Die liturgischen Handschriften und die Organumtraktate

Außer den Organa, die sich in den liturgischen Handschriften finden lassen, sind auch einige Traktate aus dem 11. und 12. Jahrhundert überliefert, die ganz allgemeine Regeln darüber aufstellen, wie zu einem cantus ein organum gebildet wird. Die Regeln der Organumtraktate liefern eine wichtige Grundlage für die Rekonstruktion der in Neumen notierten Organa in den praktischen Handschriften. Doch reichen sie nicht an die Subtilität der Organa, die die Kantoren von Saint Maur und Chartres in liturgische, hagiographische uns patristische Handschriften eingefügt haben.

Dieser Quellenbefund liefert die Grundlagen einer historischen Rekonstruktion der Pariser Organumpraxis aus dem 11. und 12. Jahrhundert. Sie ist begleitet von folgenden Fragen:

Guidos Micrologus und die Organa von Saint Maur

Bereits der Epitaph auf Guido Oacrius verwandte so viele Attribute, die sonst Guido von Arezzo zugeschrieben werden, daß eine Verwechslung des Kantors von Saint Maur mit seinem berühmten Namensvetter nahelag. Von daher liegt auch die Frage nahe, wie sich die Organa aus Saint Maur, die nach der Zeit des Kantors Guido Oacrius entstanden sein müssen, zu den Regeln der diaphonia mollis des Micrologus-Traktats verhalten.

Tatsächlich ist in der aktuellen Forschung die Organumlehre des Micrologus von Guido d’Arezzo zur wichtigsten theoretischen Quelle geworden, um die in Neumen notierten Organa in den praktischen Quellen zu entschlüsseln. Sie dienen den transkribierenden Musikwissenschaftlern als Rahmen, in dem sie produktiv werden können. Bei den Transkriptionen, die Wulf Arlt bei den Stücken probiert, die Huglo als "Frühgeschichte" der Pariser Tradition zusammengetragen hat, gilt – in Anlehnung an Susan Rankin – Guidos Regel für die diaphonia mollis, daß beide Stimmen nicht weiter als eine Quarte auseinandertreten dürfen:

Diese guidonischen Übertragungen stellen die Gegenbewegung zwischen zwei Zielintervalle: occursus geht von der Quarte in den Einklang, discursus vom Einklang in die Quarte. Parallelbewegung verläuft normalerweise auf der Unterquarte, sonst – besonders am Anfang und am Ende – singen beide Stimmen den Choral zusammen. Die Intervalle zwischen Einklang und Quarte erscheinen hauptsächlich bei der Haltetontechnik, wenn in der Organalstimme mehrere puncta oder virgae aufeinanderfolgen.

Aus ihr ergeben sich drei Satztechniken: Haltetonsatz, Parallelbewegung, öffnende und schließende Gegenbewegung. Die ersten beiden stehen in der Mitte einer Phrase, letztere an der Grenze.

Im Regelwerk der beiden Diaphoniekapitel in Micrologus wird der Wechsel zwischen Quart- und Haltetonorganum durch die Grenztöne gesteuert. In Guidos System bilden die Grenztöne die Sockel der drei Hexachorde – nämlich: c, f und g. Ein Quartorganum wird in der organalen Unterstimme nur bis zum nächsten Grenzton geführt, fällt der cantus weiter bis zum Grenzton, entsteht ein Halteton zur Melodie des cantus.

Gleich im ersten Beispiel des neunzehnten Kapitels, in dem die Regeln durch Beispiele veranschaulicht werden, gibt es einen verhinderten occursus in f-plagal:

"Wie gesagt, sei es, daß es in diesem, sei es, daß es in den <ihm oberhalb> folgenden Tönen schließt, auf folgende Weise:
Dies ist der Schluß eines Abschnittes im dritten <Tropus> C, von dem wir das organum nicht tiefer hinabsteigen lassen, weil er unter sich weder eine große Sekunde, noch eine große Terz hat, mittels derer der occursus geschieht, sondern eine kleine Terz, mit deren Hilfe der occursus nicht geschieht."

«Igitur a trito non deponimus organum, sive in eo, sive in sequentibus finiatur, hoc modo:
exemplum
Ecce finis distinctionis in trito C. a quo non deponimus organum, quia non habet sub se tonum vel ditonum, quibus fit occursus, sed habet semiditonum, per quem non fit occursus.»

Der Begriff tritus bezieht sich auf die vier tropi: protus (A-D), deuterus (H-E), tritus (C-F), tetrardus (D-G). Diese Terminologie ist noch näher an der griechischen Theorie der Tropen, die mit der der Kirchentonarten nicht identisch ist, sondern die Intervallverhältnisse einer Skala meint. Aber sie werden den acht Kirchentönen zugeordnet. Den plagalen Tonarten entsprechen die Unterquarten zu den finales D, E, F und G. Zu den Intervallen ditonus und tonus schreibt Guido:
"Dieser occursus <das Entgegenschreiten> erfolgt zweckmäßiger mit Hilfe einer großen Sekunde, nicht so sehr <zweckmäßig> mit Hilfe einer großen Terz, niemals durch eine kleine Terz."

«qui occursus tono melius fit, ditono non adeo, semiditonoque numquam.»

Dadurch, daß genau diese Intervalle über den untersten Ton eines Hexachords liegen, kommen die korrekten Intervalle schon dann, wenn kein wirkliches Entgegenschreiten der Stimmen geschieht, sondern die untere Organumstimme einfach auf dem Grenzton liegenbleibt. Aus diesen Eigenschaften heraus bestimmt Guido, welche Tonarten sich zur Diaphonie am meisten eignen:
"Geeignet sind, die allein vermittelst der Quarte mit Hilfe von um vier Stufen voneinander <entfernten> Tönen das organum ergeben, wie der zweite <tropus> in H und E. Geeigneter sind, die nicht allein durch die vierten <Stufen>, sondern auch durch die dritten und zweiten mit Hilfe der großen Sekunde und, wenn auch selten, der kleinen Terz antworten, wie der erste <tropus> in A und D. Am geeignetsten aber, die dies sehr oft und wohlklingend tun, wie der vierte und der dritte <tropus> in C und F und G. Diese nämlich begünstigen die große Sekunde, die große Terz und die Quarte."

«Apti sunt, qui per solam diatessaron quartis a se vocibus organum reddunt, ut deuterus in B. et E: aptiores sunt, qui non solum quartis, sed tertiis et secundis per tonum et semiditonum, licet raro, respondent, ut protus in A. et D. Aptissimi vero, qui saepissime suaviusque id faciunt, ut tetrardus et tritus in C. F. G. Hae enim tono et ditono et diatessaron obsequuntur».

Diese Regeln haben sich in der Praxis der Kantoren von Winchester, Chartres, Tours und Saint Maur offensichtlich als zu starr erwiesen. Neben C, F und G sind vor allem D, aber auch a bevorzugte Grenztöne, wodurch die kleine Terz genauso häufig erscheint wie die große. Diese Wahl scheint mit der Klanglichkeit der Tonart des cantus zusammenzuhängen.

Die Anpassung an die Tonart des cantus läßt sich auch bei anderen Satztechniken beobachten, die in den Mittelteilen des Organums aus Saint Maur zu finden sind. In der Rekonstruktion des Organumfragmentes über das Responsorium Martir clemens ist Wulf Arlt an einer Stelle von der Grundregel: entweder Gegenbewegung – der Weg in oder aus dem Einklang – oder Quartorganum, abgewichen: beim Melisma über Impetra, und zwar bei beiden cantus-Versionen.

Beide Abweichungen sind – genau wie die anderen Haltetöne außer C, F und G – durch die Tonart motiviert. Je nach Entscheidung, in welche Tonart der cantus übertragen wird, liegen die Haltetöne in d-plagal auf D und C, in g-plagal auf a und G.

Solche Entscheidungen bei der Transkription lassen sich nicht mit den strengen Regeln Guidos vereinbaren. Sie rekonstruieren vielmehr eine Organumpraxis, die solche Regeln der Struktur der Tonarten anpaßt. In Guidos Organumtheorie verhält es sich dagegen genau anders: Er beurteilt anhand seiner Organumregeln, inwieweit die einzelnen Tonarten für diese Praxis geeignet sind.

Die Gegenbewegung bei Guido scheint gegenüber den Techniken der "Mitte", dem Parallel- und Haltetonsatz, eine grammatische Funktion zu haben, die den Text und seine Verständlichkeit miteinbezieht. Seine Abschnitte (distinctiones) folgen in fast allen Beispielen syntaktisch-semantischen Einheiten des Textes. Wörter mit größeren Melismen können durch den Wechsel von Halteton- und Quartorganum offen gehalten werden, bis ein occursus die Phrase (distinctio) schließt.

"Dies ist ein Abschnitt im ersten <tropus> A. In diesem Abschnitt sind tiefere Töne als der dritte <Ton> C zugelassen, der als nächster unterhalb dem Schluß D liegt. Nachdem die tiefe Lage <über dem Grenzton G > beendet wurde, wird die frühere Lage <über dem Grenzton C> wiederholt, wo wir vom Pfad der Klugheit [viam prudentiae] sprechen."

«Distinctio in proto A. In hac distinctione in inferiore trito C, qui fini proxime subest D, voces admissae sunt, et locus prior finita gravitate repetitus est, ubi diximus viam prudentiae.»

Die organa, die seit dem Winchester Tropar überliefert sind, haben diese Möglichkeit nicht mehr. Ihre stärkere Einbeziehung der Gegenbewegung führt meist nach vier bis sechs Tönen wieder in den Einklang. Dagegen gewinnen die Stimmen durch Stimmkreuzungen an Bewegungsfreiheit. Wer ein organum nach Guidos Regeln singt, hat zwar gegenüber den Regeln der Musica enchiriadis einige Wahlmöglichkeiten (z.B. organum suspensum), aber es bleibt immer erkennbar ein Guidonisches Organum. Die organa in den praktischen Quellen dagegen sind, auch wenn sie guidonisch übertragen werden, in ihrem Stil vielfältig genug, daß die Individualstile einzelner Kantoren schon zwischen diesen einseitig interpretierten Quellen hervorscheinen – und das alleine aus der Notation, ohne daß wir eine Vorstellung von der Klangfarbe und den Ornamenten einzelner Sänger haben.

Was bedeutet das für die Textgestaltung? Wurde sie der Bewegungsfreiheit der Organalstimme geopfert?

Rankins Analysen des Winchester Tropars, der frühesten praktischen Organumquelle, bestätigen dies nicht. In der Organasammlung des Tropars finden sich vielmehr Abstufungen in den Schlußbildungen der occursus, durch die die verlorengegangene Funktion einer respiratio (Atempause nach einer semantisch-syntaktischen Texteinheit) wiederhergestellt wird.

Eine Möglichkeit der Abstufung ergibt sich schon bei einer emphatischen Schlußbildung im occursus, den Guido im Micrologus sowohl theoretisch wie in Beispielen behandelt:

"wenn der occursus durch die große Sekunde erfolgt, geschieht ein lange dauerndes Aushalten des Schlusses <des Schlußtons im cantus>, damit es <das organum> sowohl zum Teil unterhalb begleite <im Intervall der großen Sekunde>, als auch zum Teil <mit dem cantus> zusammenstimme."

«Item cum occursus fit tono, diutinus fit tenor finis, ut ei partim subsequatur, et partim concinatur.»

Susan Rankin bemerkte, daß Guido diesem – verlängerten – occursus keine besondere Funktion zuweist. Er brauchte sie nicht. Dagegen weist bereits die Gestalt der Neumen aus Winchester darauf, daß diese Schlußbildung durch ein Ornament auf dem tonus der paenultima hervorgehoben wird:

Die besondere Form des tonus unter dem cantus ist mir zwar in ihrer genauen aufführungspraktischen Bedeutung nicht bekannt, rekonstruierbar aber scheint zu sein, daß die emphatische Wirkung dieser Schlußdissonanz durch ein Ornament verstärkt wird, das die Schwebung dieses Intervalls verstärkt. Susan Rankin nennt solche Schlüsse auf englisch: "prolongation". Ich möchte mit diesem Begriff – prolongatio – die lateinische Terminologie erweitern, die auf der Grundlage von Guidos Traktat aus Begriffen wie occursus, distinctio, vis organi (Grenzton) und tropus (Kombination aus finalis und plagaler Unterquarte) bestand. In Guidos Traktat kommt er freilich nicht vor.

Rankin findet durch ihre strukturellen Analysen einzelner Organa bestätigt, daß diese stärkeren occursus – prolongationes – zumeist an Stellen innerhalb des cantus vorkommen, wo der Text eine respiratio erfordert oder wo ein längeres Melisma in Abschnitte untergliedert wird. Diese Abschnitte zwischen den respirationes stimmen mit der Gliederung des Textes durch den einstimmigen cantus überein, die Abschnitte der Melismen sind Strukturen außerhalb der Form des Textes – Abschweifungen im weitesten Sinne.

Das Beispiel Martir clemens nutzt genau wie die früheren Organa aus Winchester die ganz simple Abstufung der occursus, die sich aus der Tonart des cantus ergibt: ein occursus zur finalis wirkt stärker als einer zu einem Rezitationston oder gar zum Gegenklang. Der Vergleich beider Übertragungen zeigt allerdings, daß dies eben eine Frage des tonalen Kontextes ist, der wiederum durch die Transkription des cantus gegeben ist. Aus den Neumen lassen sich direkt keine Abstufungen ablesen, denn es gibt an keiner Schlußstelle eine überzählige Note. Die prolongatio scheint in der Tradition von Saint Maur kein so gebräuchliches Mittel wie in Winchester gewesen zu sein, soweit dieses Fragment überhaupt Aufschlüsse zu einer solchen Tradition zuläßt.

Übrigens halte ich die Version von Huglo für überzeugender. Anders als die Organa von Winchester, die die Choräle vollständig zur Mehrstimmigkeit erweitern, beschränken sich die Organa in den französischen Quellen am Anfang auf die intonatio. Das Folio 166bis der Handschrift Paris, BN, fonds lat., ms. 12596 läßt noch die nächste Silbe ve... erkennen, über die nur im cantus Neumen notiert sind.

Daher werden die Worte Martir clemens mit aller Wahrscheinlichkeit auf der finalis enden, um die Tonart zu exponieren. Auch läßt diese Version eine einheitliche Übertragung der Kombination Doppelvirga über Pes zu, die innerhalb des Responsoriums eine Anfangsfloskel zu sein scheint, die die auf C einsetzende Melodie sofort nach D zentriert. Der Vers Impetra gaudia würde demzufolge mit einer zweifach wiederholten Intonationsformel über Impetra einsetzen.

Das Problem der Übertragung stellt sich tatsächlich nur bei den praktischen Quellen, da sie in Neumen notiert sind. Die Beispiele der theoretischen Traktate dagegen sind so notiert, daß keine Details oder Ornamente überliefert werden, aber die Töne werden genau als Tonbuchstabe über und unter die Silben geschrieben. Dabei überliefern die zahlreichen Micrologus-Handschriften voneinander abweichende Musikbeispiele. Bei der Rekonstruktion der praktischen Quellen ergänzt Guidos Micrologus das fehlende Wissen. Zu viele Regeln sind den Forschern lieber als zuwenig, denn sie nehmen ihnen Entscheidungen ab.

Dabei unterscheiden sich die französischen Quellen aus Chartres, Tours und Saint Maur darin vom Winchester Tropar, daß sie keine systematische Sammlung von Organa darstellen, zu denen einzelne Varianten für einige Stellen notiert sind. Sie sind vereinzelt, von verschiedenen Schreibern oder Kantoren – und möglicherweise zur Anschauung dessen niedergeschrieben worden, was sie einzelnen Sängern aus der Schola vermittelt haben. Ihnen war die Kunst des Organums vertraut. Die Kantoren dachten nicht daran, Uneingeweihten zu dokumentieren, wie Organa zu Gottesdiensten in Saint Maur-des-Fossés oder Saint Maur-de-Glanfeuil gesungen wurden, sondern sie wollten veranschaulichen, wie die Regeln praktisch umgesetzt werden.

Ersetzen wir dieses fehlende Wissen durch einige Regeln aus Guidos Micrologus, können wir anhand der Melodie des cantus unterscheiden, welche von seinen Regeln Ende des 11. Jahrhunderts – siebzig Jahre später – noch wichtig gewesen sein könnten. Daß Guido Oacrius, der wohl vierzig Jahre vor diesen Aufzeichnungen Kantor an Saint Maur gewesen ist, in einem Nachruf wie Guido von Arezzo stilisiert wird, wird viele in ihrer Rekonstruktionsarbeit ermutigt haben.

In den Nachträgen der Quellen um Saint Maur ist aber das Organum nur eine Form neben anderen, einen überlieferten Choral für einen besonderen Gottesdienst zu schmücken. In dem Graduale-Antiphonar ist nicht nur das Responsorium Petre amas me ein Beispiel für die Kombination aus Organum und Neuma, von dem nur die Aliud-Fassung über eine Handschrift aus Beauvais rekonstruiert wurde (Transkription im dritten Teil dieses Kapitels). Auch das darunter notierte Benedicamus domino hat ein Neuma auf der ersten Silbe von domino:

Die hier rekonstruierte Fassung beruht abgesehen vom Neuma über do auf einer Konkordanz, die Huglo aufgrund einer Sammlung ihrer Melodien vorgeschlagen hat. Entgegen der Melodien, die völlig neu sind wie z.B. das Benedicamus über Petre, das auch in den Notre-Dame-Handschriften ausgiebig gebraucht wird, handelt es sich hier um eine alte Melodie, die erweitert wurde. Das Neuma und das Organum wurde von mir übertragen, nicht um eine verbindliche Fassung zu schaffen, sondern um die Entscheidungen sichtbar zu machen, die nicht willkürlich oder wahlweise, sondern im Rahmen der erläuterten Regeln getroffen wurden, die ich der Übertragung zugrundegelegt habe. Lasse ich mich – entsprechend Wulf Arlts Übertragung von Petre – auf die Regel ein, daß das organum für gewöhnlich unter dem cantus liegt, komme ich zu dem etwas ungewöhnlichen Anfang, der von der Quarte aus für die zwei nächsten Töne in den Einklang mit dem cantus springt. Der nächste Einklang ist am Ende des ersten Wortes zu erwarten. Ich hätte ihn wohl auf d gelegt, würde Huglos Fassung hier nicht den Gegenklang vorsehen, wie es in vielen Fassungen üblich ist. Das Neuma lasse ich dann auf dem Rezitationston a einsetzen, wie es die Tonart nahelegt – an der einzigen Stelle, wo vier Noten im organum über drei im cantus stehen. Obwohl die Melodie auch mit Neuma sehr kurz ist, changiert sie zwischen zwei Tonarten: e- und d-authentisch, die beide den Rezitationston a haben. Wenn auch das Weitere ebenso "geraten" ist, so macht es doch wenig Mühe, denn es läßt sich im Sinne der gezeigten Konventionen zusammenfügen. Wenn auch cantus und organum nicht so klingen müssen, so könnten sie wenigstens so klingen.

Mit dieser Interpretation komme ich zu den Entscheidungen, die die Musiker treffen müssen, wenn sie ein Organum machen. Sind sie eine Improvisation (Huglo), eine "schriftliche" Komposition (Kaden) oder eine "mündliche" Komposition (Treitler)?

Michel Huglo spricht mit Bezug auf den Micrologus von Guido d’Arezzo und auf die Kunst des Guido Oacrius von Saint Maur von "Regeln, ein Organum zu improvisieren". Er führt dies aber nicht weiter aus, erwähnt diesen Begriff aber in der Doppelrolle beider Kantoren als lector, scriptor und notator.

Christian Kaden erblickt die Anfänge der Komposition in der Schreibtechnik des Winchester Tropars, Varianten zu einzelnen Stellen am Rand einzutragen. Für ihn ist entscheidend, daß der Kantor die Entscheidungsfreiheit in ihren Möglichkeiten erkundet, indem er mehrere Optionen zu Papier bringt.

Leo Treitler schlägt vor, von "mündlicher" Komposition zu sprechen, da das genaue Verhältnis zwischen erinnerter und erfundener Struktur in weitgehend schriftlosen Traditionen liturgischer Musik im Mittelalter nicht bekannt sei. Seine Idee von "mündlicher" Komposition wurde bereits im Kapitel "Improvisation" besprochen.

Mir scheint der Widerspruch dieser drei Positionen nur oberflächlich zu sein. Die drei Wissenschaftler nähern sich ihrem Gegenstand von unterschiedlichen Ausgangspunkten: Organumtheorie und -praxis nach Guido von Arezzo (Huglo), der Begriff des componere (Kaden) oder das Wesen schriftloser Tradition (Treitler).

In der Praxis zeigt sich, daß der Choral in seine distinctiones aufgeteilt werden muß, nach denen die Organumstimme ihre Phrasen gestaltet. Dabei verläßt sie sich entweder auf die tonale Struktur des cantus, oder sie gestaltet auch größere Formzusammenhänge, indem sie an bestimmten Stellen prolongationes mit Ornamenten bildet. In der Gedächtniskunst ließen sich die einzelnen distinctiones als Räume vorstellen, die betreten, durchschritten und verlassen werden, sich zu Korridoren oder Gebäudeflügeln gruppieren, die wiederum durch größere Portale untereinander verbunden sind. Solche Organa müssen vorbereitet werden, denn sie folgen dem cantus Ton für Ton. Aus diesen im voraus getroffenen Entscheidungen ergeben sich nicht nur wenig Wahlmöglichkeiten und es wird schwierig sein, eine vollkommen andere Fassung zu finden. Es sind vielmehr kleinere Details, die sich ändern, etwa im Umfang der Marginalien am Rande des Winchester Tropars.

Der cantus dagegen muß vorgegeben sein. Das gilt auch für das Neuma im Benedicamus domino oder im Responsorium Petre amas me. Die Organumtechnik bei den Neumae im Graduale-Antiphonar mit Gegenbewegung, Stimmkreuzung und Parallelbewegung setzt das Abspulen vorgefertigter Formeln voraus. Sie bietet zeitlich wenig Entscheidungsspielraum. In einem ganz anderem Licht dagegen erscheint die Haltetontechnik im Organum. Sofern ein erfundenes Neuma mit einer deutlichen Richtung in seinen distinctiones moduliert, oder zumindest den tonalen Bau der Phrasen im voraus festlegt, bietet diese Technik noch am meisten Flexibilität. Und sie entfaltet in der Akustik eine starke Wirkung, die vielleicht "für wenig sensationell" gehalten wird, wenn sie auf dem Papier steht – als eine horizontale Aufreihung von Punkten in der Organumstimme.

In den Organa von Saint Maur ist diese Technik am wenigsten ausgeprägt – verglichen mit den notierten Organa in Winchester, Chartres und Fleury. Allen gemeinsam aber scheint das Denken in Phrasen, daß sich wie ein roter Faden durch die Organumpraxis zieht.
 

Die Traktate aus Montpellier und Mailand

Die Aufgliederung des cantus in distinctiones und die organale Gestaltung einer distinctio durch inceptio, medie voces und copulatio kennzeichnet die Terminologie der Organumtheorie um 1100 in den Traktaten von Mailand und Montpellier. Copulatio oder copula ersetzten Guidos Begriff von occursus als schließende Gegenbewegung, inceptio ist dagegen die eröffnende Gegenbewegung, die mit dem occursus auch zusammenlaufen kann. In diesem Fall beginnt sie in der Oktave und die medie voces als Mittelteil verzögern den schließenden occursus zum Einklang, indem sie durch Parallelführung in Quinten oder Quarten die Stimmen auseinander- und offenhalten. Quinte und Quarte sind bei den medie voces die bevorzugten Intervalle, aber es dürfen auch Sexten und Terzen eingeschaltet werden

Dieses Denken hat Kaden für den Organumtraktat aus Montpellier schematisch so dargestellt:

"Ob eine derart subtile Konstruktion anders als schrifttechnisch, durch stufenweise Abspeicherung der einzelnen Entscheidungsschritte auf dem Pergament, zu verwirklichen ist, braucht hier nicht diskutiert zu werden. Unbeschadet dessen jedoch erscheint der Vorgang der ‚organum facere‘ in einer Gestalt, die der Ad-hoc-Improvisation ebenso sich entzieht wie einem spontan-rezeptiven Nachvollzug. Musizieren übersteigt die Grenzen des Stegreifs."
Leo Treitler, der "die Grenzen des Stegreifs" nicht so eng zieht, hätte genau aus den gleichen Gründen das Gegenteil folgern können – mit Rücksicht darauf, daß das "organum facere" entlang eines bestehenden cantus auch nur relativ ad hoc geschieht.

Ein Organum über einen Choral zu bilden, beginnt mit der Aufteilung des cantus in distinctiones, so daß der ad hoc improvisierende Kantor zuerst auf die nächste Stelle zielen wird, an der er einen occursus bilden möchte. Das setzt die Erinnerung des cantus voraus.

Für Treitler läuft die Erinnerung eines zu folgenden cantus genau nach dem gleichen Schema ab, das im Montpellier-Traktat benutzt wird – als "subtile Re-Konstruktion" nämlich und nicht als mechanische Reproduktion: nicht von Anfang bis Ende, sondern zwischen Anfang, Ende und der dazwischen zu konstruierenden Mitte. Er hat das in seinen zehn Thesen zur Erinnerung mit der gleichen dreifachen Aufteilung beschrieben, die sich im Traktat von Montpellier wiederfindet.

Kadens Schema würde übrigens auch für jeden zutreffen, der sich daran versucht, ein Organum nach Guidos Regeln zu "improvisieren". Gegenüber Huglo wären sich aber Kaden und Treitler einig: "Improvisation" würden sie das nicht nennen.

Das ließe sich anhand eines Beispiels vertiefen, das im ersten Teil des Mailänder Traktats gewählt wurde, um fünf modi organizandi zu illustrieren. Es handelt sich um einen Choral, der zu Messen an Heiligenfesten gesungen wird: Alleluia. Iustus ut palma.

Der Kantor, der das organum macht, wird sich zuerst an die Intonation erinnern, mit der sein organum für den ersten Teil bereits endet. Anfang und Ende prägen sich zugleich mit der Wendung von C nach G ein, die für eine Intonation des ersten Tons – d-authentisch mit a als Rezitationston – ungewöhnlich ist. Im folgenden beginnt die Schola einen Ton höher – auf dem Rezitationston. Mit diesem Aufgang wird er sich zugleich an den markanten Anfang zur finalis D erinnern: C DFDF. Mit ihm folgt die Erinnerung an den stufenweisen Anstieg, der sich nach DF mit EG fortsetzt. Damit ist der cantus rekonstruiert.

Von hier aus wird nun die Wahl getroffen, wie nun das organum anfangen soll. Der Kantor, der es nach Guidos Regeln machen möchte, wird es am schwierigsten haben, denn die melodische Richtung ist für ihn genau "falsch", um einen occursus unterhalb des cantus zu beginnen: Sie ist weder bogenförmig noch fallend. Die Entscheidung, das organum über dem cantus zu beginnen, setzt die Einsicht voraus, daß ein occursus nur von oben oder über eine Untersekunde nach einer Stimmkreuzung erreicht werden kann. Aufgrund der mir bekannten Quellenlage würde ich folgende Beispiele geben.

So könnte ein Kantor aus Winchester ein organum machen:

Diese Version beruht auf dem Anfang des Organums Alleluia. Angelus domini descendit de caelo aus dem Winchester Tropar (Cambridge, Corpus Christi 473, fol.164). Hier in einer Übertragung von Andreas Holschneider:


Ein Kantor aus Chartres:

Beruht auf einem Organum über das gleiche Alleluia in Chartres, olim Bibliothèque de la Ville 109, fol. 75. Hier in einer Übertragung von Sarah Fuller:


 

Ein Kantor aus Fleury:

Beruht auf einem Organum über das Graduale Viderunt omnes in Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Reg. lat. 586, fol.87. In einer Übertragung von Arlt, basierend auf Holschneider:

Ein Kantor aus Saint Maur:

Der Silbenwechsel wird hier entsprechend den Bögen verschoben. Beruht auf dem Organum über das Responsorium Martir clemens in der Übertragung von Wulf Arlt.

Der Autor des Mailänder Traktates bietet dagegen fünf Optionen als modi organizandi an:

"Die erste Art, ein organum zu machen, ist wenn der erste Ton (vox) <des organums> sich mit dem vorausgehenden [cantus] vereint (copulatur).
Die zweite <Art> geschieht durch eine Trennung (disjunctio) dieses <ersten> Tones; denn der Unterschied ist die Vereinigung (conjunctio) unter Einbeziehung der Trennung (disjunctio).
Die dritte Art vollzieht sich bei den mittleren Tönen [mediae voces gegenüber inceptio und copulatio], die sich durch die Quarte ändern, wenn sie in der Quinte sind – und umgekehrt.
Die vierte <Art> geschieht bei einem abweichenden Anfang, oder bei einer abweichenden Mitte, die nicht so sehr allein, sondern eher zusammen <eintreten>.
Die fünfte <Art geschieht> durch Vervielfältigung der entgegengestellten Töne [im organum gegenüber einen Ton im cantus], die sich ausbreiten und ausweichen."

«9. Primus modus organizandi est quando prima vox copulatur cum praecedenti.

[-233-] 10. Secundus fit per disjunctionem ipsius vocis; nam differentia est conjunctio respectu disjunctionis.

11. Tertius modus sumitur a mediis vocibus quae mutantur per diatessaron, si sunt in diapente et e converso.

12. Quartus fit a diverso principio, vel a diverso medio, non tantum ab uno, sed ab utroque.

13. Quintus per multiplicationem oppositarum vocum, augendo vel auferendo.»

Diese Sätze, zumal in meiner holperigen Übersetzung, sind schwer verständlich ohne die Zuordnung der Begriffe conjunctio und disjunctio zu den affinitates der Intervalle, die zuvor festgelegt wurden:
"Der erste Ton (vox) des Organums wird mit dem vorausgehenden [cantus] durch die Oktave verbunden (conjuncta) bleiben (manebit), oder getrennt (disjuncta) durch Quinte oder Quarte; die mittleren Töne (mediae voces) aber werden in Quinte und Quarte auseinanderlaufen (discurrunt)."

«6. Prima vox organi aut manebit conjuncta cum praecedenti per diapason vel in eadem, aut disjuncta (per) diapente et diatessaron; mediae vero voces diapente et diatessaron discurrunt.»

Andere Intervalle als Oktave, Einklang, Quinte und Quarte werden ausgeklammert. Aus ihrer formale Funktion erhalten die disjunkten eine statische oder eine dynamische Bewegung. Die modi organizandi werden durch folgende Beispiele über Alleluya. Iustus ut palma erläutert:


Das erste Beispiel teilt die Intonationsformel in zwei distinctiones – entsprechend dem stufenweisen Anstieg des cantus CDF EG. Die Stimmen vereinen sich zweimal durch die Bewegung von der Oktave in den Einklang, wodurch in der Stimmführung der Organalstimme ein Septsprung entsteht – die sprunghafte Stimmführung ergibt sich zwangsläufig aus der beschränkten Auswahl der Intervalle.

Nun wäre der direkte Weg der conjunctio, den der Kantor mit dem ersten modus organizandi gewählt hat, bereits auf dem ersten F im cantus an sein Ziel gelangt:

Um die copulatio herauszuschieben, kann er nun den zweiten oder den dritten modus wählen. Im Falle des zweiten modus benutzt er den Einklang für eine Stimmkreuzung, um danach unter den cantus zu gehen, wie im zweiten Beispiel auf dem F-Einklang über lu, oder er wählt sofort den dritten Modus um die medie voces in paralle Quarten oder Quinten zu führen – im ersten Beispiel ganz konkret: die Quinte D-a in parallele Quarten F-b und D-G weiterzuführen. In jedem Fall muß er vorher wissen, wie lange die medie voces die conjunctio herauszögern, also wo die distinctio liegt, an der sie geschehen soll – zunächst bei F oder erst am Ende der intonatio, wie im dritten Beispiel.

Das Organum wird im zweiten und dritten Beispiel im zweiten modus begonnen. Folgt der Quarte C-F die Oktave D-d, beginnt das Organum mit einer copulatio und der Anfang verschiebt sich. Es scheint – ähnlich wie in Martir clemens – durch die Tonart bedingt, daß hier D als Oktave heraustritt. Im vierten Beispiel, das im ersten modus organizandi beginnt, verläuft die copulatio zum zweiten D ebenfalls entgegen der distinctio. Dieses Beispiel zeigt an dieser Stelle nur: Die Verschiebung zu einem anderen Anfang (inceptio, principio) und damit zu einer anderen Mitte (mediae voces), der dritte modus organizandi, ist immer möglich.

Diese unbegrenzte Beweglichkeit hat ihren Preis: Sie schaltet jede Dissonanz aus. Das zeigt der Vergleich mit den Organa, die ich entsprechend den praktischen Quellen anhand derselben Melodie entworfen habe. Die meisten Kantoren machen, übereinstimmend mit Guido d’Arezzo, einen so ausgiebigen Bereich von der großen Sekunde, als ob sie ihren schwebungsreichen Klang schätzten. Die sprunghafte Stimmführung und ihre absolute Beschränkung auf die reine Quarte und Quinte, ohne auf das Problem der mutatio (Wechsel zwischen b und h) und der übermäßigen und verminderten Intervalle explizit einzugehen, erschweren die Anwendung dieser Theorie in einer Stegreifpraxis. Es ist zwar naheliegend, daß dieses Problem durch den dritten modus umgangen werden kann. Aber die Idee, ein bestimmtes Intervall zu dem nächsten Ton im cantus zu bilden, auch wenn um eine Quarte oder größer gesprungen werden muß und das nicht in parallelen Intervallen, macht ihre Umsetzung nicht leicht und bietet wenig Raum für Ad-hoc-Entscheidungen. Solche Organa können zurechtgelegt und wiederholt werden, bis die Klänge und Sprünge sich im Gedächtnis eingeprägt haben und mit Hilfe der Gedächtniskunst mündlich komponiert werden können.

Dies bestätigt der Vergleich mit meiner Fassung, die auf Chartres 109 beruht, die späteste Organumschicht aus Chartres – und zugleich die einzige praktische Quelle aus Frankreich, die einen Reflex auf die Organumtheorie um 1100 zu enthalten scheint. Das Organum über Alleluia. Angelus domini behält die älteren Dissonanztechniken des occursus bei. Auch die engräumige Verknüpfung von Quartparallelen und Einklang, wie wir sie aus den Organa von Saint Maur kennen, finden sich hier wieder. Einige distinctiones, besonders am Anfang und am Ende, benutzen aber auch die stereotypen Klangfolgen der Gegenbewegung zwischen Oktave und Einklang: C-c, D-a, E-G, F-F und kombinieren sie mit prolongierten occursus nach G.

Aber auch jenes Benedicamus domino aus dem Graduale Antiphonar von Saint Maur könnte so gelesen werden. Hier ein Beispiel wie es auch klingen könnte, wenn der Transkription die Regeln des Traktats von Montpellier zugrundegelegt werden – im Vergleich zur Guidonischen Fassung:

Der Grund, warum ich diesen Traktat in einer Arbeit zum Thema Improvisation so ausführlich bespreche, ist der fünfte modus organizandi. Er ist das Zaubermittel, mit dem das Rad der Zeit angehalten werden kann und das jeden Intervallsprung meistert. Es ist eine horizontale Erweiterung und das Neuma, das so häufig in den Organa von Saint Maur anzutreffen war, könnte als seine einstimmige Form betrachtet werden. Seine besondere Wirkung auf Tonraum und Zeit besteht darin, daß eine "Stimme" im cantus zum Halteton gedehnt wird und die "Stimme" im organum die Verbindung zur nächsten durch ein Melisma schafft. Nur ist es eben keine Haltetontechnik, die – wie zuvor im organum – die modale Struktur des cantus unterstreicht, sondern vielmehr eine Haltetontechnik, die sie verzerrt, indem sie irgendeinen Ton des cantus das Gewicht einer finalis gibt.

Der rhetorischen Funktion nach entspricht der fünfte modus einer Abschweifung (digressio): augmedo vel auferendo. Genau hier liegt die Verknüpfung zwischen "mündlicher Komposition", die mehr oder weniger durch die Gedächtniskunst gesteuert war, und Improvisation.
 

Organum purum – in den Quellen um Notre-Dame de Paris

Ars organi – der erste Teil des Vatikanischen Organumtraktats

Gemessen am organum purum, wie es im Vatikanischen Organumtraktat gelehrt wird, ist die Anwendung des fünften modus organizandi im vierten Beispiel aus dem Mailänder Traktat bescheiden. Während die Organa über überlieferte Choräle, die im dritten Teil notiert sind, Formprobleme meistern, von denen der Autor von Ad organum faciendum vielleichtnoch nichts geahnt hat, geht das geschriebene Regelwerk nicht weit darüber hinaus:
"Das organum ist ein cantus, der dem vorausgehenden <cantus> nachfolgt. Denn der cantor muß vorausgehen, der organizator aber folgen, und der cantor soll als erster schließen.
Daher gilt das organum für sich nichts, wenn nicht irgendein cantus mit dem organum verbunden ist. Deshalb muß jedes organum mit dem cantus [Einklang] verbunden sein, oder durch Quarte, Quinte oder Oktave, oder darüber durch Quarte und Quinte."

«Organum est cantus subsequens precedentem, quia cantor debet precedere organizator uero sequi, et cantor debet primitus finire. Quia nihil ualet organum per se nisi aliquis cantus sit cum organo. Vnde omne organum debet esse cum cantu, uel ad diatessaron uel ad diapente, uel ad diapason, uel ultra per diatessaron uel diapente.»

Das entspricht den aptae vocum copulationes aus Guidos diaphonia dura, die der Autor des Mailänder Traktates auch für diaphonia mollis bestimmte – mit der Neuerung, daß noch größere Intervalle zum cantus zugelassen werden: Un- und Duodezime. Die Intervalle werden über die griechische Theorie des Pythagoras begründet. Was daraus geschlossen wird, erinnert aber sehr an die affinitates im Mailänder Traktat:
"Von daher ist bekannt, daß kein Ton oberhalb <des cantus> vollkommen klingt – außer der Oktave. Daher klingen Quinte und Quarte zusammen, weil sie irgendeine Melodie machen, und klingen auseinander, weil sie nicht von vollkommener Proportion sind."

«Vnde sciendum quod nulla vox supra perfecte sonat nisi in diapason. Vnde diapente et diatessaron concordant, quia faciunt melodiam aliquam, et discordant, quia non sunt in perfecta proportione.»

Im weiteren Verlauf des kurzen Prologs scheint dieser Traktat, der wahrscheinlich siebzig Jahre später entstanden ist, lediglich das zu ergänzen, was im Mailänder Traktat noch nicht geschrieben wurde. Das Problem der übermäßigen Intervalle und den Wechsel zwischen b (b rotundum) und h (b quadratum) wird über die Mutationslehre Guidos angegangen, wobei sie im oberen Register durch einen vierten Hexachord auf d um die Möglichkeit eines fis erweitert wird. Hierdurch erhalten die Tonnamen auf den Orten der Guidonischen Hand eine weitere Solmisationssilbe:
"Viel Verwirrung kommt nämlich im oberen Teil der <Guidonischen> Hand durch das b quadratum [h], wo viele irren. Denn es muß immer darauf geachtet werden, daß, wenn auf b-mi b-fa mi [als mi=h] gesungen wird, ein anderes mi gesungen wird auf f-fa-ut [als mi=fis], fa auf g-sol-re-ut [als fa=g] und re auf e-la-mi [als re=e]. Ein anderer Ton darf nicht erklingen und besser wird es auf b rotundum [b] gesetzt. Von daher kommt es, daß b rotundum und b quadratum jeweils ihre eigene Beschaffenheit [factura] haben."

«Multa enim perturbatio uenit in superiore parte manus per b quadratum, vbi multi errant, quia semper oportet, quod, quando mi canitur in be fa b mi, quod aliud mi cantetur in f ut altum, et fa in g sol re ut, et re in e la mi, et alia non potest fieri, et ideo ponitur in b rotundum. Vnde oportet quod b rotundum habeat [-298-] suas facturas per se et b quadratum suas.»

Zuvor gab es einen anderen Rat für den organizator, einen oberen Grenzton (vis organi) zu setzen und, wo es zu hoch geht, unter den cantus zu gehen:
"Die Kraft im organum [vis in organo] ist, daß wir, wenn uns ein cantus oder unser organum in der Spitze der Hand schwerfällt, in den unteren Teil der Hand hinabsteigen können, so daß das organum oder der cantus besser und vollkommener wird."

«Vis in organo est, quod si aliquis cantus grauat nos in summitate manus uel organum, possumus descendere ad inferiorem partem manus, vt melius et perfectius fiat uel cantus uel organum.»

Vielleicht ist dies als praktischer Rat an den organizator gemeint, den eigenen Stimmumfang zu berücksichtigen. Durch die Zulassung der Quarte und Quinte über der Oktave kann er beträchtlich sein: In den folgenden 343 Beispielen reicht er von C bis hh.

Regeln der Stimmführung, die auf die Form des cantus oder auf distinctiones eingehen, werden in diesem Traktat nicht behandelt. Sein zweiter Teil, unter der Glosse De regulis organi gibt 343 Beispiele, die immer nur eine Fortschreitung im cantus herausschneiden. Sie beschäftigen sich mit der Mikroebene des fünften modus organizandi – mit den Mitteln, durch die eine melismatische Brücke zum nächsten Klang geschlagen wird. Aber allein ein Blick auf die Makrostruktur des ersten vollständigen Organums im Anhang – ein Alleluya, das ganz ähnlich beginnt wie das Beispiel aus dem Mailänder Traktat –, zeigt auch in ihren Gerüstklängen eine große Nähe zu den Organa dieses Traktats:




Anfang von Alleluya. Hic martinus (Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Ottob. lat. 3025, fol.49)

Diese Gerüstklänge werden so durchgehend im fünften modus organizandi ausgestaltet,daß selbst die monotone Wiederholung des gleichen Klanges nicht als solche wahrgenommen werden würde.

Der Mailänder Traktat scheint für diese Gerüstklänge noch eine Bedeutung zu haben. Er schließt eine Lücke, die in der Überlieferung der Pariser Organumtradition zwischen Saint Maur und dem Vatikanischen Organumtraktat klafft.

Zwar spielen digressiones schon als Neumae eine Rolle in Saint Maur, doch fehlen weitere Zeugnisse aus dem Pariser Raum. Huglo nennt Stücke aus dem Codex calixtinus, der aus einem der bedeutendsten Wallfahrtsorte im europäischen Mittelalter stammt: Santiago di Compostela. Die Polyphonie dieses Codex geht, ähnlich wie in Saint Maur, auf die Kantorenschule der Cluniazenser zurück. In dem ersten Buch findet sich ein dreistimmiger Conductus Congaudeant catholici, notiert in französischer Liniennotation und versehen mit der Angabe: Magister Albertus parisiensis. Diese Zuschreibung zu Magister Albertus, der zwischen 1142 und 1174 Kantor in Notre-Dame de Paris war, ist genauso umstritten wie seine Dreistimmigkeit. Der Conductus ist aber in diesem speziellen Zusammenhang interessant, als er den Diskantstil der einen Organalstimme, rot notiert, mit dem melismatischen Stil der anderen kombiniert. Beide Stile sind, wie im Mailänder Traktat, unterschiedliche modi organizandi, die nebeneinander bestehen.

Was diese Kombination angeht, wäre neben dem Mailänder Traktat noch eine andere theoretische Quelle zu nennen: der sogenannte Saint-Martial-Traktat, wo das Responsorium Sint lumbi als Diskantbeispiel genommen wird und ein Benedicamus domino als Organumbeispiel. Die Wahl der Intervalle bei Sint lumbi nähert sich den Gerüstklängen der Organa des Vatikanischen Organumtraktats und der späteren Magnus-liber-Handschriften aus Notre-Dame de Paris noch mehr als die fünf modi des Mailänder Traktats: inceptio und copulatio beginnen oder enden in der Oktave, Quinte und Quarte sind die bevorzugten Intervalle der mediae voces. Diese Stimmführung erschließt sich nur indirekt aus dem Prolog des Vatikanischen Traktats, nämlich aus der Charakterisierung der Intervalle: der Quarte und Quinte als dynamisch (quia faciunt melodiam aliquam) und der Oktave als statisch. Anders als bei den Organa des 11. Jahrhunderts verläuft die Stimmführung einer distinctio nicht konvex, sondern konkav. Daß in den mediae voces Stimmkreuzungen möglich sind, wird, wie bereits zitiert, nur empfohlen, um notfalls einer unbequemen Höhe auszuweichen.
 

De regulis organi – der zweite Teil des Vatikanischen Organumtraktats

Der zweite Teil, unter der Rubrik De regulis organi, läßt eine Zuordnung des Vatikanischen Organumtraktats zu einem Corpus von Organumtraktaten aus dem 12. Jahrhundert zu, der in der Literatur als "Klangschritt-Lehre" bezeichnet wird. Was diese "Klangschritt-Lehre" auszeichnet, sind folgende "Regeln", die einen konkreten Schritt zwischen zwei Gerüstklängen vorschreiben und mehrere Beispiele dazu anführen, die diesen Schritt von unterschiedlichen Stufen ausgehend vorführen.
"Erste Regel. Wenn der Cantus zwei Töne ansteigt [gemeint ist ein Ton im Intervall einer Sekunde: in den folgenden Beispielen C-D, D-E und E-F] und das Organum beginnt in der Oktave, so steigt das Organum um drei Töne [eine Terz] herab und endet auf der Quinte."

«I. Regula. Si cantus ascenderit duas uoces et organum incipiat in dupla, descendat organum 3 uoces et erit in quinta, vt:»

Diese "Regeln" ähneln in ihrer stereotypen Formulierung sehr den anderen Traktaten des 12. und frühen 13. Jahrhunderts und bestätigten Reaneys Datierung, die um Jahrzehnte früher ist als bei Zaminer. In ihrer Konkretheit erscheinen die "Regeln" eher als "Vorschläge" und sie erinnern an den zweiten in Versen geschriebenen Teil des Mailänder Traktats, wo jeweils jeder Ton ausdrücklich geschrieben steht, der beide Stimmen zusammenführt. Nur die metaphorische Einkleidung in Liebesszenen wird im Vatikanischen Traktat durch einen monoton wiederholten Satz ersetzt – als Formel der Regeln unter der Rubrik De regulis organi, die durch folgenden Satz eingeleitet wird: Die Tatsache, daß bereits Mitte des 12. Jahrhunderts Traktate dieser Gruppe datiert werden können, weckt Erwartungen gegenüber praktischen Quellen. Wo lassen sich die frühesten Beispiele des organum purum finden?

Ich möchte hier nur ein bekanntes Organum dieser Art nennen, das zum Repertoire der aquitanischen Polyphonie gehört: Styrps jesse florigeram ist ein organum purum über den bekannten Benedicamus-Domino-Cantus, der auf Fulbert de Chartres zurückgeht. Es handelt sich hier um eine späte und indirekte Überlieferung, denn dieses Organum ist bereits durch einen Tropus der Organalstimme überarbeitet worden.

Das früheste mir bekannte organum purum findet sich ebenfalls in einer aquitanischen Handschrift. In einem aquitanischen Troparium-Prosar aus dem 11. Jahrhundert, eine einstimmige Quelle, gibt es auf einer Seite mit einem einstimmigen Benedicamus Domino eine nachträgliche Eintragung mit einer zweistimmigen Fassung:


Paris, Bibliothèque Nationale, fonds latin, ms. 1120, fol.105

Hier wird der erste Satz des Organumtraktats: das organum folge dem cantus, wörtlich genommen: Die Organalstimme wiederholt den Anfang des ersten Melismas, wenn der Tenor zum zweiten Halteton – von D nach E – wechselt. Doch während am Anfang, wie gewöhnlich, eine Oktave steht, so wird der zweite Halteton mit einem Septklang eröffnet, der nicht zur Oktave oder Quinte auf direktem Wege aufgelöst wird. Stattdessen wechselt das Organum auf den imperfekten Klang der kleinen Sexte, wiederholt die Septime für eine absteigende Linie, die zur Quarte E-a führt. Von hier aus wird die Auflösung durch zwei weitere Melismen bis zum Einklang auf E weitergeführt. Ist dieser erreicht, wechselt der Tenor sofort wieder zum D und das Organum reagiert erneut von der Sekunde ausgehend auf den Tenor. Nachdem die Organalstimme von der Quarte wiederum in den Einklang moduliert hat, mit dem gleichen versetztem Melisma, wartet der Tenor, bis die Organalstimme die folgende Konkordanz zum Silbenwechsel vorbereitet hat.

In diesem frühen Beispiel ist die Hierarchie zwischen Quinte und Quarte gegenüber der Oktave und dem Einklang bereits an der stufenweise durchgeführten Auflösung abzulesen. Sie zeigt, wieviel Spielarten es in der Interaktion zwischen den Stimmen Organum und Tenor beim Verfolgen des vorgegebenen cantus geben kann und wie diese Interaktion das Spannungsverhältnis zwischen concordare und discordare bestimmt, über das beide Stimmen in der Improvisation koordiniert werden. Außerdem läßt sich an diesem Beispiel studieren, wie das Organum moduliert und wie mit bestimmten Erwartungen gespielt wird, z.B. die Vermeidung der direkten Auflösung in die Oktave am Anfang des zweiten und kurz vor dem Silbenwechsel mit dem vierten Halteton im Tenor.

Genau diese Techniken lehrt auch der zweite Teil des späteren Vatikanischen Organumtraktats: De regulis organi. 343 Beispiele erläutern, wie von einem Klang zum nächsten moduliert wird – zu jeder Klangfortschreitung gibt es etwa 10 Beispiele, zwischen einem Klangschritt zu modulieren. 251 Beispiele gliedern sich in 31 Regeln, weitere folgen in einem Anhang und bringen Nachträge zu den Regeln.

Ich greife ein paar Techniken heraus, die diese Beispiele illustrieren:


Rom, Biblioteca Apostolica Vaticana, Ottob. lat. 3025, fol.46v

Dieses Beispiel zeigt mehrere Techniken gleichzeitig. Der Klangschritt, um den es hier geht, verläuft von D-d nach a-a. Die Solmisationssilben sind «sol» und «re», Hexachordauf Gamma (das tiefe G) und dann G im Tenor, wie die Organumstimme, die h quadratum oder «be mi» singt.

Zwar wird im ganzen Traktat der Bezug zu Tonarten und das Problem der Tonarten im organum purum überhaupt, wo jeder Halteton die Anziehungskraft einer finalis entwickeln kann, nicht explizit behandelt. In diesem Beispiel dagegen wird ganz deutlich die Tonart d-authentisch dargestellt.

Das erste Mittel hierzu ist die Verzierung des principium ante principium am Anfang, mit dem jedes Organum dieses Stils seine Oktave am Anfang bildet (siehe Anfang Alleluya). Die Notationsweise dieser Verzierung ist gerade in früheren Quellen als den Magnus-liber-Handschriften aufschlußreicher.
 

Exkurs: Verzierungen im Organum purum

Möchte der Kantor des Organums den ersten Ton als wichtigen Strukturton der Tonart exponieren, kann er ihn halten: Sein Melisma kehrt zum Ausgangston zurück, ohne irgendwohin zu modulieren. Hierdurch wird d hervorgehoben. Diese Strategie wird in vielen der 340 Beispiele demonstriert.

Das folgende könnte als Ausweichen dieser Strategie bezeichnet werden. Das d wird nochmals dadurch herausgehoben, daß eine Currentes-Kette den Oktavraum von d nach D durchmißt. Der Schwerpunkt, der diese Kette durchbricht, ist aber nicht der Rezitationston a, sondern h, wodurch bereits der Sprung zum c vorbereitet wird. Dies ist eine ungewöhnliche Aufteilung, die vorausdenkt. Denkbar wäre auch ein porrectus a-G-a, dann der Quintsprung a von D aus, und h, um von c nach a zu modulieren – über den nächsten Halteton a. Diese letzte Modulation erinnert an die Klangverschiebung im Benedicamus domino von Saint Martial, die dadurch entsteht, daß das Organum mit dem Silbenwechsel «sol-re» zum Folgeklang dissonant wird, und – nachträglich – in die Konsonanz moduliert: mit einer Verzierung auf der paenultima. Was hier gezeigt wird, ist ein durchgeplanter Abstieg von d nach a entsprechend der vierten Regel:

«Si cantus ascenderit 5 uoces et organum incipiat in dupla, descendat organum 4 uoces et cum cantu concordabit».
Das Organum geht diesen Weg nicht direkt, sondern es stellt die Tonart d-authentisch durch die Oktave d-D und den Quintschritt D-a, durch den es den Cantus vorwegnimmt, deutlich dar. Dadurch erreicht es sein Ziel vor dem Haltetonwechsel und benötigt die diskordanten Klänge c (semiditonus) und h (tonus) – «be mi» entsprechend der Solmisation «a re», um den konkordanten Einklang wirken zu lassen.

Das folgende Beispiel zur ersten Regel ist sehr viel einfacher:

Im Organum wird eine absteigende Floskel benutzt, die sekundschrittig nach unten sequenziert von d nach c, nach h. Dann wird das h nochmal aufgegriffen um den Zielton a zu erreichen, wiederum vor dem Haltetonwechsel. Hier wird der Schritt h-a antizipiert und zur Wendung h-c-a ausgebaut.

Hierzu noch ein ähnliches Beispiel, daß diesmal in zwei Richtungen sequenziert:

Es gehört zur achtzehnten Regel auf Folio 47verso, die von der Oktave in den Einklang auf der nächsten Sekunde führt. Das Organum muß einen Septschritt von c-fa nach D-re überbrücken. Es benutzt hierfür die Terz, aber nicht um auf dem direkten Weg zu d, sondern über eine Modulation nach a (nicht G). Nachdem der Oktavraum fa-c-C durchmessen wurde, wird mit einem Motiv über E-G-h nach oben sequenziert, um eine currentes-Kette nach D laufen zu lassen. So wird dem Tenor wieder mal der nächste Ton gezeigt und über eine Sekundpaenultima "genommen".

Die currentes verweisen bereits auf die Möglichkeit des direkten Weges, wie hier zu der einunddreißigsten und letzten Regel (fol.48):

D-re wird als Grenzton benutzt, um auf dem Zielklang D zu verzieren und die Paenultima einzuschalten. Die zwei folgenden Beispiele teilen diese Bewegung uns heben a und F, oder nur F hervor (d-plagal).

Das nächste Beispiel kombiniert das Halten des Anfangsklanges mit einer am Ende verzierten currentes-Kette:

Das Organum muß – bei der dreiundzwanzigsten Regel auf Folio 47verso – in der Mutation von b-fa nach b-mi wechseln. Der Terzschritt von G-sol nach E-mi ist schwierig. Mit der Unterquinte g-c wird der Tonraum ausgelotet und strukturiert. Das d bereitet den Einstieg in den Hexachord molle um, bei der Unteroktave G – im Einklang mit dem Halteton – wird verziert, auch um Zeit zu gewinnen, auf ihn den neuen Hexachord durum zu errichten.

Manchmal zeigt auch eine Plica den Wechsel, wie hier in der ersten Regel (fol.46):

Der Schritt von d nach h wird einfach durch eine Plica überbrückt, vorher wird d "gehalten".

Ein anderes Beispiel zeigt das "Halten" mehrerer Klänge gleichzeitig, das einer Verzierung sehr ähnlich ist (fol.48'):

Bei dieser Seitenbewegung zur Quinte, ein angehängtes Beispiel, das der sechsundzwanzigsten Regel zugeordnet werden könnte, werden kurze Floskeln so wiederholt und variiert, daß D, G und a gleichzeitig "gehalten" werden. Dieses Beispiel erscheint im Anhang, obwohl es der sechsundzwanzigsten Regel zugeordnet werden könnte.

Obwohl die Stimmkreuzung im ersten Teil des Traktats genannt wird, gibt es nur eine von 31 Regeln, die einen Stimmtausch vorsieht, als Fortschreitung zwischen zwei gleichen Klängen: Regel 13. Hier ein Beispiel für den Klangwechsel von C-G nach G-C (fol.47):

Die Solmisation des Tenors ist genau andersherum als hier notiert. Es ist wieder ein Spiel mit kurzen Floskeln, die stehen (aF GE, DC) oder modulieren (DE FG, CD EF), durch das der Abstieg gestaltet wird.

Eine Analyse der Klangwechsel in den Organa nach den Regeln, gewissermaßen der dritte Teil des Organumtraktats, zeigt, daß dieser Klangwechsel für Stimmkreuzungen nicht typisch ist. Zum einen sind Stimmkreuzungen selten und sie setzen sich immer aus zwei Klangschritten zusammen. Vom Einklang auf G einen Quartschritt in die Unterquinte D-a und zurück – häufig unter Einschaltung der Oktave d-D, die im Organum durchlaufen wird, um unter das a im Tenor zu tauchen. Eine vis organi nach oben läge demnach auf G.

De regulis organi ließesich umstrukturieren, sollten die einzelnen Beispiele nach den Mitteln geordnet werden, zu denen der Sänger greift, um zu modulieren, auf einer Verzierung innezuhalten, bestimmte Stufen zu halten oder zu verlassen, oder die erwartete Konkordanz nach dem Wechsel des Haltetons herauszuzögern.
 

Die Organa des Vatikanischen Organumtraktats

Der dritte Teil verknüpft die Ebene des zweiten Teils mit der eines Cantus, indem er einfach drei Organa einfügt, die demonstrieren, wie über einen Cantus ein Organum gesungen wird. Von der Mikroebene des Teils De regulis organi und der Makroebene des Cantus ist es ein weiter Sprung. Es geht hier zunächst um die solistischen Teile der bevorzugten Choralgattungen Graduale, Alleluiavers und Responsorium: Die Initialfloskel des Vorsängers im ersten Teil und der ganze Solovers im Responsorium oder etwa weite Teile des Soloverses in den Meßgattungen.

Die Mikroebene betrifft die Organumabschnitte über einem Halteton, die isoliert im zweiten Teil behandelt wurden. Da die Melodietöne des Chorals ebenso als bekannt vorausgesetzt werden können, wie die Orte eines Silbenwechsels oder eines formalen Einschnitts (distinctio), bildet dieses Wissen um die Struktur des Cantus eine Schnittstelle zwischen Mikro- und Makroebene. Es regelt auch den Übergang von einem zum nächsten Ton innerhalb eines Chorals.

Eine Möglichkeit: Aus dem Intervall eines Gerüstklanges ergibt sich zugleich der Anfang des nächsten und das Ziel des vorigen Abschnittes. Das Ende wird gebildet durch die Einbeziehung von dissonierenden Paenultima-Klängen. Das gerade hier, auf der vorletzten (paenultima) oder letzten (ultima) Note der Ort einer Verzierung sein kann, bestätigen die Traktate des Anonymus 4 und des Hieronymus von Mähren. Verzierungen an diesem Ort haben die Funktion des Schließens im Sinne einer Auflösung in die Konkordanz und – darüber hinaus in eine Pause der Organumstimme. Sie liegt in der Verstärkung einer akustischen Schwebung entweder zur Verstärkung einer Diskordanz (paenultima) oder darin, die Auflösung in eine Konkordanz herauszuzögern. Danach wird eine Pause gemacht und häufig geschieht der folgende Einsatz auf einer perfekteren Konsonanz, z.B. folgt die Pause auf eine Quinte, das Organum setzt nach der Pause auf der Oktave ein.

Eine andere Möglichkeit besteht darin, die Oktave zu einem Halteton zu suchen und in currentes zu durchlaufen und auf der Oktave zu kadenzieren. Damit wäre ein Schluß erreicht. Ein Schluß im Einklang würde eine verzierte Sekunde als paenultima benutzen und könnte anschließend über ein plica longa zu einer Oktave zum nächsten Halteton führen, der mit der folgenden distinctio beginnt.

Zu den festen Punkten in einem Gerüst gehören auf jeden Fall der Anfang und das Ende – es sind Punkte, an denen für gewöhnlich stereotype Floskeln. Solche Floskeln gäbe es bei einem Organum sowohl auf der Makro- wie auf der Mikroebene. Fast jedes Organum beginnt auf der Oktave mit der Verzierung des principium ante principium. Sie hat mehrere Funktionen zugleich:

Der Begriff principium ante principium (Anfang vor dem Anfang) besagt aber noch etwas anderes. Die meist – in den Handschriften ausgeschriebene – Septime dieser Verzierung zeigt dem Tenor eine Dissonanz, durch deren Auflösung sein Einsatz angezeigt wird, d.h., die Verzierung auf der Septime färbt diesen Ton erst als Dissonanz ein und verwandelt das principium ante principium in eine paenultima, also die Verzierung, die dem Tenor den Übergang zum nächsten Ton zeigt und damit auf der Mikroebene zum nächsten Abschnitt wechselt. Es gibt daher eine Verwandtschaft dieser Verzierung mit den folgenden principia der nächsten Abschnitte, die zugleich Schlüsse der vorhergehenden bilden. Der Mitte zwischen diesen floskelhaften Punkten kommt die Aufgabe zu, den vom Halteton des Tenors vorgegebenen Klang zu stabilisieren und wieder zu destabilisieren, um zur dissonanten paenultima und dem Wechsel zum nächsten Halteton überzuleiten. Dieses Betonen oder Halten ist mit der Verzierung plica longa, aber auch mit anderen Formen verbunden, die einen oder mehrere Töne wiederholen oder betonen. Hierzu gehört auch das Darstellen einer Tonart nach dem principium ante principium. Auf der Makroebene dagegen gibt es den Choral und seine Tonart, wozu auch die Haupt- und Gegenklanglichkeit einzelner Töne und Phrasen gehört, die der Choral durchläuft. Ein weiterer Aspekt auf der Makroebene ist der Text und seine Syntax, der die Schlußbildungen der einzelnen Abschnitte bestimmt – z.B. ob der Schluß als Übergang zum nächsten Halteton gebildet wird oder ob der Halteton als letzter Ton auf der Schlußsilbe eines Wortes am Ende durch eine starke Konsonanz stabilisiert wird.

Gewisse Vorgaben ergeben sich aus diesen architektonischen Funktionen, deren Wissen ich als generative Fähigkeit bezeichnen würde. Daraus entsteht eine weitere Möglichkeit, die ästhetische Kategorie des Unvorhersehbaren ins Spiel zu bringen, indem ein Organumsänger von diesem Muster abweicht und etwas Anderes oder überhaupt etwas Ungewöhnliches macht.

Stellen wir uns nun im Sinne Shiloahs, entsprechend dem arabischen Konzept von sama‘ (erster Abschnitt dieses Kapitels), einen Kantor vor, der an der Kunst eines anderen interessiert ist, dem er zuhört. Er wird die herausragenden Momente neben den floskelhaften Rahmenteilen im Gedächtnis behalten. Er wird vielleicht auch ihm unbekannte Möglichkeiten, die Struktur eines Chorals im Organum purum darzustellen, kennenlernen und sich merken können, soweit er ihre formale Funktion zu erkennen vermochte. Ähnlich funktioniert sicher auch die Rekonstruktion der studierten Handschrift, wenn das Organum aus dem Gedächtnis gesungen wird. Alles, was durch dieses Raster gefallen ist, wird entsprechend seinen Funktionen und den Erfahrungen des Organumsängers rekonstruiert oder ergänzt. Solche kreativen Fähigkeiten tragen eine Tradition in einer Zeit, in der schriftlose Überlieferung die Regel und Handschriften die teure Ausnahme sind – selbst dann noch, wenn Schriftlichkeit als Medium für Komposition benutzt wird und der Notentext als Grundlage zum Memorieren dient.

Im Sinne der mittelalterlichen Gedächtniskunst könnte eine vorgegebene Konstruktion mit Gerüstklängen punctum contra punctum entsprechend den syntaktischen Abschnitten oder distinctiones eines Cantus als ein Gang durch mehrere Räume vorgestellt werden. An jeder Tür erreicht der Kantor einen neuen Klang mit einem Haltetonwechsel. Es ist auch vorstellbar, daß er in einem bestimmten Raum etwas Besonderes vorfindet... Irgendwann ist er im letzten Raum und betritt einen anderen Teil des Gebäudes. Soweit die "mündliche Komposition", in der ein Organum einem Cantus folgt.
 

Organum und Diskant – processus und structura

Nach den 31 Regeln in De regulis organi finden sich andere Beispiele in einem Anhang (fol.48'), von denen ich noch eines auswählen möchte. Einige weichen von der Satztechnik des Haltetons ab, nehmen aber in den drei Organa des dritten Teils einen wichtigen Platz ein. Eines dieser Beispiele läßt das Organum eine extrem hohe Tenorlinie folgen, die den Klangschritt von d nach G (Tenor) "aufteilt":

Das Organum beginnt mit einem G eine Quinte unter dem Tenor und sequenziert den Tonschritt im Tenor, mit einer sekundschrittig fallenden Floskel, die immer von der Obersekunde in den Einklang zum unterlegten Tenorton fällt. Diese Satztechnik hebt sich von den anderen Beispielen ab, denn aus der Verbindung von der Sequenzierung einer Floskel mit dem schreitenden Tenor entsteht ein gleichmäßiger Rhythmus, der sich von den ausgedehnten Haltetönen der anderen Beispiele abhebt. In der Gedächtniskunst könnte hierzu ein Raum vorgestellt werden, der in gleiche Abschnitte, z.B. durch Säulen, gegliedert ist.

Solche Abschnitte haben in den drei Organa im letzten Teil des Organumtraktats (fol. 49-50‘) eine wichtige formale Funktion, die ich im dritten Teil dieses Kapitels genauer analysieren werde. An dieser Stelle reicht zunächst der Hinweis, daß diese Funktion der clausula entspricht: der modalrhythmischen Einschübe, die die organa dupla der Notre-Dame-Handschriften als die seit Perotin bearbeitete Form von Leonins Magnus liber organi ausweisen. Die stereotype Form der cauda oder copula, die die Klausel und mit ihr eine distinctio beschließt, ist bei authentische Tonarten ein currentes-Lauf von der Septime in den Einklang und eine Schlußformel, die meist die Oberquinte benutzt, z.B. mit einer plica longa, und dann eine Oktav zum Halteton bildet. Eine stereotype Formel hierfür wäre None-Oktave Oktave-Septime-Oktave. In der räumlichen Vorstellung weitergedacht, öffnet sich der Säulengang der Klausel zu einem abschließenden großen Saal, der eine Raumfolge abschließt und abrundet.

In dem Vatikanischen Organumtraktat sind die Klauseln nicht modalrhythmisch komponiert und das kennzeichnet diesen Traktat innerhalb der zweiten Gruppe unter den Traktaten der "Klangschritt-Lehre", zu der Sachs diesen Traktat gerechnet hat. In Sachs‘ dritter Gruppe steht der Organumtraktat und in seiner vierten Gruppe der Discantustraktat des Anonymus 2. Beiden Teilen geht ein erster Teil voraus. In ihm werden die Ligaturen und Einzelnoten nach den Definitionen von proprietas und perfectio der Schule Garlandias und die ersten fünf Modi der Modalnotation unter Berufung auf Franco von Köln erläutert. Im Teil De organo werden dann drei Formen des Organums unterschieden, nämlich prolatio, diaphonia und discantus. Der Rückgriff auf Garlandias späte Notationsform innerhalb des Systems rhythmischen Modi zeigt, daß mindestens dieser Teil des Traktats viel später als der Vatikanische Organumtraktat ist. Deshalb wird discantus im Sinne der Notre-Dame-Schule als modalrhythmische Weiterentwicklung der Klausel verstanden. Der Begriff diaphonia scheint mir ein Rückgriff auf den Mailänder Traktat und seine Fortführung in der frühen Klangschritt-Lehre zu sein, mit der punctum contra punctum ein Gerüst über dem Cantus gebildet wird. Prolatio kann auf die besondere melismatische Erweiterung der diaphonia bezogen werden, und bezieht sich teils auf Garlandias Idee der fractio modi, also die irreale Aufteilung einer langen Note, teils auf die Idee der digressio, d.h. die fractio auch in ihrer Aufteilung nicht auf eine modalrhythmisch definierte Länge bezogen – sehr ähnlich dem letzten Kapitel über die modi irregulares im Musiktraktat des Anonymus 4, das den frühen Organumstil beschreibt.

In dem Teil De discantu erweist sich der Traktat als eine der frühesten Quellen, die den Terminus Improvisation verwenden. Der discantus wird dort als ars sciendi componere et proferre discantum ex improviso bezeichnet – eine Verknüpfung beider Begriffe, die Treitlers Begriff der mündlichen oder schriftlosen Komposition bestätigt. Was hier vorausgedacht wird, mögen wiederum Gerüstklänge gewesen sein. Anders als im letzten Beispiel aus dem Vatikanischen Organumtraktat sind in der Diskantlehre des Anonymus 2 nur ein Klangschritt des Tenors behandelt, zunächst alle Intervalle aufsteigend, dann fallend.

Die Beispiele zu diesen Regeln sind dreistimmig, wobei beide Stimmen um den Tenor herum liegen und in den jeweils ersten Beispiele parallel zueinander geführt werden, später auch mit verschiedenem Rhythmus. Mit diesem Traktat werden Formeln als Bausteine eingeübt, um sich ihrer je nach Klangschritt des Tenors bedienen zu können. Es ist aber nicht so weit entfernt von dem Beispiel aus dem Vatikanischen Traktat, denn dort steigt der Tenor in Sekunden abwärts und das Organum folgt mit nur einer Formel.

Wird diese Verbindung von Komposition und Improvisation mit der Kunst der Kantoren von Notre-Dame de Paris verglichen, dann fällt zunächst auf, daß Anonymus 4 das Organum mit der Kunst Leonins und den Diskant mit der Perotins identifiziert. In den früheren Notre-Dame-Handschriften W1 und F fällt die besondere Notationsweise der Organa auf, die mit Perotins Form der Bearbeitung zusammenhängt. Er ersetzte Passagen der zweistimmigen Organa pura durch modalrhythmische puncta, die eben nicht die Subtilität von Leonins Organa übertraf, sondern die Einführung eines Kontrastes zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Formen.

Ein Merkmal der neuen Form ist, daß sie austauschbar ist. Das zeigt sich durch die Anhänge der Faszikel mit zweistimmigen Organa, in denen Ersatzkompositionen (clausule) zu den einzelnen Passagen gehäuft werden, die ebenso gesungen werden können wie die copule, mit denen die Organa notiert sind. Die Reihenfolge der clausule ergibt sich übrigens aus der liturgischen Ordnung der Choräle, aus denen die tenores gebildet wurden. Ein weiteres Gestaltungsprinzip der clausule ist, daß sie melodische Wendungen aus dem Choral zu einem Tenor bilden, die meist nicht auf der finalis des Chorals enden, und daß sie diese Tonfolge in der Regel wiederholen, wodurch eine zweigegliederte symmetrische Form entsteht. Damit wird die besondere Wirkung eines ausgedehnten Haltetons, der in der Wahrnehmung die Bedeutung einer finalis bekommen kann, auch auf eine Tongruppe übertragen, die ihren Schlußton durch Wiederholung und symmetrische Form zentriert. Doch damit begnügten sich Komponisten nach Perotin nicht. Manchmal paßten sie die Tongruppe nicht dem rhythmischen Schema des Tenors an, so daß sie bei der Wiederholung durch den Rhythmus permutiert wird. Hier liegen die Anfänge des isorhythmischen Verfahrens, für das Ars-nova-Komponisten wie Philippe de Vitry und Guillaume de Machaut bekanntgeworden sind.

Dagegen ist die Wiederholung etwas, das dem organum purum, so wie es im Vatikanischen Organumtraktat beschrieben und geübt wird, durchaus fremd ist. Die Wiederholung gibt es zwar in der Form des Chorals, wenn das Graduale oder Alleluya nach dem Vers wiederholt wird, doch selbst da gibt es die Möglichkeit, die intonatio mit einem weiteren Organum zu schmücken. Im Unterschied zu den Quellen in Wolfenbüttel sind alle Organa im Magnus liber der Handschrift F dreiteilig notiert, d.h. zu dem Tenor des ersten Teils – der intonatio – wird bei der Wiederholung ein neues Organum gesungen, das mit dem ersten nicht identisch, dagegen außerordentlich verziert und knapper ist.

Die clausula, die als Ersatzkomposition in die passende Copula-Stelle eines Organums eingesetzt werden kann, führte ein sehr produktives Eigenleben und wurde zur Brücke zu den neuen Liedgattungen, die im 13. Jahrhundert aus den kulturellen Aktivitäten um Notre-Dame de Paris hervorgegangen waren. Viele zweistimmige Motetten benutzen einfach eine bestehende clausula, und tropieren die im Rhythmus des ersten bis vierten Modus gesetzte Organalstimme. Sie sind nichts weiter als eine zweistimmige clausula, deren Organalstimme mit einem weiteren lateinischen oder französischen Text versehen wird, der meist syllabisch unter jeden Ton verteilt wird. Diese Motette stand in der Tonart der clausula und nicht des Chorals, aus dessen Tenor die clausula gebildet worden war. Außerdem werden die Motetten genau wie die clausule nach den Tenores liturgisch geordnet und bleiben auf das Antiphonar und Graduale der Organa bezogen – dies wahrscheinlich auch in para-liturgischer Hinsicht.

Bei den dreistimmigen Motetten herrschen weitere neuartige Kompositionsprinzipien. Die einfache vertikale Erweiterung der zweistimmigen Motette sind dreistimmige Motetten mit nur einem Text, der in beiden Oberstimmen gleichzeitig gesungen wird. Hier wurde also einer textierten clausula eine dritte Stimme hinzugefügt, die hinsichtlich Phrasierung und Interpunktion parallel zur Organalstimme läuft. Ein Beispiel hierfür ist die Motette O natio über den Tenor Hodie perlustravit (W2, fol. 130‘), von der Motetus und Tenor identisch mit einer clausula sind, die nur in W1 zu finden ist (W1, fol. 45‘). Der lateinische Text greift am Ende und in der Mitte die Worte des Tenors auf und macht sie zum sujet. Genau in gleicher Weise wird dieselbe clausula von einer französischen Motette verwendet, die diesmal einen höfischen Text einfügt: A ma dame ai tout mon cuer (W2, fol.137‘). Zu dem gleichen Tenor gibt es eine französische Spottmotette, zweistimmig und im Wolf-Fragment wie in W2 zu finden: Or me tendront riche mauves a fou. Der Text ist diesmal länger und bedarf eines weniger gemessenen Rhythmus‘, um die vielen Textsilben unterzubringen. Eine knifflige Aufgabe, da es hierzu keine clausula gibt. Die clausula über den Tenor Nostrum, dem Alleluiavers zur Ostermesse, hat zwei Motettenfassungen mit dem Text Gaudeat devotio (W2, fol. 148 2-st; fol. 131‘ 3-st), die den Zusammenhang zwischen den Fassungen verdeutlicht: Die zweistimmige Fassung ist in der dreistimmigen enthalten. Außerdem gibt es noch eine Conductus-Fassung, in der der Tenor weggelassen wurde. Solche Formbezüge drücken sich auch in der Notation aus. Die typische Motettennotation trennt den Motetus vom Tenor und – im Unterschied zu den späteren Motettenhandschriften von Montpellier und Bamberg – gibt es keine Verdeutlichungen zu den modalen Gruppierungen, die durch die syllabische Textierung der Klausel aufgelöst werden. Bei dreistimmigen Motetten mit einem Text, die Worte des Tenors nicht mitgezählt, werden die beiden Oberstimmen übereinander notiert, der Tenor dagegen am Ende gesondert in den modalen Gruppierungen der Klausel. Ohne den Tenor entspricht diese Notation der eines Conductus ohne Hoqueti.

Die Hoquetus-Technik, eine in den drei und vierstimmigen Organa Perotins und anderer gepflegte Kompositionstechnik, gehört zu den neuen Satztechniken des Diskantstils. Es ist sicher kein Zufall, daß Motetten, die neben dem Tenor noch zwei Texte in den Stimmen erklingen lassen – bisweilen in unterschiedlichen Sprachen, sehr stark diese Technik nutzen, deren Transparenz die Dichte einer solchen Komposition ermöglichen.

Ein Beispiel hierfür ist die Motette Mors (F, fol. 400‘): Alle drei wichtigen Notre-Dame Handschriften überliefern im vierstimmigen Faszikel – mehr oder weniger vollständig, da es als Anfangsfaszikel in beiden Wolfenbütteler Quellen beschädigt ist – eine vierstimmige clausula, deren Tenor Mors zu dem Alleluiavers Christus resurgens gehört. Als einzige vierstimmige Klausel, zu der es auch kein vierstimmiges Organum gibt, nimmt dieses Stück eine Sonderstellung im Repertoire des Magnus liber organi ein. Wahrscheinlich ist sie ebenfalls als Ersatzkomposition für ein organum duplum zu diesem Alleluya gedacht, denn in organa tripla und quadrupla hat eine clausula keine wirkliche Funktion und nur Mors bildet hiervon die Ausnahme. Zu der gleichen Musik, aber ohne die vierte Stimme, gibt eine dreistimmige Motette, zu der zwei lateinische Texte gesungen werden, die das Wort des Tenors Mors als Incipit aufgreifen. Der von Hoqueti durchzogene Satz begünstigt diese textierte Mehrstimmigkeit, den durch sie greifen die Stimmen ineinander und erklingen häufig abwechselnd. Mors aus Alleluya. Christus resurgens ist ein sehr bekannter Tenor, zu dem es einen ganzen Corpus unterschiedlicher Motetten gibt. Die hier erwähnte dreistimmige Motette ist dreiteilig notiert, die beiden textierten Oberstimmen und Tenor folgen – separat notiert – hintereinander. Die Motettenhandschrift Bamberg überliefert zu dem gleichen, aber anders rhythmisierten Tenor Mors eine weitere Motette mit zwei unterschiedlichen lateinischen Texten, die beide auf Non pepercit gleichzeitig beginnen und im weiteren Verlauf mit eigenen Versen durch Hoqueti auseinander rücken. Aber hier gibt es ein zweites satztechnisches Mittel, durch das die Stimmen getrennt werden: Die mittlere Stimme mit dem Text Non pepercit Deus nato proprio muß in Intervallen bis zu einer Tredezime (zusammen Oktave und Sexte). Die modernere Notation der Bamberger Quelle stellt die beiden Oberstimmen in zwei Spalten nebeneinander und den Tenor am Fuß des Folios (Ba, fol. 41‘).

Es wird kaum überraschen, daß der neue Diskantstil, der in der Zeit des Anonymus 4 zu höchst ungewöhnlichen Experimenten in der Ars nova angeregt hat, der musikwissenschaftlichen Forschung weitaus weniger Schwierigkeiten bereitet hat als der frühere Stil des organum purum. Es sah in den Übertragungen einfach nicht gut aus, daß gewisse Passagen in den organa dupla, die von settenarie und ottonarie nur so strotzten, unübertragen blieben. Die zeitgenössischen Theoretiker – besonders Johannes de Garlandia und seine Nachfolger wie z.B. Anonymus IV oder Anonymus de St. Emmeram – wählen bestimmte Termini, um organum per se oder organum purum gegenüber discantus abzusetzen: modus non rectus, ex contingenti (Garlandia), irregularitas (Anonymus St. Emmeram), modi irregulares (Anonymus IV).

Damit wird immer ausgedrückt, daß die Regeln des modalrhythmischen Systems nicht oder nur wenig befolgt werden, andererseits werden dann mehr oder weniger andere Regeln unter der Bezeichnung modus irregularis oder non rectus entworfen, um die Abweichung zu erklären. In der Rückschau, in der die Theoretiker auf den früheren Stil des organum purum zurückblicken, erscheint organum purum als etwas Rätselhaftes oder zumindest nur schwer Faßbares.

In einer langen Kontroverse, die etwa so alt ist wie die Beschäftigung von Wissenschaftlern und Musikern mit liturgischen mehrstimmigen Quellen des 12. Und 13. Jahrhunderts, wurde dieses Erstaunen immer wieder als Autorität einer Primärquelle benutzt, auf die man sich berufen konnte, wenn es darum ging, eigene rhythmische Transkriptionsversuche zu rechtfertigen. Das Bedürfnis nach einer eindeutigen rhythmischen Zuordnung haftet diesen Versuchen unverkennbar an, nur die Geister scheiden sich daran, ob man im System des Modalrhythmus bleibt (Waite, Karp, Tischler, Dittmer, Husmann) oder gleich zu dem der Mensuralnotation übergeht (Parrish), oder eines aus den Ausführungen des Anonymus 4 zu den modi irregulares destilliert (Yudkin, nicht unähnlich zu Apels an Konsonanzen orientiertes rhythmisches System) oder einfach von improvisatorischer Freiheit (Ludwig, Wagner, Besseler) ausgeht, womit noch nicht allzuviel gesagt ist. Diese letzte Meinung wurde aber hauptsächlich von Musikern mit praktischen Experimenten gefüllt – sicher nicht zuletzt, weil sie sich nicht in theoretischen Spitzfindigkeiten verloren hat.

Ein Konzept von mittelalterlichem Formverständnis, das jene Gegenüberstellung zwischen der Komposition einer Motette als dichtes Verweben von Bezügen und der Komposition eines Conductus oder eines Organums als Entwicklung zum Gegenstand nimmt, wurde von Fritz Reckow konstruiert: Er nannte jene älteren Formen, die sich rhetorisch auf dem Weg zu einem Ziel entfalten, processus, die komplexe Organisation von Gleichzeitigkeit zweier Texte und deren Verweise aufeinander, was keine Komposition neuer Musik sein muß, sondern ebenso Tropierung einer bereits komponierten clausula sein kann, structura.

Die Vorstellung von Bewegung, die processus als Form ausmachen, lassen sich verbinden mit dem räumlichen Vorstellungsvermögen der zeitgenössischen Gedächtniskunst und sie stehen in Verbindung mit Improvisation und Rekonstruktion beim Musizieren aus dem Gedächtnis und dem Durchleben unterschiedlicher Zeitqualitäten. Auf dieser Ebene möchte ich auch versuchen, ein Verständnis der Notation im Organumtraktat oder der vormodalen Teile eines Organum duplum im Magnus liber organi zu entwickeln. Structura dagegen verweist auf Intertextualität und Parodie, aber auch auf komplexe Kompositionstechniken, die bereits in Notre Dame so weit entwickelt waren, daß es bis zur Isorhythmie bei Machaut und Vitry nur noch ein kleiner Schritt war.


Zum dritten Teil des zweiten Kapitels:  PETRE AMAS ME – EINE VERGLEICHENDE ANALYSE