Modale Traditionen und die Entwicklung zur Mehrstimmigkeit

Im vorigen Kapitel habe ich darzustellen versucht, welchen Stellenwert die Quellen zu dieser Rekonstruktionsarbeit haben können. Wenn es um die formale Bewältigung der Improvisation im Organum purum geht - den Rahmen, in dem Entscheidungen bei der Improvisation getroffen werden, ist der Vatikanische Organumtraktat die herausragende Quelle. Da das Organum als Kunst verstanden wird, einen vorgegebenen Cantus zu verzieren, spielen die Ornamente im weitesten Sinne eine tragende Rolle. Aber gerade hier zeigt die Arbeit mit den Quellen ihre natürlichen Grenzen. Schriftliche Traktate hatten auch in der Pariser Tradition, in der sie im 13. Jahrhundert eine größere Bedeutung erlangten als anderswo, im 12. Jahrhundert nur eine untergeordnete Bedeutung. Ihre Überlieferung setzt den lebendigen Austausch mit erfahrenen Kantoren voraus, der selbstverständlich war. Nur durch diesen Austausch und die Möglichkeit, großen Kantoren zu begegnen und ihre Kunst zu erleben, kann eine Tradition leben.

Die theoretischen Traktate und die wenigen Handschriften, in denen Organa niedergeschrieben wurden, ersetzen nicht das Erlebnis, die Stimme eines berühmten Kantors im Kirchenraum zu hören. Sie ersetzen nicht den Unterricht dieser Kantoren, der sich der Klangfarbe der Stimme, und ihre Anwendung bei der genauen Intonation eines Intervalls im Organum widmet, oder Kunst, aus der eigenen Stimme die rechten Verzierungen zu entwickeln.

Die Kluft, die zwischen einer lebendigen Tradition und den Experimenten bei der Rekonstruktion einer toten, vergangenen Tradition klafft, kann einfach im Vergleich zwischen Feldaufnahmen und einer Gregorianik-Platte sinnlich erfahren werden. Das ist wohl der Grund, warum sich die Arbeit von Musikern bei der Rekonstruktion einer Aufführungspraxis nicht mehr allein durch ein mehr oder weniger akribisches Studium der historischen Quellen erschöpft. Vielleicht ist hierfür "Rekonstruktion" nicht das richtige Wort, sondern müßte durch "Wiedererfindung" einer verlorenen Tradition ersetzt werden. Aber beide Wörter drücken einen hohen Anteil an Kreativität der Arbeit aus, die von vielen Historikern mit Mißtrauen und Skepsis betrachtet wird.

Es mag sein, daß gewisse Experimente sich nicht historisch rechtfertigen lassen, aber die historische Methode ist sicher nicht die einzig mögliche. Die Ratlosigkeit vieler Musiker gegenüber der historischen Methode besteht nicht zuletzt darin, daß sie bei der Beschäftigung mit modalen Traditionen im Mittelalter, deren praktische Fähigkeiten das Hören und Singen von Intervallen, das Spiel mit Sprache und ihren Klangfarben, die Gesangstechnik und eine Verzierungskunst umfassen, kaum den Erwartungen gewachsen ist und auf die meisten ihrer Fragen keine Antwort geben kann. Dagegen halte ich die Auseinandersetzung mit Musikern aktueller Traditionen nicht nur für Musiker lehrreich und "erfrischend", sie kann auch einer historischen Forschung neue Impulse geben. Die Vorstellung, daß hierzu jede Tradition recht wäre, da es nur darum gehe, mittelalterliche Musik mit Exotismen aufzumöbeln, wird der Arbeit vieler Sänger und Instrumentalisten in romanischen Ländern sicher nicht gerecht, die sich mit regionalen Traditionen intensiv auseinandergesetzt und von erfahrenen und bedeutenden Musikern gelernt haben.

Auch die Beschäftigung mit liturgischer Musik schließt so gesehen die Beschäftigung mit regionalen Traditionen ein, wie z.B. die Renaissance der in Korsika verbreiteten Falsobordone-Praxis aus dem 18. Jahrhundert bei den Franziskanern und kleineren Bruderschaften, für die sich in den 80er und 90er Jahren unter anderen Jean-Paul Poletti und Marcel Pérès eingesetzt haben. Selbst dann, wenn diese Praxis auf das Singen von Machauts Messe de Notre-Dame aus dem 14. Jahrhundert ausgedehnt wird, wird diese Musik nicht schlechter klingen, insoweit hier die Erfahrung des Ensembles mit liturgischer Musik des 13. Jahrhundert ebenso eingeflossen ist. Die Erfahrung mit dem späteren Falsobordone-Stil aus Korsika ist sicher nicht gleichzusetzen mit der mehrstimmigen Fauxbourdon-Praxis, die seit dem Mehrstimmigkeitstraktat von Elias Salomo aus dem 13. Jahrhundert nachweisbar ist. Aber selbst die korsische Tradition bereichert die Erfahrung mit Formen modalen Musizierens.

Das Ergebnis der Forschungen, die sich mit der Rekonstruktion regionaler Konstruktionen und möglicherweise auch mit ihrer Wiederbelebung befaßt, kann gegenüber den Zentralisierungsbestrebungen der katholischen Kirche, die auf ihrem letzten Konzil wieder ein Graduale sanktioniertund als einheitliche Liturgie vorgeschrieben hat und zugleich eine Reform durch die Übersetzung der lateinischen anordnete, nur als Separatismus angesehen werden. Besonders puristische Vertreter lehnen jede Interpretation ab, die von den Prinzipien der Seméologie abweichen.

Die Idee, daß einige von dem Heiligen Geist und der richtigen Singweise erleuchtet sind, ist auch heute noch verbreitet genug, daß die Legende von Gregor fortlebt. Die Vorstellung, daß die Schreibschule von St. Gallen die "ursprüngliche" und "authentische" Singweise verkörpert, hat übrigens interessante Parallelen zu der Zisterzienserreform im 12. Jahrhundert. So suchte schon Bernard, Abt von Clairvaux, nach dem "wahren" Gregorianischen Choral in den Antiphonaria und Gradualia von Sankt Gallen - und fand ihn nicht. Keine Quelle erwies sich als "vollkommen". So nahmen die Reformer vor allem die Theorie von Guido d'Arezzo, um daraus ein Idealmodell konstruieren, und schrieben eine Reihe von Traktaten darüber, wie die "reine Überlieferung" wiederhergestellt werden könnte.

Wie alle Reformen, so zog auch die zisterziensische eine gigantische Nivellierung der überlieferten Tradition nach sich, ging dabei aber vom Gegenteil aus: von der Rückkehr zu den "wahren Ursprüngen". Cecily Sweeney stellte sogar die These auf, daß ein Organumtraktat Regulae de arte musica Guidonis Abbatis von Guido Cariloci stammt, der 1131 von Bernhard zum Abt von Cherlieu berufen wurde und zum engeren Kreis der Vertrauten gehörte, denen die Reform anvertraut war. So ist sein Traktat in die Buchrücken der Reformtraktate gegangen, nachdem dieser Kreis sich gegen die Organumpraxis entschieden hatte. Innerhalb eines so jungen Ordens waren solche brachialen Eingriffe in die Tradition möglich.

Die Intervalle im Oktoechos

Es war wohl eher die Partei der Widersacher der Zisterzienser, die in Paris dem traditionellen gallikanischen Ritus in ähnlicher Weise zuleibe rückten. Im Laufe von 100 Jahren hatte besonders Notre-Dame einen musikalischen Stil geprägt, der im 13. Jahrhundert sehr modern und sehr extravagant gewirkt haben muß. Die Polemik des Hieronymus von Mähren gegen den modus Gallicorum, die ich als Kritik an der Tradition von Notre-Dame lese, behandelt auch Aspekte der Kirchentonart: «Gaudent insuper, cum modum organicum notis ecclesiasticis admiscent, quod etiam non abjicit primus modus, necnon et de admixtione modorum duorum generum relictorum. Nam diesim enharmonicam et trihemitonium chromaticum generi diatonico associant. Semitonium loco toni et e converso commutant, in quo quidem a cunctis nationibus in cantu discordant.»

"Noch dazu gefällt ihnen, wenn sie den modus organicus mit den <modus> notae ecclesiasticae vermischen, so daß nicht nur der erste modus verworfen wird, sondern sie vermischen auch die Intervalle mit den übrigen genoi(genus enharmonicus und genus chromaticus). Denn sie verbinden die enharmonische diesis und den chromatischen trihemitonium mit dem diatonischen Tongeschlecht. Den Halbton setzen sie an die Stelle des Ganztons und umgekehrt, worin sie im Gesang mißtönen [discordant] gegenüber den übrigen Nationen."

Was wußte Hieronymus über das chromatische und das enharmonische Tongeschlecht, die beide nur in den byzantinischen echoi eine praktische Bedeutung hatten (echos heißt "Glas" und meint eine Tonart in der byzantinischen Tradition)?

In seinem neunten Kapitel De subjecto musicae zitiert Hieronymus aus Boetius' De institutione musica, wo die drei genera melorum anhand des griechischen systema teleion beschrieben werden:

«dicendum est de generibus melorum. Sunt autem tria in primo secundum Boetium, genera melorum musicae, scilicet diatonum, chroma et enharmonium. Et diatonum quidem aliquanto durius et naturalius est, chroma [29b] vero jam quasi ab illa naturali intensione discedens et in mollius decidens, enharmonium vero optime atque apte conjunctum.

Cum sint igitur V tetrachorda, ut infra patebit, scilicet hypaton, meson, synemmenon, diezeugmenon, hyperboleon, in his omnibus secundum diatonum cantilenae procedit vox per semitonium, tonum et tonum in uno tetrachordo, rursus in alio per semitonium, tonum ac tonum, ac deinceps. Ideoque vocatur diatonum, quasi quod per tonum ac tonum progrediatur.

Chroma autem, quod dicitur color, quasi jam ab hujusmodi intensione prima mutatio cantatur per semitonium, semitonium et tria semitonia. Tota enim diatesseron est consonantia duorum tonorum ac semitonii, sed non pleni. Tractum est autem hoc vocabulum, ut diceretur chroma, a superficiebus, quae cum permutantur, in alium transeunt colorem.

Enharmonium vero, quod est magis coaptatum, est quod cantatur in omnibus tetrachordis per diesim et diesim et ditonum (vel diatonum), id est per duos tonos. Diesis autem est semitonii dimidium.».

"Es ist von den melodischen Geschlechtern zu reden. Es gibt nach Boetius drei in einem, melodische Geschlechter der Musik: nämlich das diatonische, das chroma und das enharmonische. Auch wenn das diatonische bedeutend härter und natürlicher ist, so ist schon das chroma, wie wenn es von jener natürlichen Spannung abweicht und weicher ausfällt, das enharmonische dagegen verbindet beide ideal und passend.
Denn es seien fünf Tetrachorde, wie folgt: hypaton, meson, synemmenon, diezeugmenon und hyperboleon. In diesen allen durchschreitet - nach dem diatonischen <Geschlecht> - die Stimme der Melodie mit einem Halbton, einen Ganzton und einen Ganzton einen Tetrachord nach dem anderen. Und die Melodie wird daher diatonisch genannt, da sie von tonus zu tonus [Ganzton] voranschreitet.
Das chroma aber, das color <des diatonischen Geschlechts> genannt wird, wird als erste Veränderung von solcher Spannung gesungen: durch einen Halbton, einen Halbton und eine kleine Terz. Zusammen nämlich ist das der Zusammenklang einer Quarte aus zwei Ganztönen und einem Halbton, aber nicht mehr. Diese Folge heißt deshalb chroma, von den oberen <Intervallen> her, die, wenn sie sich verschieben, eine andere Farbe annehmen.
Das enharmonische, das besser zusammenpaßt, ist schließlich das <Geschlecht>, das in allen Tetrachorden durch eine diesis, eine diesis und eine große Terz, die zwei Ganztöne umfaßt, gesungen wird. Diesis ist also die Hälfte eines Halbtons."

Das chromatische und enharmonische Geschlecht bleibt daher auf die Tetrachordstruktur des griechischen systema teleion bezogen, das für sich genommen das diatonische Geschlecht verkörpert. In diesem Beispiel wird es auf A gebildet:

Die Quarte als Rahmenintervall eines Tetrachords bleibt in allen drei genera unangetastet, aber seine Aufteilung verändert sich je nach genus.

Der Musiktraktat des Hieronymus zeichnet sich durch seine ungewöhnliche Länge aus, die die anderen Traktate seiner Zeit weit übertrifft. Diese überbordende Gelehrsamkeit beruht darauf, daß er zu jedem Thema möglichst alle Meinungen versammelt, die von griechischen und lateinischen Verfassern von Musiktraktaten seit Pythagoras und Aristoxenos vertreten wurden. Diese Meinungen stehen oft nebeneinander, denn sie lassen sich meist nicht miteinander vereinigen.

So folgt die eben zitierte Darstellung Boetius, der die diesis erhält, indem er das Intervall eines semitonus in zwei Hälften teilt. Im vierzehnten Kapitel De sonorum qualitatibus et eorundem proportionibus zitiert er Guido d'Arezzo, der lima und diesis synonym zu semitonus verwendet. Im folgende Kapitel, De ipsis modorum consonantiis sive consonis modulationibus, wird dann die Meinung des Ptolemaios, Philolaos und Boetius gegenübergestellt:

«Tales autem proportiones in diatonico genere sunt duae, scilicet tonus et minus semitonium, in chromatico tres, scilicet trihemitonium, apotome et minus semitonium, in enharmonico vero sunt duae tantum, scilicet ditonus et diesis sive dimidium semitonii minoris, quae quidem, licet largo modo a Ptolemeo [47a] simplices esse dicantur, tamen esse compositas a Boetio et a Philolao probatur.»

"Solche Proportionen aber sind im diatonischen Tongeschlecht zwei: nämlich tonus und den kleineren semitonus, im chromatischen sind es drei: nämlich trihemitonium, apotome und den kleineren semitonus, doch im enharmonischen sind es wieder nur zwei: nämlich der ditonus und die diesis oder die Hälfte des kleineren semitonus. Ptolemaios hat meist von diesen Intervallen gesagt, sie seien einfach [unteilbar], doch Boetius und Philolaos haben gezeigt, daß sie zusammengesetzt sind."
 

Hieronymus' Wissen der echoi und der genauen Intervalle ist für einen Gelehrten des lateinischen Mittelalters überdurchschnittlich. Aber es ist eine Rezeption der Theorie der echoi aus den spätantiken Musiktraktaten. Ein Vergleich mit der heute überlieferten Theorie der echoi zeigt, daß sie sich in der Praxis und durch sie so entwickelt hat, daß viele Intervalle sich vereinfacht, aber gleichzeitig viele durch lokale Traditionen hinzugekommene Varianten hinzugekommen sind. Es geht mir nicht so sehr darum, diese Theorie mit den Exzerpten des Hieronymus zu vergleichen, sondern überhaupt zu begreifen, was modales Musizieren ist. Denn das Bild, das die zahlreichen theoretischen Quellen des Westens liefern, ist eher dazu geeignet, Mißverständnisse und Neuinterpretationen bei der Rezeption der älteren Traktate zu studieren, als eine Vorstellung von der Praxis zu geben. In der griechisch-orthodoxen Kirche aber wird noch aus einer lebendigen Tradition gesungen.

Ich stütze meine Darstellung der byzantinischen echoi auf eine Arbeit über die rumänische Psaltikie, die die Neumen und echoi der rumänischen wie die der griechischen Tradition sehr detailliert beschreibt. Ein Vergleich zeigt, daß die Praxis trotz vieler Nivellierungen immer noch weitaus komplexer und vielschichtiger ist, als es die Exzerpte des Hieronymus vermuten lassen:

Boetius' Auffassung, daß alle Mikrointervalle innerhalb der Oktavgattungen, d.h. im Rahmen einer festgelegten Quinte und Quarte gebildet werden, ist bis zur Entwicklung des Theoretikons der Psaltikie zutreffend. Doch allein das diatonische Tonsystem besteht im Theoretikon aus drei Intervallen und ihre Folge im Tetrachord scheint sich umgedreht zu haben: Das kleinste Intervalle steht am Ende. Die Theorie der echoi teilt die Oktave in 68 Teile, 40 bilden eine Quinte, 28 eine Quarte und die Differenz von 12 Teilen bildet den großen Ton, der als große Sekunde "rein" klingt, aber zu groß ist, um die reine Oktave sechs mal zu teilen. Der übermäßige Ton kann 13, 14, 16, 18 oder 21 Teile haben. Der große Ton wird wiederum viermal aufgeteilt in den mittleren Ton (9 Teile), den kleinen Ton (6 Teile) oder den verminderten Ton (3 Teile), der das kleinste Intervall bildet. Es gibt aber auch eine Dreiteilung, nämlich 4 und 8 Teile. Um diese Teile kann ein Ton erhöht oder erniedrigt werden. Die hierbei verwendeten Zeichen werden als Hilfs-Phthorai gebraucht - durch phthorai werden alle Intervalle dargestellt -, die über eine Neume geschrieben werden, um einen Ton zu erhöhen (diez) oder zu erniedrigen (iphes). Diese Verschiebungen der Intervalle, die eine chromatische oder diatonische Tonart verändern, wird Enharmonie genannt. Zwar werden die Tonarten und ihre Varianten weiterhin nach dem chromatischen, enharmonischen und diatonischen Tongeschlecht unterschieden, aber es hat eine Vermischung durch die Ausweitung dieser Praxis auf die anderen Tongeschlechter stattgefunden, daß die echoi des enharmonischen genos nur noch schwer von den anderen genoi zu unterscheiden sind. Das ist eine Praxis, die Hieronymus im 13. Jahrhundert bei den Galliern ahndete, als er sich über den Brauch beklagte, große gegen kleine Intervalle zu vertauschen - je nach Bewegungsrichtung der Melodie.

Die diatonische Intervallfolge in einem Tetrachord ist 12-9-7. Zwischen diesen Tetrachorden kann nochmal das Intervall des großen Tones eingeschoben sein und bezeichnet damit die Stelle zwischen dem tetrachordon meson und dem tetrachordon diezeugmenon. Wird dieser freiliegende große Ton zu einem Tetrachord genommen, entsteht eine Quintgattung.

Die chromatische Intervallfolge in einem Tetrachord ist 7-14-7 oder 7-18-3. In der ersten chromatischen Gliederung des Tetrachords liegt das trihemitonium in der Mitte und die Rahmenintervalle entsprechen dem kleinsten Intervall des diatonischen Geschlechts. Der andere chromatische Tetrachord bildet im sechsten echos (hypolydios), wenn er im sticherarischen Takt steht, mit dem freiliegenden großen Ton einen Pentachord und ergibt eine Quintgliederung, die vom systema teleion abweicht, weil sie es das System wie ein Rad durchläuft. Ein chromatischer Sonderechos ist Mustar. Er kommt aus der Folklore in Griechenland, Bulgarien und Rumänien und verbindet einen diatonischen Tetrachord mit einem chromatischen Pentachord: 18-3-16-3.

Die enharmonischen Aufteilungen des Tetrachords wären: Agem (12-13-3 oder 12-3-13). Außerdem gibt es zwei Sonderechoi, die genau wie Mustar einen Pentachord mit einem diatonischen Tetrachord kombinieren, um eine Oktavgattung zu bilden. Die Aufteilung der Pentachorde ist 21-3-3-13 (Hisar) oder 12-20-4-4 (Nisabur). Alle enharmonischen echoi sind neben dem chromatischen Mustar arabisch-turko-persischer Herkunft. In Bulgarien wird daher Mustar als "Makam Müstaar" bezeichnet.

Die Intervalle und ihre Gliederung sind nur ein Aspekt der byzantinischen Tonartenlehre, der in der Lehre von den Tropen behandelt wird. Die Stellung oder Aufteilung der Tetra- oder Pentachorde in dem Oktavausschnitt, der in der byzantinischen Praxis zu einem echos und seinem Takt gehört, wird in den lateinischen Quellen zu den Tonarten Modus genannt.

Zu den formbildenden Kräften des echos gehört auch der Takt. Er wird genau wie der echos mit einer martyrie wiedergegeben, die am Anfang und am Ende jeder Phrase eines Stückes notiert ist. Es werden vier Taktarten unterschieden:

Der papadische Takt ist sehr langsam und läßt dem Psaltis die meiste improvisatorische Freiheit, der mit einem großen Ambitus singt und zeigt, was er kann. Jede Textsilbe bekommt eine lange musikalische Phrase und es wird reich verziert. Von den festen Strukturen und Kadenzformeln eines echos wird daher oft abgewichen. Das Cherubikon und das Kinoikon gehört zu den Gesängen dieses Taktes.

Der sticherarische Takt ist langsam und wird, wie der Name sagt, bei Stichera, Slawen, Laudae und Axione verwendet. Die Gesänge werden leicht verziert, aber alle Kadenzformeln und Strukturmodelle eines echos sind für den Sänger verbindlich.

Ebenso streng ist der hirmologische Takt, der bei allen Gesängen des Troparions und der Hirmose gebraucht. Aus ihnen ergeben sich zwei syllabische Singweisen, der Troparientakt für die Troparien und die Kanon-Hirmose der Morgen- und Abendmesse und den hirmologisch-beschleunigten Takt für die Kanon-Troparien und die Katavasien.

Der rezitativische Takt ist schnell und ist nicht direkt mit den echoi über Kadenzformeln und Strukturmodelle verbunden und ist daher nicht Gegenstand der neugriechischen Psaltikie. Er wird für alle Rezitationen, Doxologien und Lesungen verwendet.

Der Takt verbindet sich nicht nur mit bestimmten Teilen des liturgischen Repertoires, er beeinflußt auch den echos.

Die martyrie (griech. Zeuge) des achten echos beginnt mit einem Zeichen, das alle plagalen echoi (V bis VIII) vorangestellt wird. Das folgende Zeichen für den achten echos besteht aus zwei Teilen: Der Sockel ist ein Tetrachordzeichen, das anzeigt, daß die Skala auf dem ersten Ton eines diatonischen Tetrachords beginnt und dort die Basis hat. Die zwei Haken mit dem Zeichen zusammen besagen, daß ein Kadenzton auf der vierten Stufe ist. Es folgt ein Intervallzeichen für eine Quarte kombiniert mit einem Zeichen für die diatonische Struktur des Tetrachords, der auf diesem Ton beginnt und der zugleich die finalis des echos ist - ebenfalls auf der vierten Stufe. Am Ende steht das Zeichen, das diesen echos dem hirmologischen oder troparischen Takt zuordnet. In diesem Fall bedeutet es, daß ausschließlich Troparien des achten echos in dieser Form gesungen werden.

Die folgende Tabelle gibt die hypomixolydische Transpositionsskala (Tropus) wieder, auf der dieser echos beruht:

Auf der rechten Seite stehen die Tonmartyrien, d.h., eine Kombination aus den griechischen Tonnamen (oben) und den Tetrachordzeichen (unten), die die Lage des Tetrachords darstellen. Auf der linken Seite befinden phthorai. Zu jedem Tonnamen gibt es eine phthora, die das Intervall zwischen zwei Tonnamen bezeichnet.

Wenn diese Oktave in das westliche Tonsystem von c' nach c" transkribiert wird, kann die Struktur dieses echos so dargestellt werden:

Dabei ist zu beachten, daß der Autor, der über das Theoretikon der rumänischen Psaltikie geschrieben hat, zwar grundsätzlich die griechischen Tonnamen so transkribiert hat, wie hier, aber sie drücken in Wirklichkeit keine absolute Tonhöhe aus und bezeichnen auch nicht die Größe der Tonschritte, den dazu sind die phthorai da. Die phthorai dieses echos bezeichnen das genos und damit die Intervalle oder Tonschritte. Die Tetrachordzeichen dagegen könnten mit der antiken Terminologie des systema teleion bezeichnet werden, nämlich in der Folge dieser Oktave, die aus zwei konjunkten Tetrachorden zusammengesetzt ist: hypate, parhypate, lichanos, hypate, parhypate, lichanos, mese, paramese, wie die Teile der beiden unteren Tetrachorde hypaton und meson genannt werden. Die Transpositionsskala dieses Oktavtropus meint auch nicht den Ambitus des echos, der einen großen Ton daruntergeht und zwei große darüber, sondern sie bezeichnet die Struktur des echos, dessen Kadenzen, Basis und Finalis, und seine Aufgliederung in Tetrachorde und das Tongeschlecht und seine Intervalle.

Zum Basiston ist zu sagen, daß auf ihn die Neumen aufgebaut werden, die ihren Tonschritt über dem Grundzeichen des ison aufbauen. Diese Kombinationen drücken zwei Töne aus, immer ausgehend von der Basis des ison, die als durchgehender Halteton gesungen wird. Sie ist meist mit der Finalis identisch, muß es aber nicht sein - wie dieser echos zeigt. Diese Form macht auch nicht den ganzen achten echos aus, sondern ist nur die Form, die zum hirmologischen Takt gehört.

Die Form des achten echos, die zum sticherarischen, hirmologischen und papadischen Takt gehört, wird skala diapason genannt. Der Oktavtropus ist genau wie im troparischen Takt diatonisch, nur daß beide Tetrachorde disjunkt sind und daher auf die Tetrachorde meson und diezeugmenon im systema bezogen werden können:

Die Kadenztöne liegen auf den Terzen und die Basis ist zugleich Finalis und Kadenzton.

Der Oktavtropus des achten echos kann enharmonisch in zwei Sonderechoi verwandelt werden: den chromatischen Mustar und den enharmonischen Nisabur. Diese enharmonische Veränderung der Tonschritte findet im unteren Quintbereich der Oktave statt und wird durch die phthora Mustar über dem Tonsymbol geschrieben, das in der Transkription g' bezeichnet. Unterhalb von g' werden folgende Tonschritte gebildet:

Die Skala Mustar und ihre Intervalle:

Bei den Martyrien auf der linken Seite, werden ab der phthora Mustar die Töne als chromatische Martyrien geschrieben, keine Tetrachordsymbole, sondern die phthora für die "Halbtöne" und das geschweifte Zeichen für die Füllschritte. Daß die Intervalle des Maqam Mustar "chromatisch" genannt werden, könnte so erklärt werden, daß ein "Halbton" in diesem System normalerweise 7 Teile hat. Statt des Tetrachords 7-14-7, wäre die Verschiebung 7+11-3-7+9-3 zu einem Pentachord. Die enharmonische Verschiebung gegenüber der skala diapason des achten echos wäre 12+6-3-7+9-3. Am Anfang steht die Martyrie des achten echos, zu dem zuerst intoniert wird. Der enharmonische Wechsel wird dann intoniert, wenn es die phthora Mustar anzeigt:

Steht über einen Schritt zu dem Tonsymbol für g' eine phthora Nisabur, werden unterhalb von g' die Intervalle der enharmonischen Skala dieser Tonart angepaßt:

Die enharmonische Verschiebung wäre 12-12+8-1+3-4, durch die die Intervalle einer Dreiteilung des großen Tones oder einer Sechsteilung des Tetrachords angepaßt werden - gegenüber der diatonischen Vierteilung des großen Tons und der Siebenteilung des Tetrachords:
Solche systemimmanenten Integrationsversuche wirken immer sehr angestrengt, sie werden aber durch die Tetrachordsymbole der Tonmartyrien nahegelegt.

In Wirklichkeit geht es um die Verpflanzung von Tonschritten in die Lehre von den echoi, die volkstümlichen oder islamischen Traditionen entlehnt wurden. Es gibt aber auch Entlehnungen innerhalb des Oktoechos. In einer hirmologischen Variante des zweiten echos wird die chromatische Tonstruktur um ein Tonsymbol hochtransponiert und nimmt die Kadenztöne, Basis und Finalis des sechsten echos an, der seine Oktave auf C bildet. Doch die chromatischen Tetrachorde des sechsten echos teilen sich in 7-18-3, der zweite echos behält aber seine Aufteilung 7-14-7 bei.

Wie in der Westkirche so werden auch in Byzanz die echoi durch Intonationsfloskeln angezeigt. Sie werden von dem Protopsalten (Vorsänger) intoniert und geben den Haltetonsängern, den Isokraten, den Einsatz. Die Formel für den achten echos lautet:

Die Zahlen zwischen den Tönen verweisen auf die Proportionen der Intervalle, die intoniert werden müssen, um den jeweiligen echos zu intonieren. Dieses Beispiel zeigt, daß die Musiker die Mikrointervalle des Oktoechos beherrschen müssen, um alleine die Intonationsformel richtig zu deuten und den intonierten echos zu erkennen. Es handelt sich hierbei nicht um ein theoretisches Konstrukt, daß mit der Praxis nichts zu tun hat, sondern das Erlernen der Mikrointervalle und seine enharmonischen Veränderungen, besonders bei Verzierungen, stehen im Mittelpunkt der musikalischen Ausbildung.

Die Aufnahmen von Musikern, deren Kunst westliche Ohren an ihre Grenzen führt, kann ein Beispiel hiervon geben. Das Prokeimenon bildet die Einleitung zu einer Epistellesung (Paulusbrief an die Epheser 4,7-13), die Panayotis Koutras in einer Weise psalmodiert, die mit enharmonischen Ornamenten nicht spart.

Prokeimenon

Epistel (Segen, Lesung Paulus an die Epheser 4,7-13)

Wer alle diese feinen Intervalle nicht hören und voneinander nicht unterscheiden kann, sollte sich nicht entmutigen lassen. Auch ein griechischer Psaltis braucht Jahre, um sie zu lernen, und die ältesten Protopsalten gelten auch deshalb als die besten, weil sie ihr Leben einer Kunst gewidmet haben, die sich besonders bei der Intonation von Mikrointervallen in den Ornamenten zeigt. Es wird gesagt, daß diese Kunst selten geworden ist, und als eine der Ursachen wird angenommen, daß die westliche Mehrstimmigkeit diese besondere musikalische Fähigkeit verdränge.

Keiner der Darstellungen steht in einem deutlichen Widerspruch zu dem, was Hieronymus von Boetius und von Ptolemaios über die genoi und ihre Intervalle referiert. Die "Halbtöne" im chromatischen Tetrachord sind eine korrekte Bezeichnung für die phthora in den Tonmartyrien der chromatischen echoi. Und auch die Bezeichnung diesis für die Erhöhung um einen Viertelton ist korrekt, denn sie stimmt überein mit der beweglichen Enharmonik und bezieht sich daher auf die Hilfsphthora diez für die Erhöhung um das kleinste Intervall von 3 Teilen.

Das Theoretikon zeigt nur, welches komplexe System in der Praxis hinter diesen oberflächlichen, aber theoretisch fundierten Beschreibungen steht. Es geht in der rumänischen Überlieferung auf Hieromonachus Macarie zurück, der das Theoretikon 1823 in Wien herausgab - in rumänischer Sprache und in kyrillischer Schrift. Er paßte die griechischen Gesänge in der "hagiopolitanisch-kukuzelisch-chrysantische Tradition" der rumänischen Sprache an. Damit sind drei wichtige Stationen der byzantinischen Tradition gemeint: die Reform des Notationssystems durch Chrysanthos, Churmuzios und Grigorios Protopsaltes, die zur selben Zeit wie Macarie das heute verbindliche Schriftsystem schufen. Ioannis Koukouzelis wirkte um 1300 als der große Maistor des hochmelismatischen Stiles, der sich vom 13. bis zum 15. Jahrhundert entwickelt hatte - er könnte der Leonin des Ostens genannt werden. Schließlich der Hagiopolites-Traktat, der westlichen Wissenschaftlern nur über eine Quelle aus der Wende zum 15. Jahrhundert überliefert ist und der für das System des Oktoechos steht, das Ioannis von Damaskus im 7./8. Jahrhundert geschaffen haben soll. Das macht ihn zum Gregor der byzantinischen Kirchenmusikliteratur, dessen Ruf Legende ist, über dessen Theorie aber wenig bekannt ist. Aber das sind wieder Ursprungsmythen. Was kein Mythos ist, ist die genaue schriftliche Codierung der Intervalle, die der Berufung auf Johannes von Damaskus eine praktische Bedeutung gibt. Ob diese Intervalle wirklich im 7. Jahrhundert bereits festgeschrieben wurden, kann bezweifelt werden, aber diese Festschreibung hat in jedem Fall den Zweck, sie vor einer Veränderung durch volkstümliche Modi und Intonationsweisen zu bewahren. Das ändert nichts daran, daß die orthodoxe Kirchenmusik in jeder Region ihre eigenen Formen angenommen hat, doch neben diesen Formen gibt es auch das Bestreben einzelner Mönche, nicht nur die Sprache des eigenen Ritus, sondern auch griechisch zu lernen, und nach Athos zu gehen, um diese Tradition zu lernen. Eine solche Schwelle zur Ausprägung einer eigenen rumänischen Tradition ist auch das Werk Macaries, das zeigt, wie die neue Tradition aus der alten hervorgegangen ist.

Die Praxis der heute erhaltenen byzantinischen Tradition habe ich deshalb so ausführlich geschildert, weil sie im Vergleich zu den theoretischen Quellen des 13. Jahrhunderts eine Lücke füllt, die wohl auch in der Theorie der westlichen Kirchenmusik klafft, zu der es keine überlieferte Praxis mehr gibt.

Die Intervalle in den 8 Kirchentonarten

Gegenüber der griechischen Theorie hat der Westen in der freien Kunst Musica niemals eine eigenständige Theorie der Intervalle entwickelt. Der Gelehrtendiskurs dieser Disziplin ist sehr auf die Antike ausgerichtet, doch liegt seine Eigenständigkeit eher in einer Reihe von Mißverständnissen, die zu eigenwilligen Interpretationen angeregt haben. Diese Mißverständnisse beruhen nicht zuletzt darauf, daß das lateinische Mittelalter nur zu einem winzigen Bruchteil der antiken Schriften Zugang hatte, die allein im 9. Jahrhundert in der Bibliothek von Bagdad in arabische und persische Sprachen übersetzt worden sind. Daneben gab es natürlich viele regionale Liturgien - vor allem in Italien, die von Byzanz stark beeinflußt waren.

Die gleichmütige, aber ausführliche Rezeption griechischer Traktate bei Hieronymus sprechen für eine hohe Gelehrsamkeit, aber nicht für den Bezug zu einer lange bestehenden Praxis. Ich habe das an der mehrfach verschiedenen Beschreibungen des enharmonischen Intervall diesis gezeigt, die Hieronymus zusammengetragen hat.

Sie zeigen, was sich hinter diesen Systemen für eine Praxis verbirgt. Im 11. Jahrhundert entwickelte Guido von Arezzo das diatonische Tonsystem aus der Proportionenlehre des Pythagoras, so, wie er es von Boetius übernommen hat - in Micrologus taucht der Name Pythagoras nur ein einziges Mal auf: am Ende.

So errichtet Guido eine Quintreihe über F und kehrt diese Reihe so zurück, daß neben der diatonischen Skala drei Oktaven über C, D und E entstehen. Die hier entworfene Grafik beruht auf «Caput VIII. De aliis affinitatibus vocum, et b. et [sqb]»:

Das Problem der pythagoräischen Stimmung liegt in der Trennung zwischen auf- und absteigender Quintenreihe. Die drei Oktaven sind leicht zueinander erhöht. Wechselt der Sänger im Gleichmaß zwischen beiden Bewegungen gleicht sich die Verschiebung aus. Der direkte Weg von F fa nach b mi ist genau deshalb der dissonanteste und gespannteste. Daher hat Guido beide in unterschiedlichen Hexachorden voneinander getrennt. Im Gegensatz zum tritonus hat der tonus eine vermittelnde, diplomatische Funktion ("diatonisch"), die von unten ausholt. Ihr entspricht die Auskleidung des Sekundschrittes. Zwei aufsteigende Quinten hintereinander werden ebenfalls vermieden, besser ist die Unterquarte und ein Oktavaufschwung, denn die Oktave darf in beide Richtungen genommen werden.

Diese Art Syntax der Intervalle, Guido nennt sie affinitates vocum, bestimmt sowohl die einstimmige wie die mehrstimmige Aufführungspraxis cum organo. Sie zieht sich wie ein roter Faden durch alle hier behandelten Organumtraktate, von Micrologus zu den aptae copulationes vocum im Mailänder Traktat, bis zu dem Problem der Töne auf den Fingerspitzen im ersten Teil des Vatikanischen Organumtraktats - bei den acutae, die uns in ihrer Höhe belästigen, so daß es ratsam ist, das Organum unter den Cantus zu führen. Auch für den zweiten Teil De regulis organi hat das eine große Bedeutung. Denn alle Arten, durch den Tonraum zu gehen, lassen sich auf das diatonische Prinzip zurückführen: Die (disjunkte, diskordante) Bewegung verkörpert sich in Formeln, die den Quart- oder Quintrahmen ausfüllen und sekundschrittig herabsteigen, oder der direkte Weg in Sekunden (z.B. currentes). Dann gibt es das statische (konjunkte, konkordante) Anhalten der Bewegung auf irgendeiner Stufe der Tonart: der Halteton an sich, alle Techniken des "Haltens" im Melisma des Organums und der Aufschwung vom Einklang über die Quinte (plica longa) als cauda(Schlußmelisma) am Ende einer distinctio, möglicherweise um die nächste distinctio auf der gleichen Stufe zu eröffnen.

Diese besondere Lösung eines diatonischen Problems ist der produktive Teil einer Neuinterpretation, die die antike Musiktheorie und ihr systema teleion umgeformt hat.

Der byzantinische Umgang mit der diatonischen Spannung ist, wie die neugriechische Psaltikie gezeigt hat, ganz anders:

Wäre der Modus im Sinne der antiken Theorie eine Oktavgattung aus Quinte und Quarte, deren Tropus auf C transponiert ist und damit auf der dynamischen Stufe liegt, die laut Martyrie, die die Tetrachordstruktur bezeichnet, etwa der hypate meson entspräche. Die Skala hat nach der neugriechischen Einteilung und in dieser Transposition einen Tetrachord auf C und einen auf G. Die antike Theorie und ihr Tonsystem hat in der neugriechischen Psaltikie keine praktische Bedeutung mehr, sehr wohl aber ihre strukturellen Funktionen: Die Gliederung des Tonraums in Tetrachorde, die allerdings durch Pentachorde und triphone Gliederungen erweitert wurde, die Oktav-, Quart- und Quintgattungen, denn sie bilden eine Rahmenstruktur mit stabilen Stufen, die die bevorzugten Orte für die basis (Halteton) und finalis einer Tonart sind. Der Psaltis kann daher über den Halteton (ison) der Isokraten die Quarte und Quinte nach den harmonischen Obertönen bilden, die Intervalle dazwischen diatonisch oder chromatisch intonieren oder sie enharmonisch verschieben. Zur Enharmonik heißt es in der Arbeit zum Theoretikon der rumänischen Psaltikie, sie erfolge gemäß dem Gesetz der Anziehung zu bestimmten Stufen, worunter nur der Rahmenintervalle der Tetrachorde gemeint sein können. Die antiken Tropen haben insofern noch ein aktuelle Bedeutung, als die Wahl der Tonstufe eine rein praktische Bedeutung hat, die ausschließlich den Stimmumfang der Sänger betrifft. Wichtig ist nur, daß von der Stufe der Intonationsformel aus alle Intervalle korrekt intoniert werden. Jeder Sänger muß genau wissen, wie die Skala gegliedert ist, sonst weiß er gar nicht, wie er intonieren soll.

Ein Vergleich der Intervalle zwischen Guido und der Psaltikie ergibt: Das diatonische Tongeschlecht ist in den neugriechischen Intervallproportionen weicher.

Wenn ich annehme, daß die Proportionen im 12. Jahrhundert der heute verbreiteten Rekonstruktion der pythagoräischen Stimmung entspricht, was sehr gewagt ist, dann müßte die Oktave in 200 Teile geteilt werden, wobei die Quinte 117, die Quarte 83 Teile, der tonus 34 und der semitonus 15 hätte. Ich habe bei dieser Aufteilung einfach 1200 cents durch 6 dividiert und erhalte 200 als den kleinsten gemeinsamen Nenner, um die Proportionen des pythagoräischen Systems unverfälscht wiedergeben zu können. Es ist nicht klar, was der Begriff diapason bei Guido alles bedeutet. In der byzantinischen Theorie heißt, wie gezeigt, eine Skala des achten echos «diapason»,die im diatonischen Tonsystem des Westens eine Oktave auf C bildet. Ihre Aufteilung in Tetrachorden habe ich bereits beschrieben.

Der Rahmen des Modus (Oktavgattung) C-G-c ergäbe die apta copulatio vocum, wie Guido es nennen würde, der für diesen Tropus die beiden Hexachorde benötigt, die er "natürlich" und "hart" nennt: Die Quarte G-c (83 Teile) und Quinte C-G (117 Teile) entsprächen in den Kommata der Psaltikie 28 und 40, der tonus (34 Teile), als Differenz zwischen Quarte und Quinte, hätte 12 . Die neugriechischen Proportionen innerhalb der diatonischen Tetrachorde (12+9+7/68) vergrößern den sehr kleinen pythagoräischen Halbton (15/200). Der Halbton der Psaltikie teilt im genos chromaticos die Quarte in vier genau gleiche Teile, nicht in fünf wie im Westen. Deshalb liegt das Intervall zwischen zweiten und dritten Ton genau zwischen tonus und semitonus.

Dazu paßt die Beschreibung des Hieronymus von Mähren, in der er das diatonische Geschlecht als hart, das chromatische als weich (nach der Psaltikie: 7+14+7) und die enharmonischen Skalen als Mittler zwischen beiden betrachtet werden. Letztere sind darüber hinaus auch als Mittler für viele andere volkstümliche Tonarten geworden, die in das System des Oktoechos integriert werden.

Damit komme ich zurück zu Hieronymus' Vorwurf gegen die Gallier, sie hätten die genoi vermischt - z.B., indem sie in chromatischen Tonarten den Halb- und den Ganzton gegeneinander vertauschen. Tatsächlich ist in der byzantinischen Praxis eine Vertauschung von Halb- und Ganzton im ersten diatonischen echos überliefert, der, wird seine Skala auf D transponiert, die Terz zwischen a und c, der zweite Tetrachord liegt wiederum auf G, in (9+7) oder (7+9) unterteilen kann, d.h. die griechische Tonstufe zo (=b) ist beweglich und wird enharmonisch verschoben. Ob Hieronymus Vorwurf der Vermischung auf eigene Kenntnisse der byzantinischen Praxis seiner Zeit zurückgreift, ist mir nicht bekannt. Er zeigt aber, daß er die Gepflogenheiten der "gallikanischen" Tradition mit Kategorien der byzantinischen Theorie ziemlich detailliert beschreiben konnte, und daß sein Standpunkt war, in diatonischen Tonarten wird der Wechsel zwischen b mi und b fa nicht enharmonisch gemacht.

Die Frage nach einem byzantinischen Einfluß ist schwer zu beantworten, wo fast nichts über die Praxis bekannt ist. Aber, um vorsichtig zu bleiben, das sind so die kleinen Hinweise, die Quellen wie der Musiktraktat des Hieronymus geben können, daß regionale Traditionen nicht unbedingt den puristischen Vorstellungen vom "Gregorianischen Choral" entsprechen, die es schon im 12. Jahrhundert gab. Das Beispiel der Zisterzienser habe ich bereits herangezogen. Daß es ähnliche Auffassungen unter dem noch jüngeren Orden der Dominikaner gab, halte ich für mehr als wahrscheinlich.

Eine Orientierung dieses Purismus an Guido von Arezzo bot sich dabei an. Eigentlich ist seine Darstellung mit der Requisite Monochord zweischneidig, denn was ihn zum zweiten Pythagoras machte, hätte in den Guido-Miniaturen besser ausgedrückt werden können, wenn er dort das Monochord auf den Misthaufen geworfen hätte.

In seinem veröffentlichten Brief an Bruder Michael schrieb er, daß viele sich mit dem Monochord abplagen, ja sogar französische, wenn nicht gar griechische Lehrer aufsuchen, um die rechten Intervalle zu lernen, dabei können sie musikalisch noch nicht einmal das, was hier - unter Guidos Anleitung - die Knaben lernen. Danach erläutert er die Solmisation, zu der nur nötig ist, wenigstens den einfachen Hymnus Ut queant laxis richtig intonieren zu können. Den Monochord braucht er nicht, sondern nur eine Hand, über die das Gedächtnis mit den Intervallen des ganzen Tonsystems beschrieben wird.

Modale Formen der Mehrstimmigkeit

Es besteht kein Zweifel darüber, daß Guidos Theorie, gegen deren Verbreitung sich viele Kantoren in den zwanziger Jahren des 11. Jahrhunderts gewehrt haben, nirgendwo so nachhaltig rezipiert wurde, wie in den Organumtraktaten. Der Mailänder Traktat, obwohl er mit einer Polemik gegen Guido anfängt, ist sogar das extremste Beispiel, weil es im Organum fast nur Intervalle der optimalen Tonverbindung, der Teilung der reinen Oktave in eine reine Quinte und in eine reine Quarte zuläßt. Sie ist die Keimzelle des pythagoräischen Stimmungssystems, denn sie zeigt, daß die Quarte abwärts von der oberen Oktave des unteren Tones zu dem gleichen Klang führt.

Die Gleichförmigkeit des westlichen diatonischen Systems, das mit nur zwei diatonischen Intervallen auskommt, schränkt den Gebrauch reiner Quarten und Quinten in keiner Weise ein. Sie können auf jeder Stufe der Skala gebildet werden und Guidos Hexachorde dienen dazu, daß der Sänger des Organums immer das richtige b wählt. Die einzige Hürde war die Quinte über den Cantus, wenn der Choral ein b mi vorsieht. Hierüber mußte auf die Quarte oder auf die Quinte unter dem Cantus ausgewichen werden. Gegenüber der Musica enchiriadis, deren Tonsystem in den unteren und oberen Tetrachorden leiterfremde Töne hineinschmuggelte, integrierte Guido das Parallelorganum in das Tonsystem. Der erste Teil des Vatikanischen Organumtraktats führte schließlich wieder f mi ein, indem er einen vierten Hexachord auf D errichtete.

Das diatonische System der Psaltikie, das schon drei Intervalle kennt, schränkt diese Freiheit zunächst nur etwas ein, um so mehr aber, wenn der Psaltis zu enharmonischen oder zu chromatischen Intonationen wechselt. Zwar können in derselben Tonart Haltetöne auf mehreren Stufen gleichzeitig erklingen, aber die Basis bleibt immer im Vordergrund. Die chromatischen und enharmonischen Formen können einer Modulation und einem Halteton ein besonderes Gewicht geben - von dieser Spannung lebt die byzantinische Musik. Ihre differenzierte Intervallstruktur macht nicht jeden Ton geeignet für eine basis, eine finalis oder auch nur Kadenz.

Die Form des Haltetonorganums scheint die Gleichförmigkeit des pythagoräischen Tonsystems zu verkörpern. Gleichzeitig, so schreibt Hieronymus, greifen sie zu byzantinischen Intonationstechniken, um mit dem Gewicht eines Haltetons zu spielen.

Marcel Pérès, dessen Forschungsgruppe sich sehr für den Musiktraktat des Hieronymus interessierte und derzeit an einer französischen Übersetzung arbeitete, nutzte die Zusammenarbeit mit Lykourgos Angelopoulos, um diese Formen im Organum duplum auszuprobieren.

Marcel Pérès, Ensemble Organum: Organum über Vers Graduale Benedicta et venerabilis

Es ist aber falsch, zu denken, daß die Hierarchie oder Komplexität der Intervalle mehrstimmige Formen verhindert hätte und daß diese Musikkultur für die Tradition des  Organums nichts beizutragen hat. Genau wie im Westen stehen diese strengen modalen einstimmigen Formen in einem gewissen Widerspruch zur mehrstimmigen Praxis, doch gibt es auch Zusammenhänge. Die meisten dieser Kompositionen entstanden im 19. Jahrhundert und ihre Eigenart liegt in einer Neigung zu parallelen Quart-Sekund-Akkorden. Die Akkordstrukturen scheinen den Rahmen der Tetrachordgliederung zu nutzen.

Das erste Beispiel ist ein dreistimmiges Stichirion über einen Psalm, der zur Vigilie des Heiligen Abends gesungen wird. Diese Aufnahme ist vom Moskauer "Ensemble Sirin":

Stichirion in "demestvenny"-Fassung

Der erste dissonante Schluß mag für westliche Ohren etwas ungewöhnlich klingen. Aber auch die gewöhnen sich schnell und neue Arten von dissonanten Auflösungen werden als Auflösungen empfunden.

Die mehrstimmige Musik über ein georgisch-orthodoxes Troparion für Neujahr aus der Guria-Region in Georgien hat zumindest diese Akkordstrukturen mit dieser Form russisch-orthodoxer Musik gemeinsam und steht im ersten echos.

Troparion zu Ehren des Basilios von Kapadozien (Neujahrsfest)

Es gibt aber auch Verbindungen zwischen volkstümlicher und liturgischer Musik und viele Festtage des georgisch-orthodoxen Kalenders, in denen auch außerkirchliche Traditionen und vorchristliche Rituale Eingang gefunden haben. An diesen Tagen ziehen Sänger durch die Straßen und hängen einen Korb auf, daß er mit bemalten Eiern gefüllt wird. Zu dem Ostergesang T'chona aus der Kaspischen Region gehört eine Haltetontechnik, bei der zwei Sänger zu einem Vorsänger unterschiedliche Haltetöne singen. Die hier von Ensemble Georgika dargebotene Fassung beruht auf einer Feldaufnahme aus den dreißiger Jahren:

T'chona aus Kartli

Im Vergleich hierzu eine Feldaufnahme vom 8.9.1967 mit einem T'chona, das in einem Dorf in Kvemo djala aufgenommen wurde:

T'chona aus Kartli (Kvemo Djala)

Jede Region in Georgien hat eigene Versionen eines Alilo (Alleluia - Weihnachtshymne). Auch hier ziehen die Sänger auf die Straße, um Wünsche für ein neues Jahr zu singen.

Alilo aus Letjkhoumi (Tsageri)

Das Alilo aus Rat'cha, das Ensemble Georgika singt, beruht auf der Version eines örtlichen Ensembles (Sagalobeli) von 1994:

Alilo aus Rat'cha

In Georgien wird die Technik, wenn zwei Sänger zu einem Halteton im Dialog singen, Diskant genannt.

Diese Beispiele zeigen, wie vielschichtig die Verbindungen zwischen liturgischen und dörflichen Taditionen sind. Das wird auch so im Mittelalter gewesen sein. Aber was wissen wir davon?