Um die Musikhandschriften des Mittelalters und der Renaissance zu verstehen, brauchen wir heute genauere Kenntnisse darüber, was das Metier eines ausgebildeten Sängers war, der in einer Stadtkirche oder in einer Abtei gewirkt hat. Die Wechsel, die dieses Metier im Laufe der Zeit durchlebte, hängen davon ab, wie sich der schriftliche und mündliche Anteil in der Überlieferung verlagert haben – oder besser: wie der Gebrauch von musikalischer Notation die mündliche Überlieferung verändert hat. Da wir heute nur wenig schriftlose Formen der Überlieferung kennen, wird es stets notwendig bleiben, von Sängern der bestehenden Traditionen und ihren Techniken zu lernen, Gesänge zu memorieren oder aus dem Gedächtnis heraus umzuschaffen. Das Wissen und die Erfahrung möchte ich hier die „Gesangskunst“ nennen. Philologische Studien von Musikhandschriften haben ohne dieses Wissen keine Grundlage.
Die drei Stufen der Gesangskunst, in die ich hier einführen möchte und die dieser Arbeit insgesamt zugrunde liegen, könnten so unterschieden werden: (1) die Grundlagen dieses Wissens, die innerhalb einer regionalen Tradition als Raster der Erinnerung die Wahrnehmung des Gesangs bestimmen, (2) die traditionelle Art, einen bestimmten Gesang zu memorieren und zu überliefern, (3) die mehr oder weniger aufwendige Form, einen überlieferten Gesang während der Aufführung zu gestalten.
Die erste Stufe vermittelt ein Grundwissen über die Formeln der Tonarten und zwar differenziert nach den Gattungen der Gesänge. Über die Kadenzformeln und ihre Kadenztöne, die je nach Gesangsgattung verschieden sind, werden unter Sängern formale Übergänge kommuniziert. Die zweite Stufe könnte die der Überlieferung genannt werden und ist mit der Gedächtniskunst und ihren Mnemotechniken verbunden, wobei in der neueren Gedächtnisforschung zwischen orthodoxen und zwischen orthopraktischen Funktionen der Gedächtniskunst unterschieden wird.[1] Vereinfacht gesagt garantieren orthodoxe Funktionen der Gedächtniskunst die präzise Überlieferung, während die orthopraktischen Funktionen einen Freiraum für die Praxis und Kreativität herausragender Sänger öffnen, durch den sich erst eine Tradition erneuern kann. Beide Funktionen verkörpern unterschiedliche elementare Aspekte einer Tradition und ermöglichen auf unterschiedliche, zum Teil auch widersprüchliche Art den Fortbestand einer Tradition.
In diesem Sinne ist die dritte Stufe das, was tatsächlich im rituellen Rahmen des Gottesdienstes gesungen wird. Bei Sängern, die als Solisten ausgebildet werden, ergeben sich für festliche Gottesdienste sogar besondere Formen der Ausschmückung, mit denen Gesänge aufgeführt werden. Diese Formen bewegen sich musikalisch zwischen Komposition und Improvisation, wie viele es heute nennen würden, und es ist anzunehmen, daß sie schon lange existiert haben, bevor sie verschriftlicht wurden und damit in den Musikhandschriften erscheinen.
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M. Carruthers: The Craft of Thought, Melbourne 1998. |