Die Improvisation von Organa

Die praktische Arbeit, die im Rahmen dieser Studie unternommen wurde, war durch die Idee motiviert, daß kein Organum, sei es auch eine Komposition des Magnus liber organi, ohne Fertigkeiten in der Verzierungskunst und in der Improvisation verstanden werden kann. Die Arbeit, die in diesem Kapitel dokumentiert wird, ist nur ein erster bescheidener Schritt in diese Richtung.

Der Vatikanische Organumtraktat mit seiner Kombination aus Mutationslehre nach Guido (erster Teil), aus "Klangschritt-Lehre" (zweiter Teil) und ihrer Veranschaulichung durch Organa über drei ausgewählte Cantus (dritter Teil) war bei dieser Arbeit eine wichtige Grundlage. Die Analyse der Organa des dritten Teils hat gezeigt, daß sich in der Improvisationskunst zwei Formebenen (Makro- und Mikroform) unterscheiden lassen, von der die Makroebene mehr oder weniger vorgedacht und komponiert ist. Im Organum purum bildet die Makrostruktur den Rahmen, in dem die Mikrostruktur in der Improvisation gebildet wird. Alleine hieraus ergeben sich zwei Zeitqualitäten, nämlich die Vorbereitungszeit und die erlebte Zeit bei der Improvisation, die in sich die Vorbereitungszeit und die in ihr entwickelte Makrostruktur enthält. Die Makrostruktur wird im Prozeß der Mikrostruktur rekonstruiert.
 

Makrostruktur im Organum

Die Vorbereitung der Makrostruktur betrifft die Arbeit mit dem Text und der Struktur des einstimmigen Cantus - seine grammatische Gliederung und Interpunktion in distinctiones und membra. Hieraus ergeben sich strukturelle Einheiten, entlang denen das Organum den Text mit- oder auch neugestaltet.

Auf der Ebene der Makrostruktur kristallisieren sich bereits drei unterschiedliche Herangehensweisen an die Improvisation von Organa:


Diese Arbeit bestand während der Aufnahmen, die im Oktober 2000 entstanden, nur in Entwürfen und konnte nicht alle hier erarbeiteten Erkenntnisse einbeziehen. Die unterschiedlichen Herangehensweisen zeigen aber gerade in ihrer Beschränkung auf bestimmte Mittel bestimmte Aspekte der formalen Gestaltung zwischen Makro- und Mikrostruktur.
 

Die Makrostruktur eines Organums über Cornelius centurio

Im Vergleich zu den Gerüstklängen des Organum duplum über das Responsorium Cornelius aus dem Magnus liber organi de Antifonario (F, fol.73') wählte Jaspar nur mediae voces - disjunkte Klänge, die nach dem Mailänder Traktat eine dynamische Bewegungsqualität haben - und öffnet damit die Form. Die Gliederung in membra, die entlang der Wortgrenzenverläuft, entspricht dagegen der Vorlage, deren kleinräumige Gliederung sich nicht auf eine syntaktische Gliederung festgelegt, die in diesem Text mehrdeutig ist. Längere distinctiones entstehen im Organum von Notre-Dame durch den ausgiebigen Gebrauch der Anfangsverzierung (principium ante principium) und durch die Einfügung einer modalen clausula. Hieraus ergibt sich folgende Gliederung des Verstextes (zweite Periode):

«Cum orasset || cornelius | nondum | in christo ||
renatus | apparuit | ei | angelus || dicens ||»
Zu beachten ist, daß ei mit einem principium ante principium beginnt, während der F-Schluß bei apparuit durch eine diskordante Quinte geöffnet wird. Das letzte principium ante principium scheint eher aus tonalen als aus syntaktischen Gründen zu stehen - eine stilistische Eigenheit, die eine Zuordnung zu einer älteren Schicht des Magnus liber erlaubt. Anders als das Responsorium aus Worcester, das Jaspar als Cantus wählte, changiert der Cantus im Vers des Organum duplum aus Notre-Dame zwischen e- und d-authentisch, die Intonation paßt zu d-plagal. Dagegen changiert die Fassung aus dem Antiphonar von Worcester, die ich im vierten Kapitel analysiert habe, zwischen f-plagal und d-authentisch, denn der Anfang intoniert f-plagal. Dem entsprechend endet die Stelle orasset in Notre-Dame auf E, in Worcester aber auf F. Der Schluß auf F bei apparuit könnte bei einem Organum über dem Cantus von Worcester konkordant sein, genau wie bei christo. Erst danach wird D als finalis stabilisiert.

Jaspar weicht auch mit dem Ort der Klausel von dem Organum duplum aus F ab: Diese Verschiebung ergab sich, weil er die Stellen bei Cornelius und bei in christo als "besondere Mitte" im Organumstil gestalten wollte. Seine Klausel führt zur finalis D.

Um die Makroform des Verses zu rekonstruieren, benutze ich Aufnahme von einer Probe in der Zisterzienserabtei du Thoronet am 24. Oktober. Zu dem Entwurf der Makroform gehört eine modalrhythmisch komponierte Klausel. Die Aufnahme dokumentiert folgende markante Punkte, zwischen denen der Cantus mit der Makroform des Organums rekonstruiert werden kann:


Transkription vom 24.10.00 (Abbaye du Thoronet)

Erste distinctio: «Cum orasset cornelius»

Zweite distinctio:«nondum in christo renatus apparuit ei» Dritte distinctio: «angelus dicens:» Am Ende dieser Beschreibung soll noch ein Hörbeispiel zeigen, wie die hier rekonstruierte Makrostruktur umgesetzt wird und bei der Improvisation der Mikroform in den Hintergrund tritt. Es ist die Aufnahme zu der Transkription, der ich die Makrostruktur abgenommen habe.

Jaspar Libuda & Oliver Gerlach , Organum zum Vers des Responsorium Cornelius centurio

Die Makrostruktur eines Organums über Gloria

Ich übernahm die Gerüstklänge vom Organum duplum aus Notre-Dame, in dem der Text des Gloria so gegliedert wird:
«Gloria || patri || et filio ||
et spiritui || sancto ||»
Bei dieser Neutextierung des Verses wird die Musik neu gegliedert. Die auffällige Stelle mit dem b rotundum über cornelius wird bei patri auf die Wendung G-a reduziert - anders als im Antiphonar von Worcester. In Worcester wird auch die Wendung von renatus über filio gesungen, die zweite Wendung nach F, die sich im Vers noch auf die Intonation am Anfang bezieht, wird - genau wie in Florenz - ausgespart. Während in Worcester der doppelte Schluß nach F und dann nach D zugunsten von D geglättet wird (vergleiche apparuit ei) sieht der Schreiber von F über spiritui ein Melisma vor, das nicht ganz weiß, wohin es will - und zwar nach der Wendung nach F. Über sancto wird deutlich nach D kadenziert. Kein Rückgriff auf ein Schlußmelisma des Verses, sondern die funktionelle Fortführung der tonalen Mehrdeutigkeit. Eine Stelle, die mich noch unter dem Aspekt Tonalität in der Mikrostruktur beschäftigen wird. Denn es war nicht leicht, in einem Haltetonorganum an dieser Stelle die tonale Orientierung zu behalten.

Der Kontrast zwischen Jaspars und meiner Vorlage ist stark, denn ich habe mich über die Notre-Dame-Handschrift Florenz ganz einfach an die falsche Vorlage gehalten, um die Doxologie seinem Responsorium folgen zu lassen.

Der Rahmen, in dem ich mein Organum improvisiert habe, waren nicht nur die Gerüstklänge und die Verlaufstrukturen der Melismen, deren Grenztöne skizziert waren. Das sind im Vergleich zu der Arbeitsweise der anderen, die auf ihre Weise das Organum neu entdeckt haben, viele Vorgaben. Aber ich behielt mir auch vor, bisweilen von ihnen abzuweichen. Jeder suchte sich seine Freiheiten und ich bevorzugte viele Vorgaben, um aus ihnen wiederum viele Freiheiten zu gewinnen. Die Vorgaben bildeten ein weiter gespanntes Entscheidungsraster. Sie entziehen mir aber auch zu einem gewissen Grad Unmittelbarkeit bei der Aufführung, da ich auf dem Verlauf der Vorgaben fixiert bin. Diese Beobachtungen ergänzen Treitlers Konzept von mündlicher Komposition. Solche Vorgaben müssen im Gedächtnis rekonstruiert werden, aber das sind praktische Fragen, denen ich bei der Improvisation bisher wenig nachgegangen bin. Denn ich hatte bei der Aufführung diesen Zettel vor mir liegen:

Daraus ergibt sich eine Gliederung mit folgenden Optionen:

Erste distinctio: «Gloria patri»

Zweite distinctio: «et filio» Dritte distinctio: «et spiritui sancto» Dies alles sind kompositorische Überlegungen, die im Organum purum zur Makrostruktur gehören.
 
 

Zwischen Makro- und Mikrostruktur

Die Organa, die Johannes Schmelzer-Ziringer improvisiert hat, zeigen den Übergang von der Makro- zur Mikrostruktur. Sie sind keine Organa pura, sondern kombinieren satztechnische Entscheidungen des Mailänder Traktates, Gegenbewegung und die Möglichkeit, über bestimmte Cantustöne Melismen zu bilden, mit denen des früheren Organums: Halteton zum Cantus und Sekundoccursus.

Je mehr diese grammatische Struktur als Makrostruktur hinter die Mikrostruktur zurücktritt, desto mehr sind die distinctiones im Sinne der modi organizandi des Mailänder Traktats komponiert. Je mehr die Makrostruktur im Vordergrund steht, also je mehr das Organum zu einem Cantus punctum contra punctum (Note gegen Note) gesungen wird, desto mehr wird die Makrostruktur Gegenstand einer Improvisation, die sich von den strikten Regeln des Mailänder Traktats entfernt und neben dem Prinzip der Gegenbewegung zu Satztechniken greift, die vor allem in den praktischen Quellen des 11. Jahrhunderts zu finden sind: Parallelbewegung in Quinten oder Quarten, Haltetöne und Sekundoccursus am Ende einer distinctio.

Johannes Schmelzer-Ziringer & Oliver Gerlach, Organum über die Intonation des Responsoriums Petre amas me

Die Gestaltung einer Mikrostruktur ist in diesem Organum nur eine Option neben anderen, ähnlich wie der fünfte modus organizandi im Mailänder Traktat. Johannes setzte sie bei bestimmten Worten ein, bei deren Melismen und Syllaben er eine Mikrostruktur gestaltete, wodurch diese Worte gegenüber einer durchgehenden Gestaltung im Organum purum ein besonderes Gewicht gegenüber anderen bekommen. Der Organumsänger interpretiert den Text, was nach Shiloah eine zentrale Aufgabe eines Kantors ist.

Die Aufnahmen dokumentieren drei Formen, von denen nur die dritte der Grundstruktur entspricht, die Johannes dann für die weiteren Improvisationen übernommen hat.

Johannes Schmelzer-Ziringer & Oliver Gerlach
Organum über den Vers des Responsoriums Petre amas me


erste Version

zweite Version


Dritte Version

Paradoxerweise führt die Gewichtung bestimmter Worte durch Melismen im Organum zum Verschwinden dieser Worte auf der semantischen und zu ihrem Erscheinen auf der phonetischen Ebene, wobei die Klangfarben, besonders in der Akustik der Zisterzienserabtei du Thoronet ungewöhnlich verstärkt wird - die drei Beispiele wurden in der Abteikirche am 23.10.00 aufgenommen. Wer auf den Oberton über te achtet, kann ihn auf den Partialtönen der Oktave (die gedoppelten Partialtöne 2-4-8-16) im Tonschritt des Cantus hinabwandern hören - der sechzehnte Partialton gehört zum offenen e. Im Sonogramm ist das auch zu sehen:

Es sind drei sehr hohe Klänge zwischen 1200 und 2700 Hz, zwei abfallende Linien des Tenors und eine dritte Linie, die zu den anderen in Gegenbewegung läuft.

Die Zeit wird gedehnt und lenkt die Wahrnehmung auf die Ebene der Mikroform - auch die der Sprache, deren größere Zusammenhänge verschwinden, dafür erscheint aber ihre Mikroebene wie durch ein Lupe vergrößert.

Die Transkription des Melisma über amo te in der dritten Version zeigt, wie kurze Formeln von vier fünf Tönen benutzt werden, um durch den Tonraum zu gehen. Ein Verfahren, das auch in vielen Beispielen aus De regulis organi im Vatikanischen Organumtraktat illustriert wird. Die Wiederholung solcher Tongruppen fällt durch die unterschiedliche Art, wie sie verziert, artikuliert und im Tempo gestaltet werden, nicht auf. Solche Feinheiten ergaben sich aus der Form der Neumen des Antiphonars von Lucca, das der Arbeit mit dem Responsorium Petre amas me zugrundelag (eine Faksimile und eine Analyse des Responsoriums finden sich im zweiten Kapitel).

Das veranlaßte mich, die Neumen auch bei der Transkription miteinzubeziehen, die die Feinheiten viel besser wiedergeben, als die moderne Liniennotation es jemals vermag. Natürlich beruht die Verwendung der Neumenzeichen auf unserer Interpretation, einzelne Neumenformen auszuführen.

Auf der Ebene der Transkription in das Liniensystem wird das Spiel mit melodischen Formeln gezeigt, wobei ich versucht habe, die Gestaltung des Tempos durch Freiraum zwischen den Noten wiederzugeben. Die zweite Ebene der Neumen läßt die Gliederung in melodische Formeln nicht mehr erkennen. Sie gliedert anders und erreicht damit, daß das Sequenzieren und Wiederholen von Formeln, auf der ersten Ebene, beim Hören nicht immer bewußt wahrgenommen wird - besonders bei Stellen, wo zum nächsten Halteton gewechselt wird.

Bezogen auf die musikalische Struktur habe ich den Übergang von Note-gegen-Note- zum Haltetonsatz mit der Abschweifung (digressio) in der Rhetorik verglichen. Es betrifft die Memorierpraxis unmittelbar, denn der Redner memoriert die dispositio (Gliederung) seiner vorbereiteten Rede und die digressio folgt dieser dispositio nicht, sondern weicht oder schweift von ihr ab. Im Organum wäre die dispositio vorgegeben durch den Cantus und seine Gliederung in distinctiones. Auf dieser Ebene bleibt die Struktur des Cantus und seine agogische Gestaltung, wie sie in den Neumen des Antiphonars wiedergegeben ist, erhalten.

Mit dem fünften modus organizandi im Mailänder Traktat ist wohl ein Melisma über den letzten oder vorletzten Ton im Cantus gemeint, das der formalen Funktion eines color (Schmuck) auf der paenultima oder ultima entspricht. Die Ausprägungen dieser Form im Magnus liber organi wurde wird in diesem Traktat von einigen Notre-Dame-Theoretikern als copula bezeichnet.

Diese formale Funktion der copula gibt es in den Organa, die Johannes improvisiert hat, nicht mehr. Sie gleicht vielmehr der Form der Abschweifung. Die agogische Gestalt des Cantus wird hierbei zerstört, denn jeder einzelne Ton wird zum Halteton gedehnt. Darüber entstehen neue improvisierte Gestalten mit eigener Agogik und eigenen Ornamenten, die ebenfalls in Neumen transkribiert werden können. Sie sind adinventiones (Hinzuerfundenes), um es mit einem Wort zu sagen, das Hildoard, dem Vorsänger von Saint Maur des Fossés, in der Legende in den Mund gelegt.

Auf der Ebene der Sprache gibt es im Unterschied zu den Texttropen keine Abschweifung, sondern eine Verwandlung: Sprache wird Klang.
 
 

Mikrostruktur im Organum purum

Mit dieser Verwandlung gibt es einen Übergang zur Mikroform und zur Form des Organum purum überhaupt. Es verwandelt die Sprache aller solistischen Teile eines Chorals (Responsorium, Graduale, Alleluiavers) in Klang.

Ein Organum purum über das Responsorium Cornelius centurio, das Jaspar improvisiert hat, zeigt mehrere formale Folgen der Mikrostruktur im Organum purum.

Der Rahmen der Makroform, in dem dieses Organum improvisiert wird, wurde bereits oben analysiert. Ich möchte ein weiteres Beispiel für die Gestaltung des Verses Cum orasset geben, das in einigen Stellen von der Makroform abweicht. Die Aufnahme ist früher entstanden, am 19.10.00 ebenfalls in der Abtei du Thoronet, und einige Teile der Makroform waren noch nicht so, wie oben beschrieben konzipiert.

Jaspar Libuda & Oliver Gerlach, Organum über das Responsorium Cornelius centurio

Sprache wird Klang

Die klare Struktur des Textes, wie sie beim Singen des Cantus im Vordergrund stehen würde, verwandelt sich in den Klang von Vokalformanten.

Die Verstärkung der Ober- und Differenztöne durch den Raum ist so stark, daß dieses Organum ohne Übertreibung wenigstens als dreistimmig bezeichnet werden könnte. Zum einen ist dies eine Wirkung des Raums, zum anderen beginnt der Vers des Responsoriums mit einem stufenweisen Aufstieg von dunkleren zu helleren Vokalfarben: Cum orasset cornelius. Die dunklen Vokale dominieren am Anfang und so liegen die Obertöne in dem gut hörbaren Bereich unter 1000 Hz.

In den ersten 28 Sekunden erklingen die Silben Cum ora-. Der Quartsprung zwischen sechzehnter und siebzehnter Sekunde entsteht nicht aus einem Sprung des Grundtones, sondern aus der Artikulation eines nasalen u bei cum, das Jaspar wie ein dunkles offenes o (wie in "noch") ausspricht, das leicht in den Artikulationsbereich des benachbarten Vokales a geraten ist. Je nachdem, wo die Grenze gesetzt wird, kann das offene o als Mischung der beiden Vokale a und des geschlossenen o (wie in "Boot") gehört werden.

Die Transkription zeigt, daß die Obertöne über den beiden currentes nach der virga, wo die Stimme das erste Mal aufsteigt (Sekunde 5), sich nicht deutlich aufbauen, weil sie mit einer leichten Verzierung gesungen werden. Deshalb hört sich dieser Abstieg in der Obertonstimme wie ein Terzsprung an. Wahrscheinlich ist es in einem Raum wie dieser Abteikirche, deren Mittelschiff - genau wie Montmajour - aus einem durchgehenden Spitztonnengewölbe besteht, schwieriger einen Partialton abzudämpfen, als ihn klingen zu lassen.

Besonders stark klingt der Oberton des Vokals cornelius:


Die Klausel

Das, was Jaspar auffallend anders gestaltet gegenüber der späteren Aufnahme vom 24.10.00, ist die Stelle bei renatus apparuit [3:40], die er nicht als Klausel, sondern als organum in speciali singt, um ein Wort des Notre-Dame-Theoretikers Anonymus von Sankt Emmeran zu gebrauchen.

Hierzu im Vergleich die Klausel, wie sie eine Aufnahme vom 25.10.00 und ihre Transkription dokumentiert:

Klausel aus dem Organum über Cornelius

Was beide Versionen verbindet, ist die Hervorhebung des b quadratum über der Silbe renatus.

Es ist nicht unbedingt klar, ob an dieser Stelle im Cantus b rotundum oder b quadratum gesungen wird. Die Art, wie hier das Organum für den Tenor den Wechsel anzeigt, indem es den folgenden Klang vorwegnimmt und mit der Sekunde eine paenultima-Dissonanz zum Haltetonwechsel bildet, macht die Wahl von b quadratum auf unmißverständliche Art klar. Im Cantus reagiert diese Stelle zu dem vorgeschriebenen b rotundum bei cornelius, eine sehr auffällige Stelle, die in der Makroform schon als "besondere Mitte" markiert ist. Dann der unmittelbare Wechsel zu b quadratum am Ende bei nondum, dem ein Halbschluß auf F bei christo folgt. Worauf dann das b wieder geschärft wird.

Wie weit so ein tonaler Kontext reicht, zeigt ein Fehler der dem Tenor am Ende unterläuft, wie ja überhaupt Fehler in Improvisationen etwas Interessantes sind. Eigentlich gibt es in ihr keine Fehler, aber das gilt nicht für die Improvisation von Organa, deren erste Regel ist, dem Cantus zu folgen. Für die Gattung Responsorium wäre allerdings so ein Schluß nichts Unmögliches, denn die Periode des Verses darf offen sein, da ihr der Refrain mit den Worten des Engels folgt. Solche Halbschlüsse sind nicht selten.

Da ich dies aber nicht mit Jaspar abgesprochen hatte, interessieren mich natürlich die Ursachen, die mich hier eine Tonalität zu E haben fühlen lassen. Der D-Klang wird zwar ab [5:00] ausgebaut. Doch folgen, übrigens abweichend vom Klanggerüst der anderen Organa und überhaupt zum ersten Mal in diesem Vers, drei konkordante Oktaven auf dem Schritt D-E-F, wobei von f aus der für das pythagoräische Tonsystems heikle direkte Weg zu b quadratum gewählt wird. Dieser Klang bleibt auch in den Melismen stärker als a, so daß ich aa als paenultima zu bb quadratum höre und wieder zu E wechsele. Vielleicht erklärt dies auch die Regel, daß Cantus und Organum nicht weiter als eine Duodezime auseinandergehen sollen. Dies ist die einzige Version, wo wir bis zur Doppeloktave gekommen sind, die diskordant wirkt.

Die Komposition der Klausel in der anderen Version rückt ebenfalls das b quadratum in den Vordergrund und bedient die Muster des dritten und vierten Modus. Jaspar hielt an der besonderen klanglichen Wirkung der hohen Obertöne, die bei ei verstärkt werden und verzichtete auf der sonst am Ende einer clausula üblichen cauda oder copula:

Oliver Gerlach & Johannes Schmelzer-Ziringer, Klausel aus dem Organum über dem Gloria zu Petre amas me

Diese Klausel schließt das membrum über Gloria und ist, die Transkription ist hier leider etwas fehlerhaft, im Rhythmus des ersten Modus gestaltet, der die Klausel gegenüber der freirhythmischen cauda abhebt.
 
 

Die Inszenierung der "besonderen Mitte"

Die "besondere Mitte" ist der mittlere Wegweiser eines zu erinnernden Abschnitts, der zwischen Anfang und Ende dieses Abschnitts steht und den Rahmen der Rekonstruktion bildet.

Sie ist ein Ausrufezeichen in der Makroform, wie z.B. das b rotundum über filio im Gloria zum Responsorium Cornelius centurio. In der Raumvorstellung eines Gedächtnisses, wo einzelne loci zu disponieren sind, könnte der Klangschritt zur Silbe o der Ein- und Ausgang eines Raumes bilden, der mit einer durchleuchteten Kuppel überdacht ist - ein Raum, in dem ich gerne bin. Es ist der Platz, wo etwas Besonderes ist.

Im Rahmen einer Improvisation verbindet sich mit solchen Plätzen das Problem einer Gestaltung als so-und-auch-anders. Die Idee mit der Verlängerung einer kleinen Sekunde, bei der Cantus und Organum ihre Stimmen mit a und b rotundum vertauschen, verfestigte sich zum so-doch-immer-etwas-anders.

Ich möchte daher diese Stelle anhand von drei Versionen vergleichen:

Oliver Gerlach, Jaspar Libuda & Johannes Schmelzer-Ziringer
Ausschnitt aus dem Organum über Gloria zum Responsorium Cornelius centurio



erste Version


zweite Version


dritte Version

Dreimal geht noch, aber irgendwann mache ich etwas anderes!
 
 

Spiel mit der Tonalität

Bereits am Ende des zweiten Kapitels habe ich das Problem der Tonalität als Spiel mit mit Gravitationskräften charakterisiert, die aus jedem Halteton eines Tenors erwachsen. Diese Möglichkeit hängt mit einer besonderen Eigenschaft des pythagoräischen Tonsystems zusammen, die ich im dritten Kapitel erläutert habe: Jede Stufe kann zum tonalen Zentrum werden und über sich einen konkordanten Klang bilden, der im zweistimmigen Satz Oktav und Einklang ist. Die Möglichkeiten der Abstufung liegen in der Qualität des Intervalls und der melismatischen Gestaltung eines Klangschritts. Das Organum bildet, z.B. durch Ornamente auf bestimmten Stufen oder das "Halten" einer bestimmten Stufe, ein zweites Zentrum und kann mit ihm diese Gravitationskräfte lenken: Über die Anwendung dieser Formen entscheidet der tonale Kontext des Cantus und er wird in der Makroform konzipiert. Das Spiel mit den Gravitationskräften ist auch wichtiger Bestandteil der Kommunikation zwischen Organum und Tenor, wie das frühe Beispiel eines Haltetonorganums aus Saint-Martial zeigt.
 

Exposition einer Tonart am Anfang

Die elementarste Form ist der fast immer konkordante, manchmal diskordante Anfang eines Organums, der mit einem principium ante principium beginnt. Beginnt der Tenor mit der finalis, geht es zunächst um die Darstellung der Tonart und ihrer wichtigen Stufen (Finalis, Rezitationstöne, Unterquarte, bewegliche Stufe).

Anfang Gloria zu Cornelius

Der erste Ton wird durch "Halten" (principium ante principium) der Oktave über der finalis und des Rezitationstones und durch den Oktavgang zur finalis exponiert.
 

Aufbau einer Gegenkraft

Das Organum als "Gegenkraft" behauptet eine eigene Richtung gegenüber der Gravitationskraft des Haltetons. Die Konzeption einer Makroform setzt eine Analyse der Tonalität des Cantus voraus, um an bestimmten zu entscheiden, wo der tonale Schwerpunkt gesetzt wird. Die ungewöhnliche Wendung des Tenors bei spiritui in der Handschrift Florenz ist bereits oben analysiert worden. Sie ist bewußt auf tonale Mehrdeutigkeit hin gestaltet und kann entsprechend unterschiedlich behandelt werden.

Auszug aus Gloria zu Cornelius





Eine vorsichtige Version von dieser Stelle behandelt die Tenortöne über spiritui als phrygischen Schluß auf E, der diskordant behandelt wird. Die einfachste Form ist das "Halten" von b quadratum über den Klangschritt E-F-E, der diskordante Klang wird dann zum folgenden Halteton- und Silbenwechsel als paenultima zur konkordanten Oktave über C genommen. Von dieser Gestaltung bin ich später abgewichen (siehe Makroform).
 

Enharmonische Darstellung einer beweglichen Stufe

Die Bedeutung der Praxis der Enharmonik in westkirchlichen Traditionen ist umstritten. Das war schon im 13. Jahrhundert so, wie die Kritik des Hieronymus von Mähren an der Praxis der Gallier beweist. Sie ist im dritten Kapitel [link] ausführlich besprochen worden. Meine These hierzu ist, daß Hieronymus die Kantoren in der Tradition von Notre-Dame wegen der Vermischung der Tongeschlechter kritisiert - vom puristischen Standpunkt einer noch jungen dominikanischen Tradition aus, die seit der Gründung der Abtei Prémontré (1120) besteht. Also gab es diese Praxis.

In einer Version habe ich das Ende des membrum über Gloria durch einen enharmonischen Wechsel von b rotundum nach b quadratum gestaltet, das einen diskordanten Schluß über E bildet. Dieser Wechsel wird durch das "Halten" des dissonanten b rotundum über den Halteton G vorbereitet, das c über den folgenden Hlteton ist Mittler, um die enharmonische Verschiebung der diatonischen Schritte zwischen a und c vorzubereiten.

Gloria (enharmonischer Wechsel zwischen b zu h)




Fehler

Nicht zuletzt belehrten uns Fehler in unserer Arbeit über unsere tonale Orientierung oder Desorientierung und leiten zu Neuorientierungen an, die dann spontan gefunden werden müssen. In diesem Fall gab mir Johannes ein Zeichen, daß wir auf eine falschen Stufe geraten waren. Es wird kaum verwundern, daß das über der mehrdeutigen Stelle bei spiritui passierte:

Halten von c bis zur Oktave und Verlieren des d-Klanges



Die Stelle war hierdurch zu eindeutig geworden. Das Konzept mit dem "Halten" von c hatte sich außerdem nicht bewährt, denn diese Stufe war so stark geworden, daß ich nicht zur finalis D zurückfinden konnte. Die Schlußoktave sieht nur auf dem Papier richtig. Sie klang alles andere als konkordant.