hildoard aus den Miracula mit dem Komponisten Odon einen Abt gemeint haben, der in den Jahren 1006 bis 1029 das Amt in Saint-Maur-des-Fossés innehatte. Zuvor war er scholae cantorum magister in Cluny gewesen und er brachte den Kantor Girardus mit, als er in Saint Maur Abt wurde.

Um die Mitte des Jahrhunderts arbeitete ein anderer Odo de Saint Maur im Skriptorium. Aus seiner Feder sind zwei Handschriften überliefert, die Responsorien für den Heiligen Babolenus enthalten, aber das nach der Legende von Odon komponierte findet sich nicht darunter. In seiner Vita Burcardi, die der Schreiber Odo im Auftrag von Bouchard, dem Comte de Corbeil und Wohltäter der Abtei, verfaßte, erwähnt er, daß ältere Mönche es vorzogen, nach dem cluniazensischen Machtwechsel die Abtei zu verlassen.

Das Wort „Machtwechsel“ wirft weitere Fragen auf: Wie sind die Machtverhältnisse innerhalb eines Klosters und inwieweit werden sie von außen – durch politische Macht – bestimmt?

Geht man von dem Ideal der Klostergemeinde aus, wie es Benedikt von Nursia (etwa 480-547) in seiner Regel entwarf, so ist die ökonomische Grundlage dieser Idee die Bewirtschaftung eigener Nahrungsressourcen – eine ökonomische Autonomie, ohne die auch keine geistige denkbar ist. Eine weitere Voraussetzung für die Selbstversorgung durch eigene Ländereien scheinen die asketischen Regeln und die ausgedehnten Fastenzeiten in der Liturgie zu sein. In diesem ökonomischen Sinne betrachtet Kaden, in einem Aufsatz über Die Anfänge der Komposition, das Kloster als Ausstieg und Alternative gegenüber den extensiven Wirtschaftsformen des Feudalismus und ihrer expansiven Kriegspolitik. Mir scheint diese Interpretation der Benediktinerregel plausibel. Doch sie sah auch innerhalb der Mönche eine strenge Hierarchie vor, wobei die meiste Macht im Amt des Abtes lag. Deshalb schrieb Benedikt vor, daß die Klostergemeinde den Abt wählt, der ihr vorangestellt werden sollte. In der Geschichte der einzelnen Klöster war dieses Zugeständnis an Demokratie nur selten gewährleistet. Nach dem Konzil von Tour 1096 ordnete Papst Urban II an, daß die Berufung eines Abtes von ihm abgesegnet werden müsse. Im 13. Jahrhundert war die Berufung überhaupt Sache des Papstes geworden.

Die Abtei Saint Maur wurde auf dem Konzil von Tours von ihrer Schwesterabtei in Glanfeuil getrennt. Damit war Cluny dem Ziel nähergekommen, Saint Maur auf den Rang einer Priorabtei herabzusetzen. Die Cluniazenser, genau wie die Mauriner dem Benediktinerorden zugehörig, gerieten im Lauf des 11. Jahrhunderts aufgrund ihrer Vorliebe für äußerlichen Prunk in Verruf. Seine Macht und seinen Ruhm hat auch in der Musikgeschichte seine Spuren hinterlassen. Der Saint-Martial-Corpus der Handschriften mit aquitanischer Polyphonie und auch der Codex calixtinus sind in dem Einflußbereich der cluniazensischen Liturgiereform entstanden. 1098, zwei Jahre nach dem Konzil von Tours, gründete Robert de Molesme das erste Zisterzienserkloster in Cîteaux, dessen Programm die "Rückkehr" zu der in der Benediktinerregel geforderten Demut, Gehorsam und Armut war. Es ist zu einfach, jede liturgische Mehrstimmigkeit mit den Cluniazensern zu identifizieren, denn allein die Architektur der Zisterzienserklöster beweist durch ihre raffinierte Akustik, welch einen wichtigen Platz das klingende Gotteslob im monastischen Leben einnahm. Doch führte die anticluniazensische Haltung im 12. Jahrhundert zu einem Verbot der Mehrstimmigkeit, woraus allerdings auch geschlossen werden könnte, daß es bis dahin auch im Zisterzienserorden Mehrstimmigkeit gegeben hat. Die strenge Reform von Bernard de Clairvaux, die zu zahlreichen Korrekturen und Revisionen der Gesänge gemäß der besten Theoretiker – allen voran natürlich Guido d’Arezzo – führte, folgte einem Gregorianischen Purismus, der an der Realität verzweifeln mußte. Der Traktat des Zisterziensers Petrus dictus palma ociosa belegt für das 14. Jahrhundert eine kunstvolle Praxis mehrstimmiger Improvisation.

Alle diese Puzzlestücke, die Huglo zusammengetragen hat, ergeben ein sehr schillerndes Bild.

Der Kern der Legende von Hildoard ist ebenfalls ein Konflikt durch eine von dem Abt Odon aus Cluny eingeleitete Umgestaltung der Liturgie von St.-Maur-des-Fossés. Aus ihr geht hervor, daß etwa vier cantores oder succentores ein Organum singen – und zwar über das letzte Responsorium der dritten Nokturn. Unter ihnen befindet sich ein Vorsänger, der sich mit seinen Fähigkeiten einer älteren liturgischen Tradition verschrieben hat und die Wahl des letzten Responsoriums nicht hinnehmen kann, weil jener Odon es "hinzuerfunden" habe. Hinzu kommt ein Gespenst des Heiligen Babolenus, der vierhundert Jahre zuvor, als er noch von Fleisch und Blut war, dieses Kloster gegründet hat, und durch seine Erscheinung wird die Episode in einer ihm zugeeigneten Miracula-Sammlung niedergeschrieben. Das ist immerhin ein Zeichen, daß in dem Fall, wo ein Abt der Komposition verdächtigt wird, ein Abt, und sei es ein anderer als Odon, nicht ausreicht für eine Zurechtweisung. Es muß ein Geist bemüht werden und zwar der Geist, um den es ging in dem Gottesdienst und der zugleich der erste Abt von Saint Maur gewesen ist, der die Abtei im 7. Jahrhundert gegründet hatte.

Der Vorwurf des Hinzuerfundenen gibt darüber zu denken, was Komposition in einem Gottesdienst und was überhaupt Musik als religiöse Praxis sein könnte.

Amnon Shiloah, der über islamische und jüdische Musik im östlichen und südlichen Mittelmeerraum forscht, hat ein paar allgemeine Thesen über die Bedeutung und die Überlieferung von religiöser Musik aufgestellt:

  1. Die Tatsache, daß die Musik in der Überlieferung nicht schriftlich fixiert wird, wirkt sich auf alle Kategorien aus, die durch die Notwendigkeit bedingt sind, daß Tradition praktisch und mündlich weitergegeben werden muß. Ein wichtiger Aspekt mündlicher Überlieferung ist, was Blacking in seinem Buch How musical is man als kreatives Hören bezeichnet hat: In Gemeinschaftsformen, wo Musik nicht niedergeschrieben wird, ist geschultes und genaues Hören insofern wichtig, als davon die Fortdauer einer musikalischen Tradition wesentlich abhängt. Man kann zur Bestätigung dieser These das arabische Konzept von Sama‘ heranziehen. Dieser Begriff bedeutet Hören oder Hörer und wird ausschließlich in einem religiösen Kontext gebraucht und meint Musik in Andacht.
  2. Ein weiteres Merkmal ist der allgemeine Glaube an die Magie der Worte, verbunden mit einer Vorliebe für Poesie und folglich auch für Vokalmusik und für Feinheiten der Aussprache und Intonation. Tatsächlich sind Sprache und Melodie in allen musikalischen Kategorien eng verbunden, vermischt oder ergänzen einander auf vielfache Weise. Sprache und Melodie nähern sich am meisten, wenn die modulierende Stimme gleichermaßen Bote von Wort und Musik ist. Ein Hauptbezug von sakraler wie von säkularer Musik ist die Ausdrucksfähigkeit der menschlichen Stimme als Zeichen für Leben, als Reflexion der Seele und als kommunizierendes Medium. Daher befähigt eine reiche Palette an Klangfarben die Stimme eines Musikers, verschiedene Gefühle und Bedeutungen eines Textes auszudrücken, ob er melodisch gesungen oder rezitiert wird.
  3. Musizieren ist in seinem Wesen individuell und beruht auf der Fertigkeit einzelner Künstler im Bereich der Kunstmusik, oder natürlich begabter Kantoren oder Dichtersänger, die den Großteil aller Aktivitäten im Bereich religiöser und dörflicher Musik gestalten. Daher die besondere Bedeutung individueller Musiker, indem sie Charakter und Dimension allen Musizierens bestimmen.
  4. Dagegen ist die Haltung gegenüber Musik immer doppeldeutig, so wie sie sich in einer Reihe widersprechender Gefühle und Konzepte ausdrückt: Vorliebe / Mißtrauen, göttlich / teuflisch, erhebend / zerstörend, erlaubt / verboten. Dies bildet den Hintergrund eines radikalen Widerstands gegenüber Musik und den heftigen Angriffen, die die strengsten Theologen und Rechtsgelehrten gegen sie führen.
In einem Diagramm dargestellt ergeben diese Thesen folgendes Bild:

In dem Diagramm gibt es zwei Andachten durch zwei Kantoren, die beide als Bote von Wort und Musik auftreten. Die Verbindung zwischen ihnen ist das Band der Tradition, den zweiten Kantor könnte man sich als Schüler des ersten vorstellen. Beide Andachten treten aus der Tradition als einmalige Ereignisse hervor und diese Einmaligkeit hat zwei Seiten. Die eine ist die Persönlichkeit des Kantors und seine Hingabe, durch die seine eigenen Fähigkeiten zu einer Schaltstelle in der Überlieferung werden. Die andere ist die Verschleierung dieser Individualität durch seine Funktion als Bote. Die Rezeption und ihre doppeldeutige Haltung ergibt sich aus der Beantwortung der Frage: Bote von wem? Das geschlossene System ist hier immerhin weitläufig genug, daß eine ganze Religion darin Platz hat. Es gehört entweder zur Tradition und erfüllt damit seine Funktion als religiöse Andacht oder es gehört nicht zur Tradition und ist gefährlich, da der Kantor Medium eines bösen Geistes wurde. Es war schwarze Magie.

Im Zentrum der Legende aus Saint Maur steht die Intrige Hildoards, die darin besteht, den Abt Odon als Autor für Hinzuerfundenes zu denunzieren. Für die Musik der Nokturn kommt wohl nur ein göttlicher Autor als Autor in Frage.

Die Tradition des Gregorianischen Chorals, zu der auch Saint Maur gehört, ist keine wirkliche Tradition, sie ist vielmehr die Redaktion liturgischer Traditionen, die sich durch eine Legende legitimiert. Auch der Papst Gregor ist eher Medium als Autor, denn alle bildhaften Darstellungen dieser Urheberlegende setzen Gregor eine Taube, als Verkörperung des Heiligen Geistes, auf die Schulter, die Gregor alles eingibt. Wie sonst sollte ein einzelner Mensch eine Tradition erfinden, dessen Repertoire aus so vielen Traditionen zusammengesetzt ist?

München, Staatsbibliothek, clm 17403

Im Falle der Nokturn anläßlich der translatio hebt die Überlieferung der Musik, die Teil der liturgischen Handlung ist, den individuellen Anteil der dichtenden, komponierenden und singenden Kantoren auf. Auch wenn er für die Lebendigkeit einer Tradition entscheidend ist, so erscheint das Hinzuerfundene – sowohl als Komponiertes wie als Erdichtetes – als unduldbar. Das ist die gemeinsame Sprache, durch die Hildoard seine Intrige einfädelt.

Die Autorschaft oder „Autorität“ einer Überlieferung hat einen mystisch-philosophischen Hintergrund, der zum Wesen des Sakralen in der liturgischen Musik gehört. "Wesen" (essentia) war im lateinischen Mittelalter untrennbar mit der neuplatonischen Philosophie und ihrer mystischen Ausrichtung verbunden und bedeutete einfach, daß das Wesen Teil der göttlichen Schöpfung war. Sie im Detail zu erläutern, würde in diesem Zusammenhang zu weit führen. Aber sie ist für das Verständnis künstlerischen Schaffens, sei es Dichtung oder Musik, nicht ganz unwichtig.  Augustinus, der Hauptvertreter des christlichen Neuplatonismus vergleicht die Schöpfung mit einem Buch, dessen Autor der Schöpfer ist und dessen fiktive Figuren die Angehörigen seiner Gemeinde sind. Die künstlerische Schöpfung eines Kantors erfährt ihre sakrale Bedeutung durch die neuplatonische Idee der Schöpfung, die den Kantor zum Boten Gottes werden läßt. Was er singt und übermittelt, hat Wesen, solange die Überlieferung von der Gemeinde als intakt – „unberührt“ – angesehen wird. Das ist auch die Frage, nach der Verkettung der Boten, durch die die Botschaft zur Gemeinde kommt, und nach dem liturgischen Rahmen, in dem die Botschaft „inszeniert“ wird. Wer spricht durch wen zu Gott und wie und durch wen spricht Gott zu seiner Gemeinde?

Die Nokturnen gehören zu den ausgedehntesten Gottesdiensten überhaupt. Sie finden nachts statt und sind zumeist nicht öffentlich. Die Dramaturgie der Liturgie – z.B. der Petrusnokturnen – ist dreiteilig, der Antiphonarteil erzählt zwei Wunderepisoden aus dem Leben des Apostels, eine ist himmlisch (die Heilung des Lahmen in der ersten Nokturn), die andere höllisch (Petrus‘ Verzweiflung im Kerker und seine wundersame Befreiung durch einen Engel Gottes) und entspricht der Dramaturgie der Gedächtniskunst. Als Brücke dient der Responsorialteil, der die Verbindung zwischen Himmel und Erde – Petrus hat den Schlüssel für das Himmelsreich – bildet. Die Lesungen dagegen widmen sich dem Petrusbrief und machen den Lektor zum Boten von Wort und Musik, durch den Petrus zu der Gemeinde spricht, die den Gottesdienst hält. Petrus wiederum ist Schüler des Messias, wie Gregor die Einflüsterung des Heiligen Geistes weitergibt. Alle sind Figuren, denen ein Autor das Wort im Mund führt.

Der Vorsänger Hildoard behauptet nun, nicht der Heilige Babolenus spreche durch den Gesang zu der Gemeinde, sondern der Abt Odon habe die Worte oder die Musik durch Hinzuerfundenes korrumpiert. In der Legende bleibt dieser Vorwurf auf das letzte Responsorium bezogen, aber es wird nicht klar, ob er sich auf das Responsorium überhaupt oder auf seine besondere Aufführungspraxis (cum organo) bezieht. Hinter allem scheint die Konkurrenz zweier Kantorentraditionen durch – die von Cluny (Girardus) und die von Saint Maur. Die Liturgie wird zu der Zeit, wohl nach Odon bereits von ersterer bestimmt zu sein. Der Vorwurf wog offenbar schwer genug, daß eine nachträgliche Sanktionierung des Hinzuerfundenen durch Babolenus – in Form einer niedergeschriebenen Legende – notwendig war. Sie ist ein theologischer Akt, könnte in ähnlicher Form auch ein Sanktionierunsversuch Hildoards gewesen sein, wenn er behauptet hätte, der Heilige Babolenus sei ihm mit der Botschaft erschienen, er hätte als Werkzeug Gottes gehandelt. Was übersetzt hieße: Gott legt seinen Figuren schöne Gedichte in den Mund, weswegen er dann eine weitere Figur in Empörung geraten läßt, wodurch erstere ihrer legitimen Autorschaft beraubt werden, indem Hildoard die illegitime Hildoards benennt. Historiker haben über diese Dinge meist nur die offizielle Version, die eben die legitimiert, die an der Macht waren.
 

Organa in der Tradition von Saint Maur des Fossés

Ebenso bleibt offen, was nun unter cum organo zu verstehen sei. Denkbar wäre ein Tropus oder Prosellus (horizontale Erweiterung durch Text und vielleicht auch Musik), ein Neuma (horizontale Erweiterung durch Musik) oder ein Organum (vertikale Erweiterung durch Musik, also punctum contra punctum wie alle aus dem 11. Jahrhundert überlieferten Organa). Huglo fand zu Letzterem einiges in vier Handschriften aus Saint Maur.

Der früheste Hinweis auf Mehrstimmigkeit in Saint Maur stammt aus der Mitte des 11. Jahrhunderts. Es ist ein Epitaph auf einen Kantor, Guido Oacrius, der die Kunst beherrsche, im Sinne der pythagoräischen Proportionen zu organisieren:

"Kantor bist Du und Leser und Schreiber ebenso wie Notator...
Daher meine ich, daß Du, ein Musiker von uns, mit der Gabe des Pythagoras
die Organa zu singen verstehst."
«CANTOR es et LECTOR, SCRIPTOR simul atque NOTATOR [...]
Ut reor ingenio polleres pythagoreo [...]
Tu nostri modulos musicus organicos.»
Der Hinweis auf Pythagoras‘ Proportionenlehre in einem Zug mit dem auf die Fähigkeit, Organa zu singen, deutet auf einen engen Zusammenhang zwischen Musica und Organumtheorie hin. Die Musiktheorie, die durch Boethius begründete Disziplin Musica, beruht im wesentlichen auf der Proportionenlehre des Pythagoras. Aus ihr heraus werden die Regeln gebildet, ein Organum zu improvisieren. Außerdem wird diese Kunst mit Guidos Fertigkeiten in der Schriftlichkeit (lector, scriptor, notator) in Verbindung gebracht, die er als Kantor gehabt haben soll. Guido bekommt alle Attribute, mit denen sein berühmter Namensvetter aus Arezzo auf den ersten Seiten seiner in den 20er Jahren verfaßten Schrift Micrologus stilisiert wird: In der einen Hand die Feder, um die Neumen zu schreiben, und in der anderen das Monochord, durch das die Solmisation der drei Hexachorde ebenso wie die Zusammenklänge eines Organums gemäß der pythagoräischen Proportionenlehre kontrolliert werden.

Guido Oacrius war demnach ein moderner Kantor nach Guido von Arezzo und dessen umwälzender Theorie und er wirkte an der Pariser Abtei Saint Maur des Fossés, wohl nach Girardus, der mit Odon gekommen war. Einen ähnlichen Nachruf gibt es für Sigon, einem Kantor an der Kathedrale von Chartres, aus der Organa durch handschriftliche Einträge gegen Ende des 11. Jahrhunderts überliefert sind.

Solche Einträge fand Huglo auch für Saint Maur: in einem Graduale-Antiphonar auf einem nachträglich eingenähten Folio. Es wurde ursprünglich eingenäht, um eine Prozession vor der Messe am 29. Juni (In natale s. petri) einzufügen. Eine dritte Hand hat auf diesem Folio noch ein paar Organa eingetragen. Auf fol. 306 beginnt diese Eintragung mit einer einstimmigen Antiphona processionalis «Sancte petre apostolorum», danach folgt das Responsorium «Petre amas me», über das zwei Neumenreihen notiert sind. Eine zusätzliche Erweiterung sind zwei Neumafassungen auf der zweiten Silbe des Verses «Symon iohannis». Danach folgen drei «Benedicamus domino»-Melodien, von denen die ersten beiden Organa sind, die dritte ist einstimmig. Auf der Versoseite gibt es zwei Responsoria «Quodcumque ligaveris» und «Cornelius centurio».

Mit diesem Repertoire erweist sich Saint Maur als wichtiges Bindelied zwischen Cluny und dem späteren Pariser Repertoire des Magnus liber organi. In der Notre-Dame-Handschrift F finden sich beide Responsoria und alle vier «Benedicamus domino»-Tropen. Es gibt in F zwei ganze Faszikel, die eine Aneinanderreihung von Organa über diese Tropen sind – auch mehrerer Organa zu einem Tropus. Außerdem finden sich in dem Antiphonar des Magnus liber organi die beiden Responsoria zu den Petrusnokturnen: «Cornelius centurio» und «Petre amas me» (F, fol.73’ff). Letzteres ist auch das dritte Beispiel im Anhang des Vatikanischen Organumtraktats.

Der vierte «Benedicamus domino»-Tropus im Graduale-Antiphonar von Saint Maur ist von der zweiten Schreibhand, die die Prozession eingefügt hat und steht am Ende vor der Antiphona processionalis der dritten Hand. Er dürfte zur Zeit seiner Niederschrift nicht sehr alt gewesen sein, da es sich hierbei um die Textierung eines Melodieabschnitts handelt, der dem Responsorium über «Styrps iesse» entnommen ist – und zwar über den Silben «flos filius eius» aus dem Vers «Virgo». Es handelt sich bei diesem Responsorium um eine Komposition, die Fulbert de Chartres (U 1028) zugeschrieben wird. Bei der letzten Silbe wurde die Komposition durch ein Neuma erweitert.

Die «Benedicamus domino»-Tropen sind eine Gattung, die eng mit zeitgenössischen Neuerungen in der cluniazensischen Liturgie verbunden ist. In der Liturgie ist sie sehr häufig zu hören: in der Messe, aber auch an in fast jedem Officium. Gegenüber den sehr schlichten Melodien der älteren Überlieferung sind gerade die jüngeren Tropen, die den Gottesdienst prächtiger und abwechslungsreicher gestalten sollten, der Ort für kompositorische Experimente geworden. Die mehrstimmigen Stücke in den Saint-Martial-Handschriften, die ab dem späten 11. Jahrhundert entstanden, beruhen fast ausschließlich auf ihnen, während die Zisterzienser fast nur eine ältere Melodie benutzten.

Auch die Responsorien schienen eine für neuere Kompositionen bevorzugte Gattung zu sein, und sei es auch nur als Neuma oder Prosula. Welches der genaue liturgische Platz dieser neuen Responsoria war und inwieweit sie mit der Liturgie von Cluny übereinstimmen, zeige ich anhand der Rekonstruktion der Nokturnen für das Petrusfest  im vierten Kapitel.

Aus diesem Befund und aus der Legende von Hildoard erklärt sich der Ort, in der Hinzuerfundenes und die neue Praxis des Organums erst möglich war: Die Responsorien wie die neuen Tropen über Benedicamus domino gehörten einer jüngeren und von Cluny beeinflußten Überlieferung an und über sie wurde bevorzugt cum organo gesungen, deshalb intonierte Hildoard ein Responsorium, das als commune confessorum einer älteren Überlieferung angehörte.

Dabei war Hildoards Gegenposition weniger theologisch fundiert, wie später die Gründung der anticluniazensischen Zisterzienserbewegung. Hildoard gehörte offenbar einer konkurrierenden Sängerschule an, die vor Odons Berufung in Saint Maur existierte oder die im Schwesterkloster St. Maur-de-Glanfeuil auch weiterhin eine eigene von Cluny unabhängige Tradition pflegte, oder es gab ganz einfach unter den Sängern unterschiedliche Parteien, die unterschiedliche Ideen darüber hatten, wie sehr die Liturgie von Saint Maur bereits "clunisiert" war. Wahrscheinlich ist es zu einfach, den Unterschied daran festzumachen, ob mit oder ohne Organum gesungen wurde. Es ist vielmehr so, daß die Praxis des Organums sowohl als besondere Form der Meditation wie auch als extrovertierte Kunstform betrachtet wurde. Die zweite Position, die den Kantor verteufelt, entspricht der politischen Haltung der Zisterzienser gegenüber der "Pomphaftigkeit" der Cluniazenser, ihrer Lebensform, ihrer Liturgie mit ihren Gesängen und der Architektur, die diese Gesänge verkörperte. Zugleich verdanken wir diesem Hang zur Äußerlichkeit und Öffentlichkeit bedeutende Denkmäler der französischen Romanik. Von diesen Denkmälern her betrachtet - in der Musik wie in der Architektur, erweisen sich die Zisterzienser eher als Konkurrenten denn als Asketen gegenüber Cluny.


Zum zweiten Teil des Kapitels: DIE LITURGISCHEN HANDSCHRIFTEN UND DIE ORGANUMTRAKTATE