(3) Aufführung: die sängerische Ausarbeitung der überlieferten Gesänge

Während die Frage nach Funktion und Gebrauch von Notation in den Handschriften eine Frage der Überlieferung und der zweiten Stufe ist, betrifft die dritte Stufe die Musik, wie sie im rituellen Rahmen des Gottesdienstes tatsächlich erklingt. Sie wird daher weniger in liturgischen Handschriften faßbar, sondern ist eher aus historischen Berichten von Besuchern und Pilgern zu rekonstruieren, in denen die Handlungen einer Liturgie und der Charakter der Gesänge und insbesondere die charakteristische Art, sie zu singen, beschrieben werden. Es ist nicht erstaunlich, daß diese Beschreibungen häufig die gängigen Vorstellungen weit übertreffen, die aus dem Studium liturgischer und musiktheoretischer Handschriften gewonnen werden. Wer sich wirklich dafür interessiert, was in den Gottesdiensten erklang – im Unterschied zu dem, was im Gottesdienst erklingen sollte –, findet in diesen subjektiven und oft polemischen Beschreibungen weitaus zuverlässigere Quellen.

Ich möchte in diesem Zusammenhang von einer Gedächtniskunst sprechen, die nicht, wie es zuerst scheinen mag, nur zum präzisen Erinnern eines traditionellen Gesanges verwendet wird, welche in der zweiten Stufe so wichtig ist. Vielmehr möchte ich von einer anderen orthopraktischen Funktion der Gedächtniskunst sprechen: Neues zu schaffen, indem sie einem Sänger erlaubt, die eigene Person und ihre Erfahrungen in die Tradition einzubringen. Der Sänger sucht den Schatz in sich selbst, wäre die kürzeste Formel, die mir zum Begriff Orthopraxis einfällt und die auch Formen der mystischen Kontemplation gerecht wird, die mit dem Gesang verbunden sein können. Ich spreche auch von der Fähigkeit, eine Tradition wie ein Phönix aus der Asche wieder auferstehen zu lassen. Das Bild des Feuers ist in diesem Zusammenhang durchaus gebräuchlich.

Die orthodoxen Formen durch eine für mehrere Sänger verbindliche Musik sind dabei durchaus präsent, denn auch auf der Ebene der Aufführung bestehen die praktischen Probleme, mehrere Sänger eines Chores koordinieren zu müssen – oder sie eben in einer ungewöhnlichen Art zu koordinieren, wie ein an äthiopischen Kirchengesang interessierter Ethnologe erfahren kann.

Welche Mittel stehen dagegen solistischen Sängern zu Verfügung, wenn sie einen traditionellen Gesang und seinen Text interpretieren?

Wird Gesang als Kommunikation verstanden, und sei es auch eine Kommunikation mit „höheren Mächten“ (z.B. wo Gesang mit Formen der Theurgie verbunden wird), geht es vor allem darum, daß ein Sänger einen Text übermitteln muß.[26] Durch diese Kommunikation sind keinesfalls Formen ausgeschlossen, wie oft behauptet wird, in der die Bedeutung des Textes hinter seiner phonetisch-klanglichen Gestalt verschwindet. Vielmehr ist dies ein poetisches Verfahren, bei dem die musikalische Form der Dichtung mit der phonetischen Form der Musik eine direkte Verbindung eingeht.[27] Für einen solistischen Sänger geht es dabei um die gestalterische Entscheidung, welches Wort oder welche Silbe er durch ein Melisma hervorhebt oder ob er den Text gleichmäßig melismatisch behandelt.

Ein anderer Fall ist das Verlassen des Textes einschließlich seiner phonetischen Seite. Bereits aus dem 4. Jahrhundert, also lange vor der Entstehung der Neumennotation, berichtet z.B. Augustinus über eine Form eines Jubel-Gesanges (lat. canere in iubilatione), bei der Sänger „mit den Worten der Gesänge“ beginnen, sich dann aber „von den Silben der Wörter abwenden“, um sich in den „Klang der Iubilatio “ zu begeben.[28] Einschübe dieser Art, wo die gesungenen Silben offensichtlich nicht mehr auf den Text zurückzuführen sind, finden sich erst tausend Jahre später in den notierten Kratimata oder Teretismoi der Maistores im Konstantinopel der Palaiologen-Dynastie. Dieser Vergleich beweist, daß bestimmte improvisierte Formen des Gesanges bestehen können, ohne daß sie jemals in liturgischen Handschriften auch nur erwähnt werden. Daß die hier verwendeten Silben mit den Wörtern des Textes nicht übereinstimmen, heißt aber keineswegs, daß eine Iubilatio von der Bedeutung des überlieferten Gesangstextes und von seinem Platz innerhalb der Liturgie losgelöst war. Allein Augustinus’ Hinweis auf den Affekt einer „so großen Freude“, die sich nicht in Worten ausdrücken lasse, macht bereits deutlich, daß die Worte der Gesänge auf eine solche Freude zusteuern müssen und daß es sich hierbei um eine liturgisches Fest handelt, das ein freudiges Ereignis feiert – und zwar so ausgedehnt, daß offenbar ein solistischer Sänger den Raum zu füllen hatte, indem er diese Freude durch einen freien Gesang vermittelte, den Augustinus von erntenden Landarbeitern her kannte. Also selbst dann, wenn ein Sänger sich von den Silben des Gesangstextes löst, gestaltet er nicht nur einen Gesang, sondern interpretiert zugleich den Text.

Augustinus’ Beschreibung ist nicht zu verwechseln mit den romantischen Ideen von Tieck oder Hoffmann, die die Sprache der Worte zugunsten einer wortlosen Sprache der Musik abwerten, vielmehr stehen hinter den Worten Ideen, die er mit eigenen spirituellen Erfahrungen verbinden kann. Seine Orthopraxis als Hörer ist eine Kontemplation, die des Sängers mag eine Improvisation sein, die nicht nur in der Kirche gehört werden kann. Der Zusammenhang, den Augustinus in seiner Begeisterung nahelegt, sind aber Erfahrungen von Trance und Ekstase. Sein Mißtrauen gegenüber der Musik wendet sich daher nicht gegen die Musik an sich, sondern kommt aus der Erkenntnis, daß auch ein Landarbeiter, der nicht in die Gedächtniskunst und in ihre Formen der mystischen Kontemplation eingeweiht wurde, seine Kontemplation beeinflussen kann.

Augustinus’ musikalische Erlebnisse scheinen vor allem von der Mailänder Tradition beeinflußt zu sein, die er zur Zeit des berühmten Bischofs Ambrosius kennenlernte, dem heute zahlreiche Hymnen zugeschrieben werden. Die Eigenarten dieser musikalischen Tradition, wozu auch melodische Einschübe (melodiae) gehören, werden erst in Musikhandschriften aus dem späten 11. Jahrhundert greifbar. Augustinus orientierte sich klar an einem Ideal, demzufolge eine Orthopraxis zulässig sei, die der orthodoxen Überlieferung des Gesanges Schritt für Schritt folge.

Neben diesen rein musikalischen Formen gibt es noch andere, in denen musikalische und dichterische poiesis ineinandergreifen.[29] Ein Sänger kann als Solist den Text verändern, indem er Wörter oder Textpassagen wiederholt – oder ausgehend von einzelnen Worten des überlieferten Gesanges neuen Text einfügt, der dieses Wort ausdeutet. Zu den homiletischen Formen, bei denen es zu regelrechten Auslegungen des traditionellen Textes kommt, gehören Tropierungen wie Tropus und Sequenz. Auf der zweiten Stufe wurden diese Formen in ihrer orthodoxen Funktion beschrieben, einen Gesang Note für Note zu memorieren. Wird dagegen diese Form nicht nur genutzt, um Gesänge zu memorieren, sondern ist die hier angewandte Dichtkunst auch in der Aufführung zu hören, kann auf dieser Ebene von ihrer orthopraktischen Funktion gesprochen werden, die darin besteht, den überlieferten Text zu interpretieren, wodurch auch die Anlässe eingeschränkt werden können, einen Gesang aufzuführen (z.B. wenn Ordinarium-Gesänge aus dem Kyriale mit marianischen Texten tropiert werden, werden sie in dieser Form nur zu Marienfesten erklingen). Orthopraktische und orthodoxe Formen der Gedächtniskunst sind in der bisherigen Forschung zu Tropus und Sequenz noch nicht so klar unterschieden worden, obwohl eine grundsätzliche Unterscheidung in vielen Debatten hilfreich gewesen wäre.

Zwei Formen musikalischer Orthopraxis: Organum und Kalophōnia

Aufgrund der schriftlichen Überlieferung lassen sich wiederum zwei grundsätzliche Formen aus der West- und der Ostkirche vergleichen, die sich auch auf der Vermittlung zwischen zweiter und der dritter Stufe deutlich unterscheiden:

Die westkirchliche Form wäre das Organum in seiner melismatischen Form, bei der die Organumstimme über die ausgehaltenen Cantus-Töne des Tenors improvisiert oder komponiert wird.

Die ostkirchliche dagegen wäre die meist als Kalophōnia (gr. „Schönklang“) bezeichnete Aufführungsart, bei der dem Modell eines überlieferten Gesanges in einer besonders melismatischen Art „Schritt für Schritt“ gefolgt wird, ähnlich wie das Organum Schritt für Schritt „dem Cantus folgen muß“.[30]

Die Methode der Melodiebildung (Thesis des Melos) weicht in kalophonen Gesängen von der klassischen Methode der Gesangsgattung ab und erfordert z.B. bei stichirarischen Gesängen entgegen der Konvention eine solistische Aufführung durch einen besonders geschulten Sänger. In der Form des Anagrammatismos, einer Form des Stichīron kalophōnikon, bei der auch der Text eines traditionellen Stichīron durch Wiederholungen und eingefügten Wörtern verändert wird, werden sogar musikalische und dichterische Formen der Orthopraxis kombiniert.

Der Grund, daß diese orthopraktischen Formen der Gedächtniskunst, die auf der Grundlage der traditionellen Überlieferung (zweite Stufe) etwas Neues schaffen, auf der dritten Stufe der Aufführung zu nennen sind, beruht auf der Feststellung, daß diese Formen lange vor ihrer Verschriftlichung existiert haben, wofür die ambrosianischen melodiae, wenn sie auf Augustinus’ iubilatio bezogen werden, ein extremes Beispiel sind.

Auf der Stufe der Aufführung ergibt sich zunächst die praktische Frage, wann sich innerhalb der liturgischen Organisation der Zeit Gelegenheiten für solistische Aufführungsformen boten. Bei der Aufführungsform Organum läßt sich über viele Quellen nachweisen, daß sie nur zu großen Festen üblich war und nur die solistischen Teile von melismatischen Gesangsgattungen wie Graduale, Alleluia in der Messe oder das letzte Responsorium prolixum einer Nokturn betrifft. Die ebenfalls sehr melismatische Meßgattung Offertorium blieb offenbar eher einer einstimmigen Gesangskunst vorbehalten, während Organa bevorzugt im Zusammenhang mit der Lesung von Briefen und Evangelien erklangen. Eine besondere Rolle kommt im Rahmen des cluniazensischen Klosterverbandes und seiner Neugestaltung der Liturgie dem Entlassungsgesang «Benedicamus domino» zu, dessen Repertoire im 11. Jahrhundert durch eine Reihe von Neukompositionen erweitert wurde.[31] Die neueren Gesänge sind im 12. Jahrhundert bevorzugter Gegenstand für kompositorische und poetische Experimente im aquitanischen Raum. Innerhalb des Jahreszyklus werden Organa bevorzugt zu bedeutenden liturgischen Festen gesungen – besonders zu Weihnachten, Ostern, Pfingsten und zu Patronatsfesten. Die Herkunft einiger Handschriften mit Organum-Sammlungen wird vor allem kalendarisch bestimmt, indem davon ausgegangen wird, daß die cum organo vorgetragenen Gesänge in der liturgischen Ordnung des Klosters oder der Stadtkirche zu bedeutenden Festen gesungen wurden.

Die Entwicklung zu einer kalophonen Gesangskunst steht im Zusammenhang mit der Rückkehr des byzantinischen Hofes und des Patriarchats aus dem Exil von Nikaia 1261. Unter der Herrschaft der Palaiologen-Dynastie, die 1453 mit der türkischen Eroberung von Konstantinopel endete, entwickelte sich ein neuer Gesangsstil, der ganze Gattungen systematisch umgestaltete.[32] In der Nachfolge von Iōannīs Glykys (spätes 13. Jahrhundert) wird vor allem die kalophone Methode von Iōannīs Koukouzelīs betont, mit der er über die traditionellen Gesänge des Stichīrarion einen Melos bildet, der in seiner melismatischen Ausarbeitung von der Konvention des stichirarischen Melos abweicht. Bezogen auf Konstantinopel läßt sich diese Entwicklung zu einem kalophonen Gesangsstil daher weniger klar auf die Gestaltung bestimmter Festtage beziehen, wie das anhand lateinischer Quellen möglich ist. Dies spricht für eine generelle Ausdehnung von Liturgien am Hof und an der Hauptkirche Agia Sophia von Konstantinopel, in der die Gesangskunst herausragender Kantoren im Vordergrund stand – d.h. neben die traditionelle chorische Aufführungsform des Stichīron tritt eine solistische des Stichīron kalophōnikon.[33]

Gegenüber diesen neuen Entwicklungen halten monastische Quellen, z.B. vom Heiligen Berg Athos, am alten Kathedral- oder Chorritus der Agia Sophia fest, der aber nur zu Festtagen zelebriert wird, an denen sich die Klöster Besuchern und Pilgern öffnen.[34] Hierdurch wird eine festliche Gestaltung wieder für bestimmte Feste faßbar. Diese konservative Haltung gilt auch für viele Stadtkirchen in anderen Städten des Reiches. Es gibt daher über Jahrhunderte hinweg eine Gleichzeitigkeit verschiedener Traditionen.

Anders als in den lateinischen Handschriften ergibt sich durch die verschiedenen Traditionen und ihre Methoden, den Melos über das überlieferte Gerüst der Gesänge zu bilden in der ersten Phase der Palaiologen-Epoche keine sichtbare Veränderung. Zunächst erfolgt nur eine Redaktion der klassischen Gesangbücher, die das Gerüst durch kleine Varianten leicht verändern. Erst über die folgenden Jahrhunderte hinweg läßt sich ein Prozeß der Verschriftlichung ausmachen, bei dem der Melos immer mehr ausgeschrieben wird. Erst hierdurch wird für historische Studien der Stil der kalophonen Gesangskunst in seinen Veränderungen faßbar.

Durch diese Eigenart der Notation ergibt sich auch für die unveränderlichen Gesänge des Ordinarium, die im Vergleich zur römisch-fränkischen Liturgie in den griechischen Meßformularen klar überwiegen, eine flexiblere Gestaltung des Melos über das überlieferte Gerüst: Das Gerüst des Cherouvikon, der klassische Text des Offertorium in der göttlichen Liturgie, wird abgesehen von der vorösterlichen Fastenzeit das ganze Jahr über gesungen, kann je nach Īchos der Woche auf eine der acht Tonarten bezogen werden, und sein papadikischer Melos kann bei einer solistischen Gestaltung sich in seiner Länge den Erfordernissen eines Gottesdienstes anpassen.[35] Diese Praxis reflektieren die heutigen Gesangsbücher, in dessen Neumennotation mittlerweile alles in verschiedenen Versionen ausgeschrieben wird – durch mehrere Oktōīchos-Zyklen, in denen der Melos über das gleiche Gerüst in unterschiedlicher Länge transkribiert wurde: ein Zyklus für die Wochentage, ein Zyklus für die Sonn- und Festtage und ein Zyklus für einen Gottesdienst, bei dem ein Bischof oder ein Abt an der Zeremonie teilnimmt. In den Chorbüchern (Asmatika) des alten Kathedralritus wird dagegen das Cherouvikon nur in einer diatonischen E-Tonart (īchos plagios tou prōtou) überliefert – dennoch verweisen die verschiedenen Fassungen auf eine variable Gestaltung des Melos über das gleiche Gerüst, die offenbar durch den Vorsänger eines Chores eingerichtet und vorbereitet wurde.[36]

Aus dieser Überlieferung läßt sich eine sehr flexible Aufführungspraxis für die dritte Stufe der Gesangskunst rekonstruieren. Ein solistischer Sänger konnte vom 14. bis in das frühe 19. Jahrhundert den Melos flexibel gestalten, bei dem er zunächst den Melos der Tonart exponierte, die in der jeweiligen Woche aktuell war. Gelangte er bis zum Schluß-Allīlouïa und stellte fest, daß die zeremonielle Handlung noch länger dauern wird, konnte er noch einen Teretismos als frei improvisierten Abschnitt einschieben, der außerhalb der traditionellen Überlieferung erklingen konnte. Die heutige Praxis in Bulgarien – 200 Jahre, nachdem der Melos für alle verbindlich transkribiert wurde – kennt diese flexible Form nicht mehr. Die Sänger singen grundsätzlich den Melos, wie er für den Wochenzyklus transkribiert wird, und dauert an großen Festtagen die Zeremonie länger, beginnen sie das gleiche Cherouvikon von vorne. An normalen Wochentagen werden sie oft vom Priester unterbrochen, ohne bis zum Ende gelangt zu sein.

Der große Freiraum, der die dritte Stufe der Gesangskunst kennzeichnet, erklärt, warum die byzantinische Meß-Liturgie mit so wenigen Proprium-Gesängen auskommt, denn die Gerüstüberlieferung läßt eine sehr abwechslungsreiche Gestaltung bei der Aufführung zu. Diese Abwechslung kommt nicht zuletzt daher, daß Abschnitte, die auf einer Kadenzstufe enden – z.B. vorstellbar als vierte Stufe über der Finalis, in der Gestaltung eines papadikischen Melos aus dieser Stufe eine Tonart machen, indem ein solistischer Sänger in den Melos der anderen Tonart wechselt, die ihr Zentrum auf dieser Stufe hat. Hierbei kommt eine elementare Eigenschaft des griechischen Tonartensystems zur Geltung, daß jede Tonstufe zugleich einer Tonart zugeordnet ist und daher in den Melos dieser Tonart wechseln kann.

Diese Möglichkeit haben die karolingischen Theoretiker stark eingeschränkt, als sie im 9. Jahrhundert nur vier Stufen innerhalb des Tonsystems als Finales einer Tonart zuließen. Allerdings gewann eine orthopraktische Aufführungsform im cluniazensischen Klosterverband etwas verlorenes Terrain zurück, indem Sänger um 1100 jeden Ton des Cantus ausdehnten, um eine zweite Organum-Stimme lange Melismen darüber gestalten zu lassen. Aus der Perspektive eines griechischen Sängers könnte daher behauptet werden, daß das Organum einen Melos über einen bereits ausgeschriebenen Melos gestaltet. Aus der Perspektive eines lateinischen Sängers gibt es die Aufführungsart cum organo als eine orthodoxe Form der Gedächtniskunst, indem der Cantus durch das Aushalten der Töne, als Praxis des Tenor („Tönehalter“), Ton für Ton memoriert wird. Doch während diese Art, einen Gesang zusammen mit seinem Melos zu memorieren, die Gestalt des Melos einfriert und über lange Zeit in eindeutiger Form überliefert, eröffnet sich zur gleichen Zeit eine orthopraktische Form der Gedächtniskunst, indem der Organum-Sänger wieder seine gestalterische Freiheit zurückerobert, während er dem Tenor Ton für Ton folgt.

Diese Perspektive, die ein Vergleich der Gesangskunst in der Ost- und in der Westkirche eröffnet, erklärt den Schwerpunkt dieser Arbeit. Da alleine die lateinischen Formen der Orthopraxis genug Stoff für viele Doktorarbeiten anbieten, beschränke ich mich hier auf ein einziges architektonisches Problem: auf die Ausdehnung eines Tones im Cantus, die dazu führte, daß wieder jeder Ton – ohne Ausnahme – ein tonales Zentrum haben konnte.

Was sich in der Form Haltetonorganum gegenüber der Einstimmigkeit geändert hatte, waren neue Formen, bei denen die Oktave neben dem Einklang gleichberechtigt für Anfangs- (Ansingformel) und Schlußformeln (schließende Kadenz) verwendet werden konnte. Hierdurch mußten neue Formeln des Melos gefunden werden, die in der Einstimmigkeit nicht vorkamen: die Ornamente principium ante principium, paenultima und die Satztechnik copula, wenn vor Abschluß eines colon oder membrum (siehe Lektionsformeln im Glossar) ein discantus vorkommt. In dieser Form wurde die Struktur der Einstimmigkeit, die Formteile hierarchisch zwischen offenen und schließenden Kadenzen gliedert, auf der Ebene der Satztechniken neu erschaffen. Gegenüber der einstimmigen Form des Cantus verhält sich die neue Formebene durch das Zusammenklingen von Tenor und Organum wie eine Mikro- zur Makrostruktur der einstimmigen Überlieferung.

Durch diese neue Form des Organum ergab sich eine subversive Haltung gegenüber der karolingischen Konzeption des Oktōīchos. Im Teil des zweiten Kapitels, wo alle Tonarten in ihrer Formelhaftigkeit beschrieben werden, liegt der Schwerpunkt auf den aquitanischen Tonaren, da Theoretiker in dieser Tradition bereits für die einstimmige Überlieferung ein eigenes analytisches Instrumentarium entwickelt hatten, um vorübergehende Wechsel in den Melos einer anderen Tonart beschreiben zu können. Die neue Form des Organum, wie sie sich seit der Wende zum 12. Jahrhundert entwickelte, brachte jedenfalls auch diese in ihrem Verständnis der antiken Musiktheorie weit fortgeschrittenen Traktate an ihre Grenzen.[37]

Die Entscheidung darüber, ab wann im Prozeß einer Verschriftlichung aus improvisierten Formen komponierte werden, soll hier nicht wie üblich von der Warte der Schriftlichkeit aus betrachtet werden. Vielmehr geht es um eine experimentelle Erkundung der Improvisation, die gängige Vorstellungen widerlegt, was angeblich alles in Improvisation nicht möglich sei. Ich neige wenig dazu, beide Formen klar gegeneinander abzugrenzen, vielmehr möchte ich zeigen, warum diese Grenze nur fließend sein kann und daß sie für Sänger des 12. Jahrhunderts, die von einer schriftlosen Gedächtniskunst herkamen, nicht das Problem sein konnte, als das es vielen Musikern und Musikwissenschaftlern heute erscheint. Denn nur ein Kantor war durch seine Kompetenz als notator mit der Gleichzeitigkeit vertraut, musikalische Formen mit und ohne Schrift bilden zu können – sei es nun, um einen neuen Weg zu wagen oder einem bewährten Modell zu folgen.

Das hermeneutische Problem von Nattiez’ Dreiteilung begegnet daher lateinischen Kantoren erst als lectores durch eine Schriftlichkeit, als in einer zweiten Phase der Verschriftlichung (12. bis 13. Jahrhundert) die Handschriften der ersten Phase (10. bis 11. Jahrhundert) schwer oder sogar unlesbar geworden waren. Der Bruch hätte schon in der ersten Phase auftreten können, wenn regionale Kantoren die Notation der römischen Kantoren hätten entziffern müssen, deren Tradition als „Quelle des Stromes“ der Überlieferung betrachtet wurde. In der ersten Phase wurde aber nur eine Verschiedenheit beider Traditionen bemerkt, die sich durch Legenden über „fränkische“ und „römische“ Kantoren mitteilte.[38] Erst in der zweiten Phase verschriftlichen sich mit der römischen auch andere regionale Traditionen und in der Fortschreibung der Überlieferungslegenden taucht ein dritter Typus von Kantoren auf, der als „gallisch“ stilisiert wird. Dieser Typus ist nicht so lernbegierig wie der „fränkische“, er hat das gleiche Geltungsbewußtsein wie der „römische“, aber nicht dessen Legitimation einer „reinen Überlieferung“.[39] Der neue Kantorentypus „Gallier“ ist der neue Sündenbock für die „Römer“, indem er nun für eine korrumpierte Überlieferung verantwortlich gemacht werden kann.[40] Vom Problem einer eigenständigen altrömischen Tradition, das nur für die Verfechter einer einheitlichen Überlieferung besteht, wird damit nur abgelenkt. Im 12. Jahrhundert verbindet es sich mit einer immer lauter werdenden Kritik am Machteinfluß des cluniazensischen Klosterverbandes – mit dem Rückzug in eine von „Verfälschungen“ bereinigte einstimmige Überlieferung, die neugegründete Orden im Rahmen ihrer anticluniazensischen Liturgie-Reformen anstreben. Ihre Korrekturen zur Wiederherstellung der reinen Überlieferung waren in Wirklichkeit durchaus kreativ, und sie betrafen vor allem Gesangsbücher aus den Skriptorien aus Metz und Sankt Gallen.

Dieses „Überlieferungsproblem“ der „römischen Quelle“ kristallisiert sich anhand der harten Überlieferungsform der lateinischen Neumen seit dem späten 11. Jahrhundert, als für den Philologen eine altrömische Überlieferung in Erscheinung tritt, die die Gesänge des gregorianischen Repertoires durchweg in einer abweichenden Form zeigt. In der sanften Überlieferung der byzantinischen Neumen, die auf der dritten Stufe größeren Freiraum läßt, wäre dieses Problem dagegen gar nicht erst aufgetaucht. Vielmehr umgibt sie die regionale Vielfalt wie ein Reservat, wodurch die Vielfalt nicht als Abweichung registriert wird, sondern bei orthopraktischen Formen vielmehr als das Talent eines herausragenden Sängers, der tiefer in die Überlieferung eingedrungen war.

Daher ist das Lesen byzantinischer Musikhandschriften eine große Herausforderung – besonders, da sich die Tradition der Gesangskunst bis heute erhalten hat. Um wertvolle praktische Erfahrungen heutiger Sänger miteinzubeziehen, aber auch um von der heute üblichen Notation auszugehen, ist vor allem die Zeit wichtig, in der Sänger sowohl die heutige Notation wie die ältere des 18. Jahrhunderts noch kannten und transkribieren konnten. Von dieser Zeit, wo der Melos immer mehr transkribiert worden war, bis die Notation aufgrund der Unterscheidung zwischen dem Gerüst, das über Solmisation (Parallagī) memoriert wird, und dem noch zu bildenden Melos nur noch für wenige lesbar war, behauptete sich ein mündliche Überlieferung, bei der viele Sänger Manouīls Forderung nach einem Hören nicht mehr einlösen konnten, das beide Schichten der Gesänge unterscheiden könne. Hier bleibt daher die aktuelle Überlieferung die Grundlage, von der ausgehend eine Rekonstruktion des Melos einer vergangenen Epoche geschehen muß – wie ein Weg durch einen Fluß, bei dem über alle dazwischen liegenden Epochen wie über Steine gehüpft werden muß, die aus dem Wasser emporragen.

Eine Forschung, die sich auf eine übersehbare Zeit konzentriert, wie das auf der Grundlage von vergleichenden Transkriptionen der lateinischen Gesänge möglich wurde, ist daher bei der Erforschung der byzantinischen Quellen nicht ausreichend. Besonders in aufführungspraktischer Hinsicht für diejenigen, die einen Weg zu den alten verklungenen Gesängen suchen, tut sich zwischen Gegenwart und Vergangenheit ein weiter Graben auf: Ein interessierter Sänger wird sich nicht nur fragen müssen, womit er die Lücke füllen möchte, die zwischen dem notierten Gerüst einer alten Musikhandschrift und einem stilgerechten Melos klafft, sondern auch, wie diese Lücke von anderen Sängern zu verschiedenen Epochen gefüllt wurde und inwieweit diese Überlieferungsform sie zu neuen Formen inspiriert hat. Darauf erst gründet sich eine weitere Frage, ob Sänger ausgehend von dieser Inspiration ihre Formen auf der Grundlage der Schrift entwickeln oder es vorziehen, auf Schrift zu verzichten, so daß andere Sänger beauftragt werden müssen, ihren Höreindruck durch eine eindeutige Notenschrift zu dokumentieren. Viele erfahrene Sänger lehnten daher die neue und eindeutige Notation, wie sie Chrysanthos 1814 geschaffen hatte, ab und andere mußten ihre Gesänge transkribieren. Ihre Argumente ähnelten denen von Manouīl Chrysaphīs, der bereits 1458 den eindeutigen Umgang mit Notation als Unwissenheit gegenüber der Gesangskunst gebrandmarkt hatte.

Anmerkungen

26

Über die Funktionen der Theurgie geht es im Kapitel 1 (S.  4ff, S.  37).

27

Aus theologischer Sicht werden kanonisierte und gedichtete Texte unterschieden, die von kanonisierten Texten inspiriert sind, sie auslegen oder ihre Form übernehmen – aber auch spontan inspirierte Formen wie Glossolalie, die ekstatische Äußerung, die sich im Unterschied zur prophetischen Rede nicht in verständlichen Worten artikuliert. Das Konzept der Glossolalie hat möglicherweise Kantoren seit dem 4. Jahrhundert inspiriert, um melismatische Formen in der Musik zu erproben – wie z.B. in der Iubilatio.

28

Vergl. hierzu das Zitat im Kapitel 1 (S.  43).

29

Das Wort „Poesie“ leitet sich aus dem Griechischen poiein („schöpfen, schaffen“) her. Jean-Jacques Nattiez unterscheidet in seiner Musiksemiotik drei Ebenen, die sich aus Jean Molinos symbolischem Verständnis einer „musikalischen Tatsache“ (fr. fait musicale) ergeben – in Analogie zur artikulatorischen, auditiven und akustischen Phonetik: “poietic” stehe für alle Arten musikalischer Kreativität und ihre Verbindungen zu Medien wie Notenschrift, Computer usw., während die Ebene “esthesic” für alle Prozesse der Wahrnehmung (gr. aisthesis) und der Rezeption stehe, damit auch für die Interpretation dessen, was über Medien überliefert wird (z.B. durch Musiker), die Ebene “neutral” (fr. niveau/objet neutre) schließlich ergebe sich aus dem, was einem „Notentext“ oder „Werk“ immanent sei (die mediale Überlieferung, die zwischen dem « procès poiétique » und « esthésique » stehe). Diese letzte Ebene ist schwer faßbar, sie wird z.B. von Marcel Duchamp entdeckt, wenn er seine eigenen Skizzen nach einiger Zeit als etwas Fremdes wahrnimmt, das ebensogut von jemand anderem stammen könne. Durch diese Verschränkung verbinden sich beide Ebenen “poietic” und “esthesic” und es ist schwer zu entscheiden, welche Duchamps daran mehr interessiert: das „offene Kunstwerk“ als Wahrnehmung einer poiesis, die zwischen beiden Ebenen liegt, oder die Neuinterpretation als Teil eines kreativen Prozesses. Die Offenheit als kreative Form scheint jedenfalls mündlichen Überlieferungen selbstverständlicher zu sein, durch das niveau neutre werden sie leichter wahrnehmbar, aber ohne niveau neutre bleibt sie einfach Kreativität, ohne die es keine Tradition geben kann.

U. Eco: Opera aperta, Mailand 1962.

J.-J. Nattiez: Musicologie générale et sémiologie, Paris 1987.

J. Ullmann: Λόγος ἄγραφος – Die Entdeckung des Tones in der Musik, Berlin 2006; S. 205-213.

30

Vergl. hierzu Manouīl Chrysaphīs’ Unterscheidung zwischen freier Komposition und den Theseis des Melos im Stichīron kalophōnikon (Kapitel 3, S. 352f) mit der Pädagogik des Vatikanischen Organumtraktats, wie sie im vierten Kapitel vorgestellt wird (Kapitel 4, S. 411ff).

31

Vergl. hierzu meine Analyse eines der frühesten Haltetonorgana über einen jüngeren Cantus auf «Benedicamus domino» (Kapitel 4, S. 388ff).

32

Die Palaiologen-Dynastie und die konservative Haltung des Metropoliten Symeon aus Thessaloniki noch um 1400 werden im ersten Kapitel gegenübergestellt (S. 51ff).

33

Eine Analyse, wie ein Teil des traditionellen Gerüsts des Stichīron über ἐρωτήσεως durch einen kalophonen Melos solistisch gestaltet wird, findet sich im dritten Kapitel (S. 351).

34

Oliver Strunks Konstruktion des Kathedralritus der Agia Sophia von Konstantinopel stützte sich vor allem auf drei Quellen vom Berg Athos (Kapitel 1, Anm. 60).

35

Vergl. hierzu die Analyse der von Bereketīs (17. Jahrhundert) überlieferten Niederschrift eines Gerüstes des Cherouvikon für alle Tonarten und Chourmouzios’ Transkriptionen zu Beginn des 19. Jahrhunderts (Kapitel 3, S. 326).

36

Vergl. hierzu die Analyse des Cherouvikon in der Überlieferung der Asmatika vom 13. bis ins 15. Jahrhundert (Kapitel 3, S. 368).

37

Die Alia Musica-Traktate verwendeten hierfür Begriffe der Modus-Lehre, z.B. die Verwendung der zweiten Quintgattung auf mi im Melos in einem Gesang der F-Tonart (tritus) – vergl. hierzu den Abschnitt über die „Tonarten des Tritos“ (Kapitel 2, S.  233ff). Es gibt daher eine klare Unterscheidung zwischen Tonart und Modus.

38

Vergl. hierzu die legendären Versionen der Heiligen-Vita von Gregor von Johannes Diaconus, Notker von St. Gallen und Johannes Hymmonides aus den 70er und 80er Jahren des 9. Jahrhunderts, wie sie in den einschlägigen Handbüchern zitiert werden. Leo Treitlers Analyse im Zusammenhang mit der zeitgenössischen Ikonographie des durch eine Taube inspirierten Gregor, die ursprünglich die Bedeutung seiner Schriftauslegung hervorheben sollte und im Hartker-Antiphonar auf das fränkische Gesangsrepertoire angewandt wurde, bietet nach wie vor eine lesenswerte Analyse:

L. Treitler: Homer and Gregory, in: MQ 60 (1974), S. 334-344.

39

Gegenüber der Darstellung von Johannes Diaconus, von dem die Metapher der „Quelle“ überliefert wird, übernimmt der aquitanische Kantor Adémar de Chabannes die prorömische Haltung von Johannes, differenziert aber bei den lothringischen und gallischen Sängern, die bei Johannes noch unfähige Schüler der römischen Lehrer waren, zwischen nicht lernen können und nicht lernen wollen. Außerdem deklariert er die Notation des allemannisch-lothringischen Raumes als „römische Notation“, wodurch das Überlieferungsproblem nicht mehr wie im 9. Jahrhundert auf die direkte Vermittlung, sondern auf das Lesen der Notenschrift zurückgeführt wird (Kapitel 4, Anm. 8).

40

Obwohl gerade Adémar als Chroniker in die „römischen“ Fußstapfen seines Vorgängers Johannes Diaconus tritt, beweist seine Biographie, daß er selbst als Kantor dem „gallischen“ Typus zuzurechnen ist.

J. Grier: Adémar de Chabannes, Carolingian Musical Practices, and «Nota Romana», in: JAMS 56 (2003), S. 43-98.